Monatsarchiv: April 2012

Geliebte Albträume

Wie langweilig wäre mein Schlaf
ohne die
geliebten Albträume ! –

Die Toten meines Lebens schicken mir
verstörende Briefe,
bevor sie
plötzlich wieder da sind
& mit fremden Gesichtern
meine Ruhe stören

Blutige Unfälle passieren
in meiner Nähe,
bevor
die Kugel des Psychopathen
in meine Schläfe dringt

Flugzeuge stürzen ab
Schiffe versinken

Flammen züngeln nach mir

In düsteren, verwinkelten Kellergängen
werde ich verfolgt
von meiner Vergangenheit
in Gestalt von
riesigen, untoten Spinnen

Zähne fallen mir aus
& meine Umgebung ist mir fremd

Ärzte schütteln den Kopf
über meiner Leiche

Auf schmutzigem, grauem Kopfsteinpflaster
liegt sterbend
die Geliebte
unter meinem Messer

Wüsten bestehen aus Treibsand
Gärten aus Morast

Der Schweiß
sickert in meine Matratze, während
das Fluchtauto
nicht anspringt

…. nicht anspringt, sobald
die geträumte Wirklichkeit
mir auf den Fersen ist –


Die mittelprächtige Oper

Das Leben
: eine mittelprächtige Oper

Die Ouvertüre
verspricht so Manches
Musik ohne Worte

Doch dann
kommt das Gesinge

Worte
die ohne die Musik
überhaupt nicht zu ertragen wären.

Eine alberne Handlung
Lächerliche Verwicklungen
Unechte Gefühle

Komponist & Librettist
halten ihre Grenzen für Kunst.

Und das
anspruchslose Gehör
mag ihnen zustimmen

der anspruchslose Geist
das anspruchslose Herz

Während die Enttäuschten
den Saal
vor dem Ende verlassen

& die Tür
hinter sich zuknallen.


Der Gipskopf

Der Gipskopf –
Er steht
heute
auf meinem Schreibtisch

Er zeigt mich
im Alter von 5 Jahren

Beinahe
sieht er mir ähnlich

Ich erinnere mich
wie er geschaffen wurde

Ich mußte stillhalten
& der Liebhaber meiner Mutter
arbeitete an dem weichen Material
während mein Vater
bei der Arbeit war

Und dann gab es diese Pausen
in denen meine Mutter mit dem
Hobbybildhauer
verschwand

Er wohnte im Nachbarhaus

Ich glaube
mich zu erinnern
durch ein Schlüsselloch
geschaut zu haben

Aber heute
weiß ich nicht mehr
ob ich es wirklich tat

Der Kopf aus Gips
Er ist Realität –
Eine geschaffene
Erinnerung

Habe ich durch das Schlüsselloch geschaut?
Habe ich gesehen, was ich
heute
glaube, gesehen zu haben?

Hat es mich beeinflußt?

Oder bilde ich es mir nur ein?

Phantasie
oder
Verdrängung?

All diese Figuren & Gipsköpfe
in Freuds Arbeitszimmer …..
Sein Schreibtisch …..

Ich weiß nichts
So wie mein Vater nichts wußte

Doch er fand es heraus
eines Tages

Und ich?

Ich bin nur
das gealterte Abbild eines
Gipskopfes
aus meiner Kindheit.


Das Traumbuch

Und dann ging ich
zum Bücherregal & suchte
nach diesem
einen Buch.

Unbedingt
wollte ich es lesen.
Jetzt.

Ich war überzeugt
es zu besitzen.

Ich schritt die Reihen ab,
hin & her,
Meter für Meter –
erst langsam, dann
schnell, dann
wieder langsam.

Die Verzweiflung wuchs.
Der Wunsch, es zu lesen
wuchs
mit der Verzweiflung.

Wo war dieses Buch?
Ich wusste, es existiert.

Ich schwitzte.
Kam außer Atem.

