Monatsarchiv: Februar 2013

Die ferne Saite

Eine Saite war gerissen
mit einem Geräusch, das ich
nicht hatte hören können.
Zu fern von mir.

Wir lagen im Bett, als sie
es mir erzählte. In
buntbeleuchtetem Halbdunkel.
»Was für eine Saite?« fragte ich.
»Tiefes E. Für Konzertgitarre.«
Und sie fügte hinzu:
»Komisch, die reißen doch nie.
Normalerweise.«
Nun, mir war im Laufe meines Lebens
schon jede Saite gerissen.
Immer wieder.
Man muss nur wild genug spielen.
Zuweilen nicht einmal das.
Manchmal reicht die Ermüdung. –
Sie stand auf, um sich anzuziehen;
ich ging nach nebenan, um
nach einem Satz zu suchen.
Ich fand einen passenden.
Ging zurück zu ihr.
»Hier«, sagte ich.
Sie lächelte.
»Ich brauche nur die eine Saite.«
Ich öffnete das Päckchen &
reichte ihr das E.
Wir küssten uns.
Es gefiel mir,
nackt zu sein, während sie
ihr wärmendes Wollkleid trug.
»Sehen wir uns Freitag?« fragte ich.
»Ich denke schon.«
Dann fuhr sie.

Nun habe ich
einen auseinandergerissenen Satz.
Einen unvollständigen Satz.
5 Saiten, die einen eigenen Klang haben.
Ich werde sie aufziehen
& das E nicht ersetzen.
So mancher Akkord, so manche Harmonie wird
unvollständig klingen …..
Ein tiefer Ton wird fehlen.

Und in der Ferne –
zu fern von mir –
ist diese eine Saite.
Die eine Saite, die
an mich erinnert.
Die eine Saite, die
mir fehlt.
Die eine Saite, die
so manchen Akkord, so manche Harmonie
erst klingen ließe, wie er klingen sollte.

Vielleicht spielen wir ja
irgendwann einmal
zufällig
im selben Moment
das Gleiche.

Dann wäre es
über alle Entfernung hinweg
als wären die Saiten
nie getrennt worden.

Und
der Klang
wäre
perfekt.


Die Stimme

Niemals
hatte ich vorgelesen.
Niemals
wollte ich es tun.
Ich hasste
meine Stimme.
Von außen gehört.
So wie die meisten
ihre Stimme hassen,
weil sie ihre Stimme
nur von innen kennen.
Und ich
konnte
einfach
nicht
vorlesen.

Eines Tages
war
dies Alles
Grund genug
mir selbst
vorzulesen.


Ratten, von der Mitte bis zum Rand

»Vielleicht….« Er hielt inne.
Sie schauten sich an.
Die Pause nagte an ihnen
wie eine ausgehungerte Ratte.
»Vielleicht was?« sagte sie.
»Vielleicht hättest Du Dir nicht
jemanden aussuchen sollen, der
so einsam ist.«
»Ich habe Dich nicht ausgesucht.
Denn ich hatte keine Wahl.«
Die Worte gefielen ihm.
Manche Worte, die gefallen waren, gefielen ihm;
andere nicht. Manche Worte waren
so hart gefallen, dass sie sich nicht mehr erheben konnten,
um ihnen aus dem Kopf zu gehen.
»Aber vielleicht…..« Sie hielt inne.
Sie schauten sich noch immer an.
Eine weitere Ratte.
Oder noch immer dieselbe.
»Vielleicht was?« sagte er.
»Vielleicht hast Du recht. – Denn ich bin
nicht einsam.«
Schlechte Voraussetzungen, dachte er.
Sie
stand mitten im Leben.
Er
am Rande.
Weit war der Weg
von der Mitte zum Rand
& zurück.
Eine weite Strecke
voller Ratten.
Aber vielleicht….
gab es kein
Zurück.

 

(Inwendig vorgetragen:)


Du hängst an meiner Wand

Du hängst
an meiner Wand.
Etwas
hängt in Dir.
Funktioniert nicht mehr
richtig.
Deine Unruhe
könnte zer-
stört
worden
sein.
Die Zeit,
die Du mir zeigst, ist
Deine eigene –
kaputte.
Vielleicht
die Zeit, in der
ich
leben möchte.
Vielleicht ist es
nicht
zu spät.
Auf Dir.
Du
bist
meine Uhr.