Hielt schließlich inne &
setzte mich auf den Boden vor dem Regal.

Und dann
irgendwann
wurde es mir klar – :

Ich hatte dieses Buch
nur
in einem Traum gekauft.


Das 4564. Mal

Das Bild, das ich
4563 Mal
für jeweils 1 Stunde
betrachtet hatte,
offenbarte mir beim
4564. Mal
1 Kleinigkeit, die mir
nie zuvor
aufgefallen war.

Auch
Du
bist
eine Art von
Bild.


Der Traum des Wahnsinnigen

Ein Wahnsinniger träumte
mich in die Welt

Schreiend wälzte er sich auf dem Boden
& konnte nicht erwachen

Wo war er hergekommen?
Niemand wußte es.

Wo würde ich enden?
Ich wollte es nicht wissen.

Rückwärts entfernte ich mich von ihm
behielt ihn im Blick – dann

drehte ich mich um
& rannte

Ich rannte in die Welt
in die wir nicht gehörten

Ich
der Traum des Wahnsinnigen

Und ich höre seine Schreie
überall & jederzeit


Der Schulhof

Der Schulhof ist
die Welt & die menschliche Existenz
unter der Lupe
des Realisten.

Der Neid schlägt

Die Phantasie fürchtet sich

Der Durchschnitt lacht

Der Geist bleibt stumm

Mehrheit & Minderheit
belauern sich

Blutige Kniee
& Lärm

Alles
nur ein Spiel

beobachtet von
inkompetenten
Autoritäten.


Nachts im Park

Nachts im Park
reisse ich meinen Regenmantel auf –

Ein Gedicht
hängt mir aus dem Hosenschlitz –

Und es ist mir egal
ob es jemand sieht.


Schatten

Ich träumte, ich sei
der Schatten auf dem glitzernden
Kopfsteinpflaster
in einer verregneten Sommernacht.
Ich war der Schatten einer jungen Frau
in einem kurzen Kleid.
Das Licht der Laternen hatte mich geboren,
und ich glitt über den Boden,
so schnell sie es wollte.
Ich hörte den Rhythmus der Schritte,
die mich berührten.
Der Himmel war schwarz,
der Mond war neu,
und die Frau war hell.
Und ich blickte hinauf
über nackte Schenkel
auf das
feuchte
Höschen, das
sich im Schatten bewegte.
Die Frau war allein,
und sie träumte
in ihrer Einsamkeit
von dem
Schatten,
der
ich
war.

 

(Inwendig vorgetragen:)


Unter Beobachtung

»Sie sind nur zur Beobachtung hier«,
sagte der Mann ohne Gesicht.
Der Raum war leer &
so düster, dass ich
nicht einmal sah, wo das Licht herkam;
auch seine Wände konnte ich nicht erkennen.
Der Raum hätte endlos sein können.
Unbegrenzt.
In meiner Vorstellung war er es.
Aber ich hatte auch eine Vorstellung der
Realität
&
ihrer Grenzen.
»Es wird nicht lange dauern»,
sagte der Mann. »Wir
wollen uns nur
Klarheit verschaffen.«
»Klarheit worüber?« fragte ich.
Ȇber Ihren Zustand. Und
Ihre Eignung.«
»Ich eigne mich für gar nichts«, sagte ich.
»Auch das
ist eine Eignung«, sagte er.
»Aber kein Zustand«, sagte ich.
Vielleicht hätte er gelächelt, wenn er
ein Gesicht gehabt hätte.
Ich stellte es mir zumindest vor.
Ich wollte nicht beobachtet werden;
nur unbeobachtet hatte ich eine Chance,
mich nicht unwohl zu fühlen.
»Ich möchte lieber gehen«, sagte ich.
»Keine Chance«, sagte er. »Niemand geht,
bevor die Beobachtung zuende ist.«
Er
ging.
Dorthin, wo
eine Wand sein mochte.
Oder auch nicht.
Ich
blieb.
Und
fühle mich
be
ob
acht
et
cetera


Das letzte Winken

Es sah aus als würde sie winken.
Winken aus dem Maul der Katze.
Die Katze kaute.
Es sah aus als wäre
die Spinne ein Kaugummi.
Die Spinne war groß.
Die Katze spuckte sie aus.
Die Spinne bewegte sich sehr langsam.
Sie schien sich nicht gut zu fühlen.
Auf ihren verbliebenen 6 Beinen.
Beobachtet von der Katze.
Die Katze richtete ihre Ohren auf die Spinne.
Als würde die Spinne Geräusche machen.
Die Katze tätschelte die Spinne mit der Pfote.
Die Spinne konnte diesem Körperkontakt
nichts abgewinnen.
Mühsam schleppte sie sich vorwärts.
Nur um wieder im Maul der Katze zu landen.
Der Gesichtsausdruck der Katze war komisch.
Ein Auge leicht verkniffen beim zähen Kauen.
Popeye.
Sie schluckte die Spinne.
Irgendwann.
Von der Spinne blieb 1 Bein zurück.
Auf dem Fußboden.
Die Katze beachtete es nicht.

Ich wäre nicht gerne
die Spinne gewesen.

Aber
die Katze auch nicht.

Aber was weiß ich schon.
Vielleicht wären beide
auch nicht gerne
ich gewesen.


Die Post auf der Fußmatte

Ich besitze keinen Briefkasten;
nur einen Briefschlitz
in der Haustür.
Alles
landet auf der Fußmatte.
Rechnungen, Todesnachrichten,
Liebesbriefe, Bücher.

Ich kann nur hoffen, dass
der Dreck an meinen Schuhsohlen
passt
zu der Post.


Stirnfalten

Was Andere
Stirnfalten nennen
nenne ich
bei manchen Menschen
Lesezeichen.


Kurz

Am liebsten
sind mir
oftmals
die
kürzesten
Gedichte


Hollywood?

1977, nachmittags.
Ich saß in einem fast leeren Kino
& sah zum ersten Mal
„Einer flog über das Kuckucksnest“.
Und unter all den Gedanken, die mir
dabei durch den Kopf gingen,
war auch der Gedanke:
Wie sauber dort alles ist … wie
ordentlich ….

Die Klapse in der ich ca. ½ Jahr zuvor
gesessen hatte,
hatte nicht so ausgesehen.
Ich sah
einen Hollywood-Film; einen
sehr guten, aber eben
Hollywood ….
Ich & die armen Schweine damals
hatten das
wahre Leben gesehen.
Keine Ahnung,
wer das
gedreht hatte.