 

(Inwendig vorgetragen:)


Das Foto im Schnee

Schnee fiel auf das Foto, auf dem Schnee fiel.
Viel Schnee fiel
in der Gegenwart –
war gefallen
in der Vergangenheit.
Viel Schnee fiel
in Gegenwart der Vergangenheit.
In der Gegenwart, die vergehen würde …..
Wie der Schnee, der gefallen war,
wie der Schnee, der fiel.

Ich hatte das Foto verloren.
Das Foto, das mir so gefallen hatte.
Ein gefrorener Augenblick kalter Kindheit.
In Schwarzweiß, das beinahe niemals schwarzweiß ist.
Weiß war der Schnee, doch grau
der Anorak, der eigentlich rot gewesen war.
Ein Rot, das ich seither an seinem Grauton erkenne.
Ich lachte aus der Kapuze,
winkte mit dem Fausthandschuh
in die Spiegelreflexkamera.
Glücklich frierend.
Glücklich, weil es so schnell
bergab gegangen war
mit mir –
& dem Schlitten.
Glücklich, weil ich in diesem kurzen Moment
nicht an den Aufstieg dachte, nicht an
die Anstrengung.
Nicht an mich,
wie ich Jahrzehnte später
das Foto betrachten,
nicht daran, wie mein zukünftiges Ich
in das Foto & diesen Augenblick
hineinschauen, hineinfallen würde.

Das Foto, auf dem Schnee fiel,
war in den Schnee gefallen, auf den
immer mehr
Schnee fiel.
Schauer folgte auf Schauer.
Ich wußte nicht, wo ich
es, das mir so gefiel, verloren hatte.
Konnte mich nicht erinnern, wo
die Erinnerung mir aus der Hand geglitten war;
weich fallend in die Kälte.

Doch ich hatte Zeit. Vermutlich.
Ich würde warten. Wahrscheinlich.
Einfach warten
bis der Schnee, der fiel,
Vergangenheit war.


Der alte Witz

Der Tag begann
wie ein alter Witz,
den man schon tausendmal gehört hat.
Niemand
lachte.
Alle
erinnerten sich – – –
Damals.
Als er einem
zum ersten Mal
erzählt wurde …..
So neu
So frisch
Man hatte gelacht.
Herz-
er-
frisch-
end.

Jetzt
konnte man nicht einmal mehr
müde lächeln.
Die Wiederholung war
ein Ärgernis;
der Erzähler
ein Idiot.
Doch vielleicht war für ihn,
der ihn erneut vortrug,
der Witz so neu
so frisch
wie er es
einst
für die Zuhörer gewesen war.
Ihr Damals
war
sein Jetzt.
Der Tag würde kommen,
an dem auch er,
der Erzähler,
nicht mehr darüber würde lachen können.
Auch sein Jetzt
war dazu verdammt
Damals zu werden.
In der Zwischen-
zeit
ging der Tag,
der so begonnen hatte,
weiter.


Die Hampelmänner

Die Frau schlief
tief & ruhevoll.
In Dunkelheit & Schneestille;
kein Traum, an den sie sich erinnern würde.
Warm & weich lag sie unter der Decke.
An den Wänden ihres Schlafzimmers hingen:
Die Hampelmänner.
Die Frau hatte keine Zeit
für Hobbys, doch sie sammelte
Hampelmänner.
In allen Räumen hingen sie;
unbewegt & leicht verstaubt.
Mit einer Schnur zwischen den Beinen.
Lachende Gesichter aus Pappe.
Sie alle hatten Namen.
Namen, welche die Frau ihnen gegeben hatte.
Nur um sie wieder zu vergessen.