Sonnenfinsternis

Die alte Frau lag auf dem Sofa,
die wassergeschwollenen Füße
auf der Armlehne ….
Der Fernseher lief. Werbung. Laut,
denn die Frau hörte schlecht.
Die Sonne schob einen Lichtbalken
durchs Südfenster, Staub flitterte darin.
Es war der Frau zu sommerheiß; sie
zitterte, als sie mühsam das Wasserglas
mit dem Strohhalm vom Tisch nahm, um
einen Schluck zu trinken.
Sie zitterte, als sie das Glas zurückstellte,
doch sie verschüttete nichts.
Manchmal blendete sie ein Lichtreflex, der
ihr, vom Metall des Rollators ausgehend,
direkt ins Auge stach.
Eine junge Frau in Unterwäsche saß auf dem Rand
einer Badewanne & rasierte sich die Beine.
Die alte Frau beobachtete sie dabei. Sie
betrachtete die glatte Haut durch die
dünne Staubschicht, die auf der Bildröhre lag.
Die Helligkeit im Zimmer ließ das Bild verblassen.
Eine Fliege verließ die Wohung durch die
geöffnete Balkontür, und als die Werbung
zu Ende war, begann die
Direktübertragung.
Die gefilmte Sonne …. Menschen, die sich
dunkle Filter vor die Augen hielten ….
Langsam näherte sich der Mond ….
Die Frau war sich sicher,
Finsternisse schon erlebt zu haben, aber
sie konnte sich nicht erinnern,
wann ….
Die Frau war sich sicher,
dass dies die letzte Finsternis ihres Lebens
sein würde.
Die letzte Finsternis, die nichts mit ihrem
Dasein zu tun hatte.
Durch das Fenster konnte sie die Sonne nicht sehen;
die Sonne stand zu hoch.
Sie schaute auf das Abbild im Fernsehen ….
Angespannt & maskenhaft war das
Gesicht der Frau; sie atmete
durch den geöffneten Mund.
Der Mond schien die Sonne zu berühren ….
Die Frau griff nach der Fernbedienung, die neben ihr
auf dem Sofa lag, und schaltete
den Ton aus – zu viel wurde
geredet – zu viel
kommentiert.
Sie verspürte nicht den Drang,
aufzustehen.
Langsam wie der Mond hätte sie sich
dem Balkon & der Sonne nähern können ….
– – Doch wozu?
Auf dem Bildschirm würde die Finsternis
total sein – hier, wo die Frau wohnte,
nur partiell.
Und während sich hinter der dünnen Staubsicht
der dunkle Kreis vor den hellen schob,
erloschen in dem Zimmer die Reflexe des Metalls,
und der fliegende Staub wurde unsichtbar ….
Ein scheinbar düsterer Tag lag jenseits des Südfensters,
und das Abbild im stummgeschalteten Fernsehen
wurde kräftiger ………….
Das Abbild
ihrer
letzten
Finsternis.


Einfach nur

Einfach nur
den Zigarrenrauch betrachten,
wie er über der Kerzenflamme
nach oben steigt.
Die Heizung rauscht
durch die Nacht.
Kein Wort.
Kein Gedanke.
Keine Musik.
Doch auch nicht
Nichts.
Einfach nur
Betrachtung.


Ein Moment ohne Zufall

Ich öffnete die Tür.

Die Frau
lag auf dem Bett.

Bäuchlings,
blätternd in einer Zeitschrift.
Die Füße in Richtung
der Tür;
sie trug nur
ein T-Shirt,
wie zufällig ruhte sein Saum
oberhalb
ihres nackten Arsches.

Warmes Lampenlicht
auf ihrer Haut.

Sie wußte, dass
ich in der letzten Zeit
manchmal
gelangweit gewesen war.

Ich wußte, dass
sie sich
nach etwas
sehnte.

Meine Gedanken waren
manchmal
woanders
gewesen.

Ich wußte, dass in diesem Moment
nichts
ein Zufall war.

Denn sie hatte ihm
nichts
überlassen.

Ich legte mich neben sie,
überflog den Artikel,
den sie gerade las –
beziehungsweise
den zu lesen
sie vorgab;
und ich legte meine
rechte Hand
auf ihre linke Arschbacke,
und sie hörte auf,
etwas vorzugeben,
und ich hörte auf,
mich
zu langweilen.

Für einige weitere
Momente

ohne
Zufall.


Die feuchte Spüle

Der Wasserhahn weinte.
Die Schlaflosigkeit fühlte sich
im Recht.
Sie hielt den Takt
der Tropfen.
Die Spüle war
feucht.
Und die Gedanken
im wachen Dunkel
waren
geil.


Der Zwang

Der einzige Zwang,
den ich liebe,
ist der Zwang,
essen
zu
müssen.

Aber
das war nicht immer so.

Es war anders,
als ich zu spüren bekam,
was wirklicher Hunger ist.

Doch die Liebe
zu diesem Zwang wäre
heute
vielleicht
eine schwächere
ohne diese
Erfahrung.

Ja –
ich kann mir
ALLES
schöndenken.

Und
auch das ist
vielleicht
ein Zwang.


Floskeln

Als wären es
Flossen …..
Mit Floskeln
schwimmen
Menschen
durch das Meer
der
Langeweile
& der
Unoriginalität

Doch
die Floskeln
halten sie nicht
lange
über Wasser


Der kleine Unterschied

Wenn man sich an einen Gedanken
erinnert,
ist der Gedanke
derselbe
& gegenwärtig.

Wenn man sich an ein Gefühl
erinnert,
ist das Gefühl
ein anderes
& vergangen.


Der Fleck auf dem Boden

Der Fleck auf dem Boden
ist die Tatsache, die
geblieben ist.
Das Überbleibsel eines
vergangenen Moments, an den
ich mich nicht erinnern kann.
Er ist winzig,
dieser Fleck,
und ich weiß nicht einmal,
woraus er besteht.
Ich weiß nur:
Ich
muss
sein Verursacher
sein.
Denn niemand sonst
ist hier;
niemand sonst
war hier.

Ich zögere,
ihn wegzuwischen.

Denn schließlich
könnte
die Erinnerung
zurückkommen

& wertvoll sein


Das Niesen & der Tod

Ich kenne den Mann nicht, der soeben
niest.
Aber ich weiß, wie es sich anfühlt,
zu niesen.
Ich kenne die Frau nicht, die sich krümmt
vor Schmerz.
Aber auch ich habe schon aus dem
Arsch geblutet & mich gekrümmt
vor Schmerz.
Ich kenne denn Mann nicht, dessen
Schwester soeben
gestorben ist.
Aber ich kenne den Tod.
Ich habe keine Schwester, und
ich weiß nicht, was der Mann
für seine Schwester empfindet
& empfunden hat.

Vielleicht fühle ich das Niesen
ein wenig anders als
der Mann, der
soeben niest.

Vielleicht empfinde ich
den Schmerz ein wenig anders als
die Frau, die
sich krümmt.

Vielleicht sehe ich
den Tod ganz anders als
der Mann, dessen
Schwester soeben gestorben ist.

Aber nirgendwo sonst
sind die
Unterschiede
zwischen uns
so gering

& nichtig.


Mainstream

Nirgendwo sonst
treiben so viele
tote Fische
an der Oberfläche
wie
im Mainstream.

Bücher
Filme
Musik
Gemälde
Ansichten

Klar ist das Gewässer
& einfach.

Bis auf den Grund
kann man blicken –
aber was sich dort zeigt,
ist
Langeweile
ist
Eintönigkeit
ist
der kleinste gemeinsame Nenner
im Morast.

Wer dort angelt,
(& es sind so viele)
wird nichts schmecken,
nichts riechen
als
toten Fisch.

Toten Fisch, der
niemals
lebendig war.

Fernab
liegen die kleinen, trüben
Gewässer
des Besonderen.

Still & dunkel
ist ihre Oberfläche.
Man kann ihren Geruch
nicht einordnen.

Und man weiß nicht,
was einen erwartet
& was man
zu schlucken bekommen wird,
falls man
es wagt,
in sie
hinein
zu
springen


Das Feuer

Die Worte & Bilder, die sich
mir ins Gedächtnis gebrannt haben –
sie werden
wieder brennen,
im Tod,
wenn Asche
aus meiner Leiche wird.
Die die Worte sprachen,
werden sich vielleicht
nicht mehr erinnern;
die Bilder …..
längst verflogen
werden sie
sein;
wie der Rauch verfliegen wird, in den ich
aufgehen werde, ohne es zu wissen.
Manchmal spüre & sehe ich es bereits –
das Feuer.
Wenn Worte & Bilder schmerzen.
Gerade jetzt.
Es wärmt in der Kälte
& leuchtet in der Dunkelheit
der Gegenwart.