Die Frau schlief
tief & ruhevoll.
Ein Brief lag unter ihrem Kissen.
Ein Abschiedsbrief –
einer von vielen;
alle von einem.
Von einem der nicht schlafen konnte.
Die Frau hatte keine Zeit
für Hobbys, doch sie sammelte
die Briefe.
In einer Schublade lagen sie;
alle bis auf diesen.
Diesen, den ihr Kopf zerknitterte
im Schlaf.

Die Frau schlief
tief & ruhevoll.
Kein Traum, an den sie sich erinnern würde.
Doch den Namen des Absenders hatte sie
noch
nicht
vergessen.

Die Hampelmänner hingen
an den Wänden.
Der Mann, der nicht schlafen konnte, hing
von der Decke.
Ruhevoll & traumlos.
An einem Seil, das aus Schnüren geflochten war.
Scheiße, Pisse & Sperma waren seine
letzten Äußerungen gewesen.
Äußerungen, die längst
vertrocknet waren.
Die geschwollene Zunge schaute stumm
aus dem geöffneten Mund.
Unbewegt.

Schneestill & dunkel
war die Nacht.
Die Frau schlief.


Das Puzzle in meinem Bett

Ihre Beine waren wie zerschnitten
durch die Linien der Spiegelkacheln
an der Wand
meines Schlafzimmers

Ihr Arsch war eingerahmt
in einem der Quadrate

Ihr Rücken:
Befleckt von den Fingerabdrücken
auf dem Glas gegenüber

Ihr Hinterkopf bewegte sich
zwischen 2 Quadraten
vertikal
hin & her

So viele Assoziationen:
Stadtpläne
Rechenhefte
Spielwürfel
Fadenkreuze

……

Auch ich war
in der Wand gegenüber

Auch ich:
Befleckt &
wie zerschnitten

Unberechenbar
wir beide

Nackt
wir beide

Ein Puzzle
das wir
zusammen
gelegt hatten

ohne sicher zu sein
ob
Alles
zusammen
passte

ohne zu wissen
welches Bild
sich
ergeben
würde


Kurven im Nebel

Die Kurven hatte ich
in meiner Erinnerung;
das Lenkrad fest im Griff.
Nebel fiel in die Nacht
& wurde zu einem Spiegel
auf dem gefrorenen Asphalt.
Waberndes Weiß im Scheinwerferlicht.
Die Sicht unfrei & abgeschnitten.
Erzwungene Langsamkeit, die
das Ende der Strecke in zeitliche Ferne rückte.
So oft war ich diese Route gefahren,
dass sie mich langweilte bis zum Ekel;
und auch das Ziel war nur
eine üble Angewohnheit.
Der Vorhang,
der Spiegel,
das Fremde
forderten meine Aufmerksamkeit;
kaum nahm ich die Musik wahr, die
aus dem Radio kam.
Ein dunkles Tier kreuzte meinen Weg;
so schnell, dass ich nicht erkennen konnte,
was es war …..
Es verschwand unversehrt im Nebel –
ohne dass ich das Bremspedal berührt hatte.
Da war kein Licht
außer meinem.
Im Glanz des Spiegels war nichts zu sehen;
nichts – außer der Gefahr …..
die Möglichkeit des Abkommens,
die Möglichkeit der Verletzung,
die Möglichkeit des Todes.
Ich fühlte die nächste Kurve,
fühlte sie näher kommen, obgleich doch
ich es war, der sich ihr näherte.
Links, dachte ich, leicht links, sanft links ….
Ein ununterbrochener Mittelstreifen,
ein Seitenstreifen, jenseits dessen ein Graben lag.
Ich musste nur vorsichtig, ganz wenig
einlenken …..
Eine unfassbare Traurigkeit kam aus dem Nebel
auf mich zu; ungreifbar wie dieser,
wabernd & undurchschaubar.
Die Kurven
ich hatte
sie
in meiner Erinnerung.
Vielleicht auch nur
im Gefühl.
Doch es bestand die Möglichkeit, dass
meine Erinnerung, dass
mein Gefühl
mich täuschte.
Die Gefahr der Täuschung war überall.
Auch in mir.
»Gib Gas«, sagte die Traurigkeit.
Und die Musik schien lauter zu werden.


Phönix ?