Der seltsame Mann

»Ich verstehe die Frage nicht«, sagte er.
Er schaute mir in die Augen.
»Ich habe keine Wahl. Niemand
hat eine Wahl.«
Ich sagte:
»Du meinst, den freien Willen
gibt es nicht?«
»Natürlich nicht.«
»Ich verstehe trotzdem nicht, warum
Du Dich selbst zerstörst.«
»Wirklich nicht? – Es ist nur
die konsequente Fortsetzung dessen,
was andere begonnen haben.«
»Klingt einfach. Schuld sind immer
die anderen.«
Sein Blick brannte sich in meinen
Schädel. Böse.
»Wenn Du mir so kommst, sollten wir
das Gespräch besser
abbrechen. Ich habe es mir noch nie
leicht gemacht.«
»Ich wollte Dir nicht zu
nahe treten«, sagte ich.
»Solltest Du auch nicht. In meiner Nähe
verbrennt man sich
schnell.«
»Ok«, sagte ich, »ich
geh dann mal.«
»Ok«, sagte er, »pass auf Dich auf.
Es muss sich ja nicht
jeder
selbst
zerstören.«
Er lächelte.
Dieser seltsame Mann.
Der seltsame Mann
in meinem
Spiegel.


Ascheregen oder das Niesen der schwarzen Katze

Nach all dem
was war
All dem
was ist
All dem
was sein wird
hoffe ich
dass ich
in meiner billigen Urne
so sehr
lachen werde
dass
ein chaotischer
Ascheregen auf die
Erde
in der die Urne
vergraben wurde
niedergehen wird

Und vielleicht
niest
dann
wenigstens
an dieser Stelle
eine
Schwarze Katze
die dort
etwas ganz anderes
suchte


Das Lachen des Lebens

Die wohl größte Strafe für ein kleines Kind
das weint vor Wut & Schmerz
ist das Lachen
der Eltern
die es nicht ernst nehmen

Und die wohl größte Strafe für den Erwachsenen
der sich das Weinen vor Wut & Schmerz
abgewöhnt hat
ist das Lachen
des Lebens.


»Guten Morgen«

Früher Morgen.
Der Junge saß am Schreibtisch seines
toten Vaters & las.
Er hatte die ganze Nacht dort
gesessen & gelesen.
Ferien.
Es war warm; die Sonne schien,
und die große gläserne Schiebetür zum Garten
war geöffnet.
Nur die Vögel waren zu hören.
Alles sonst schien zu schlafen.
Hin & wieder blickte der Junge von seinem
Buch auf, um die Augen zu entspannen.
Betrachtete eine Amsel, die auf der hohen Gartenmauer saß;
die verwaisten Gartenmöbel,
Löwenzahnsamen, der durch die Luft flog.
Er roch das Gras, das er am Vortag gemäht hatte.
Dann las er weiter.
An das Buch würde er sich später
nicht mehr erinnern können.
Irgendwann – ja,
irgendwann betrat die nackte Frau den Garten.
Sie kam durch eine Tür an der kürzeren Seite des Bungalows.
Der Bungalow war wie ein L geschnitten. So etwas erfindet man nicht.
Barfuß ging die Frau über den Rasen. Der Junge
sah sie von hinten; sah
wie sie sich, am Tisch angekommen, leicht
vorbeugte, um sich eine Zigarette
aus der Packung zu nehmen. Aus der Packung, die er
zwar bemerkt, aber für leer gehalten hatte.
Die Sonne schien hell. So hell.
Die Frau richtete sich wieder auf,
und als sie sich umdrehte, schaute der Junge
rasch in sein Buch, das auf dem Schreibtisch lag.
Ganz kurz nur. Dann
hob er es an; langsam
höher
höher.
Er blickte vorsichtig über das Buch, über seinen Rand hinweg –
nein,
sie hatte ihn nicht bemerkt.
Aber sie kam auf ihn zu. Näherte sich der
Schiebetür, genauer: sie näherte sich
der großen Öffnung, die dort war, wo sich
normalerweise die Tür befand.
Der Junge schaute.
Der Junge begriff
sie
mit seinem Blick.
Spiel der Bewegung
Spiel des Lichts
Leichtigkeit & Grazie
Swing.
Und jetzt? JETZT JETZT…. wenn sie…. falls sie….
sie SIE SIE…. kommt…. kommt näher…. was?

Er legte das Buch erneut auf den Tisch,
schaute erneut auf die Seiten,
und die Frau betrat das Zimmer.
Der Junge wartete auf ihren
Guten-Morgen-Gruß.
Herzschlägelang.
Der Gruß kam nicht, also
wagte er den Blick….
Sie hatte das Zimmer durchquert, leise, auf nackten
Füßen, so leise, so nackt – so neu, diese
Nacktheit…. Und sie öffnete
die Tür zum Flur.
Da sagte er:
»Guten Morgen.«
Ihr Erschrecken schien echt; sie
blickte sich um, blickte ihn über ihre Schulter hinweg an – &
begann
zu lachen.
»Oh«, sagte sie, »guten Morgen. Ich
hab dich gar nicht gesehen. Ich dachte,
es schlafen noch alle.«
Eine leichte Röte in ihrem Lächeln,
(vielleicht nur eine Spiegelung seiner eigenen?)
im Licht der schräg scheinenden Sonne…..
Schon im nächsten Moment war die Frau
aus dem Zimmer gegangen.
Als wäre nichts gewesen. Als wäre sie nicht gewesen.
Fort. Doch er hätte ohnehin nichts sagen können.
Die Freundin seines großen Bruders – wie weit
voraus & fern sie ihm doch erschien. Mit ihren
17 Jahren. So fern. Und doch
würde niemand ihm je so nahe kommen, je so nahe
gehen & sein in seinem künftigen Leben – wie sie.
Ihr Name begann mit einem L. So etwas erfindet man nicht.
Der Junge klappte das Buch zu,
ohne das Lesezeichen hineinzutun; und
ich fragte mich, ob sie mich
wirklich
nicht
bemerkt hatte.
Die Antwort war
unwichtig.
Später.
Als ich sie erfuhr.


Wasserhähne

Als 6- oder 7jähriger
war ich fasziniert von fremden
Wasserhähnen, wenn mich
mein Vater in den Ferien an einen
fremden Ort
gefahren hatte.

Fremde Formen,
aus denen das
scheinbar
Selbe
wie zuhause
floss.

Aber diese Faszination
war
NICHTS
gegen die Vertrautheit
mit den Wasserhähnen zuhause;
& ich war immer wieder
glücklich,
wenn mein Vater mich
endlich
wieder
zurückgefahren hatte.

Zu den
vertrauten
Wasserhähnen

& den
bekannten Formen.


Der alte Film

Die alte Kopie eines
noch älteren Filmes

Voller Kratzer &
Markierungen

Die Markierungen all der
Vorführer
durch deren Hände die Kopie
gegangen ist

Jumpcuts
fehlende Bilder
fehlende Sekunden

Herausgeschnittene
Momente

Ehemalige
Risse

Krächzender Ton
Verblasste Farben

Wenn man Glück hat
erinnert man sich
wie der Film ursprünglich
aussah

Wenn man kein Glück hat
ist vielleicht genau diese Kopie
die Erinnerung

& der Film
die eigene Vergangenheit


Ein kleiner Trost

Und dann höre ich einen Oldie
meist Heavy Metal
& ich erinnere mich an eine
Feier

Und zu dieser Musik
küsste SIE
einen
ANDEREN

Sie
die damals
meine Welt war

Und dann war ihre Hand
in seiner Hose.
Und ich ging.

Ich höre einen Oldie

Ich BIN ein Oldie.

Und falls sie
noch lebt
irgendwo
ist sie es
mittlerweile
auch.