Ich brannte.
War Feuer & Flamme.
Wie so oft.
Enthusiasmus
Leidenschaft
Wut
Liebe …..
Flackerndes Licht
das Hitze verbreitete
& tanzende Schatten gebar.

Der Gestank
der folgte
kam mir bekannt vor.

Kalter Rauch.

Die Asche
die den Boden der Tatsachen bedeckte
war meine eigene.

Ein Windstoß –
& ich würde
davonfliegen.

 

(Inwendig vorgetragen:)


Memoiren

Eine grobe Skizze
Einige willkürliche Striche
gezeichnet
mit einem stumpfen Bleistift
auf Millimeterpapier

Das Blatt
herausgerissen
aus einem Block
der verloren ging

Die Mine bricht ab

& das Blatt
vergilbt.

Zerfällt
mit der Zeit.


Das Versehen

Ich war wohl betrunken &
hatte Hunger.
Also schmierte ich Butter auf eine Scheibe
Kürbiskernbrot (von führenden Urologen empfohlen).
Ich öffnet den Kühlschrank.
Da war kein Aufschnitt mehr.
Da war fast gar nichts mehr.
Ok, dachte ich, also Tomantenmark aufs Butterbrot.
Ich griff nach der roten Tube, drückte ……
Es war
Scharfer Senf.
Ok, dachte ich, was soll’s!
Ich verteilte den Senf.
Griff nach der anderen roten Tube.
Drückte ……
Tomatenmark auf die Scheibe Kürbiskernbrot
mit Butter &
scharfem Senf.
Schnitt die Scheibe in der Mitte durch,
klappte sie zusammen
& biss hinein.
Es schmeckte gut.
Wie so manches Versehen.


Der Zimmerspringbrunnen

Die Katzen waren längst tot.
Am liebsten hatten sie das Wasser
aus dem Zimmerspringbrunnen getrunken, der
auf der Heizung stand.
Hellgrünes Plexiglas;
der Wasserstrahl beleuchtet
von einer 15-Watt-Glühlampe.
Und als wären sie sich nicht sicher gewesen,
hatten sie meist
zaghaft, fast zitternd
mit einer Pfote
den Strahl berührt,
bevor sie sich mit der rauhen Zunge daran
wagten.

Ein dumpfes Geräusch.
Über mir.
Ein Fleck,
der sich ausbreitete –
an der Decke meines Kellerzimmers.
Ein heiserer Hilferuf.

Ich hatte gelesen.
War in einer Welt
gewesen
außerhalb
des Kellers.

Der Ruf riss mich heraus aus dieser Welt.

Ich legte das Buch beiseite,
verließ
das Zimmer,
ging die Treppe hinauf …..

Betrat das Wohnzimmer
meiner Mutter.

Der Zimmerspringbrunnen auf der Heizung war
leer.
Eine Erinnerung an die toten Katzen, die sie
so oft gerufen hatte.

»Verdammt«, sagte ich.
Sagte ich, obwohl ich es hätte schreien wollen.
»Schon wieder!«

Die alte Antwort:
»Ich wollte ihn doch nur entkalken.«

»Dann sag doch Bescheid, verdammte Scheiße!
Dann trag ich ihn in die Küche.
Guck dir die Sauerei an –
& unten tropft es durch die Decke.«

»Warum bist du immer
so fies zu mir?« vibrierte ihre Stimme.

Ja.
Warum?
Warum?
Warum?

All diese Jahre
ihrer Krankheit.
Das Zittern.
Das Fallen.
Das Verschütten.
Die Hilflosigkeit.

Die Stunden in Wartezimmern.
Die Stunden in Krankenhäusern.

Geduld.
Geduld.
Geduld
am Ende.

Meine Nerven
am Boden
wie all das Wasser aus dem Zimmerspringbrunnen,
das in den Keller tropfte.

In der Sekunde, nachdem
ich meine Worte gesagt hatte, wusste ich,
dass sie mir leid tun würden.

Für lange
lange Zeit.

Später.

Und später
war
schon bald.


90 Jahre

Jemand hatte ein Glas zerbrochen;
die Scherben langen vor der Rezeption,
hinter der ich meinem Job nachging.
Ich wusste, wo Handfeger & Kehrblech lagen –
in dem Kabuff hinter der Hotelbar.
»Kein Problem«, sagte ich zu dem Jemand.
Es war ihm peinlich.
Ich ging in die Bar.
Öffnete die Tür zu dem Kabuff……
Die Schwester der Barfrau knöpfte ihre Bluse zu.
Auch sie arbeitete hier. Im Restaurant.
Sie hatte Feierabend.
Hatte sich umgezogen in dem winzigen Raum
neben Kühlschrank, Mikrowelle & Leergut.
»Mist«, sagte ich, »ich bin 1 Minute zu spät.«
Sie lächelte. Es war ihr nicht peinlich.
»Ja«, sagte sie.
Sie wusste, weshalb ich hier war. Sie hatte das
Klirren gehört.
»Scherben bringen Glück«, sagte sie.
»Die einen sagen so, die anderen so«, erwiderte ich.
Ich nahm den Handfeger, das Kehrblech
& einen Plastikeimer.
Ging zurück, fegte die Scherben auf, schüttete sie
in den Eimer.

Ich mochte die Schwester der Barfrau.
Eine Türkin. Schlank. Mit großer Nase.
Manchmal kam sie mit einem blauen Auge zur Arbeit,
das sie versucht hatte zu überschminken.
Ihre Brüder mochten es nicht, wenn sie
mit jemandem flirtete.

Eines Tages sagte sie zu mir:
»Ich kann Handlesen. Soll ich?«
Ich glaubte an nichts, außer an
Berührungen.
Ich gab ihr meine Rechte.
»Nein«, sagte sie, »die Linke.«
Ich gab ihr meine Linke.
Sie hielt sie in ihrer schmalen Hand.
Betrachtete die Linien.
»Und?« sagte ich.
Sie sagte: »Du wirst 90. Mindestens.«
Ich grinste
»Und in welchem Zustand?«
»Das kann ich nicht sehen.«
»Nee danke», sagte ich, »dann lieber nicht.«
Ihre Augen lächelten.

Von den weiteren 60 Jahren,
die dies damals bedeutete,
sind 20 vergangen.
20 Jahre Gegenwart.
20 Jahre Raubbau.
Und plötzlich sind da 20 weitere Jahre
Vergangenheit.
Ich habe keine Ahnung, wo
die Handleserin heute ist. Ob sie
überhaupt noch lebt; so wie ich noch lebe,
der ich schon immer älter war als sie.
Wahrscheinlich tut sie das.
Davongekommen
mit einem blauen Auge.
Ich sitze im selben Hotel, hinter derselben Rezeption,
die nur ein paar Kratzer mehr hat als damals.
Die Zahlen bleiben erschreckend.
Und unwahrscheinlich.
Ich glaube noch immer an nichts –
außer an Berührungen.
An das, was ich anfassen kann
oder wegfegen –
wie (zum Beispiel)
Scherben.


Schneller als der Schatten

Manchmal
musst du schneller ziehen als der Schatten
den jemand
über dein Leben geworfen hat.

Ziehen –
wohin auch immer …..

Vielleicht nur dorthin
wo du warst
als
er in dein Leben trat

mit einer Stahlkappe im Schuh.

Es ist
ein Duell.

Ohne Ziel.

Ziele
irgend
wo
hin.

In der Dunkelheit.
In die Dunkelheit.

Zieh!
So schnell du kannst.


Pfandflaschen

Es ist nicht besonders warm
an meinem Arbeitsplatz
im Winter.
Aber es ist
erträglich.
Und hinter mir steht
ein Heizlüfter.
Durch die Fensterfront blicke ich auf
den Bahnhof gegenüber,
erleuchtet in der Nacht.
Mehrspurige Straßen ….
Ampeln ….
Laternen ….
Mülleimer ….
Am Wochenende werden die Mülleimer
immer wieder
aus ihren Halterungen gerissen
von besoffenen Jugendlichen –
ein Geräusch, das ich sehr gut kenne.
Und immer wieder sehe ich
den alten Mann mit seinen Plastiktüten,
der in den Mülleimern nach Pfandflaschen sucht.
Auch ihn kenne ich sehr gut –
vom Sehen.
Das Klirrgeräusch in seinen Tüten eilt ihm voraus.
Doch manchmal sind die Tüten auch leer.
Nie schaut er durch die Fenster herein zu mir.
In den Fenstern sehe ich mein Spiegelbild
vor der künstlich beleuchteten Dunkelheit
da draußen.
Es ist kalt da draußen.
Sehr kalt.
Ich werde mich warm anziehen müssen.
So wie er.


Eine Handbreit über dem Eis

Es war so still,
dass ein schmelzender Eiswürfel einen erschrecken konnte.
Ein ausgebuchtes Hotel des Schlafes; aber vielleicht
waren die Gäste auch nur
tot.
Die Zeit verstrich
auf stehengebliebenen Uhren.
Nichts passierte.
Niemand ging vorüber.
Das Ich: ein unterbezahlter Nachtportier.
Immer wieder
nickte ich meiner Müdigkeit zu.
Nickte ich ein.
Die Tagträume der Schlaflosigkeit verwandelten sich
in traumlosen Schlaf.
Staub war von fremder Haut
gefallen
auf die Teppiche am Boden.
Totes Gewebe
das ich einatmete.
So gleichmäßig
wie man niemals atmet, wenn man
wach ist.
Endlos
hätte ich schlafen können.
Andere hätten es meinen Tod genannt.
Und ich wäre kalt gewesen.
So kalt & still.
Doch
Alles
vergeht.
Alles endet.
Auch solche Nächte.
Und jemand betrat meine Ruhe.
Das schwarze Kleid der Putzfrau endete
eine Handbreit über ihren Knien.
Die Hand
hätte meine sein können.


Die Narbe in meiner Erinnerung

Die Narbe in meiner Erinnerung
hat die Form
Deines
Mundes

Das Lächeln
das Du mir geschenkt hast

in der Vergangenheit

Damals
war das
was heute eine Narbe ist
eine Wunde

rot
heiss
& blutend
wie ein Kuss

der in Wirklichkeit
ein Biss war

Eine Wunde
von der ich nicht ahnte
dass
sie sich
jemals
schließen
würde


Zielsicher

Zielsicher
fanden sie
die Nächte,
in denen sie
sich
nicht
hätten
allein
lassen
dürfen,
um sich darin
allein zu lassen.

Zielsicher
fanden die Nächte
sie,
um ihr menschliches Unvermögen
auszukosten.

Wind
gebärdet sich
wie Sturm

die Sucht
nach Nähe
wie Liebe.

Der Schlaf des Einen
ist die Hölle
des Anderen

in Nächten
wie diesen.

Er ging in die Küche.
Um die Zeit abzulesen.
Von den Flaschen.
Die Zeit,
die langsamer
verging
als
er.

Die Flaschen hatten zugesehen,
damals, als
sie
vor ihm kniete
in der Küche,
seinen Schwanz im Mund.
Und sie hatten
reflektiert.
Vielleicht nicht diese
Flaschen, aber
Flaschen wie diese.

Er konnte sie schlafen hören.
In einer Ferne, die er
nicht kannte.

Sie war so müde gewesen.
Müde
wie der Tod im Stummfilm.

(Eine seiner Kindheitserinnerungen
aus der Zeit, da er
noch
nicht
unterscheiden konnte
zwischen dem,
was er sah
&
der Wirklichkeit.
Damals hatte er den Tod gesehen.
Weil er es
glaubte.

Damals
hatte er
Vieles
nicht
auseinander-
halten
können.

Doch
Alles
geht
auseinander

irgendwann.)

Er
war nicht müde.

Er ging im Haus umher,
ziellos
durch die Wellen
der Musik.

Verwirrt
wie seine Gedanken
Verwirrt
wie seine Gefühle

Zusammen
hang
los!

Die Gelassenheit von einst
war fort.

Er wusste nicht,
worauf seine Gedanken hinaus wollten …..
Und wohin
hinaus?

Vielleicht
in die Raserei
Vielleicht
in den Wahnsinn

Zielsicher