Jahre später entdeckte ich ein Foto im Internet:
da saß er an einem gedeckten Tisch, und
Helmut Berger leckte ihm die Haare
(zumindest sah es so aus).
Dalli Dalli Aftershow-Party Mitte der 80er Jahre.
Wenn man das gewusst hätte – das wäre doch
ein Gesprächsthema gewesen! Andererseits:
gesprochen hatte man ja nicht so viel.
Ich hatte ihn in einem Sexchat getroffen.
30 Jahre nach HB. – Wir beide auf der Suche
nach einem Dreier (auch so’ne Disziplin).
Fotos wurden ausgetauscht.
Eines seiner Fotos zeigte ich
meiner Freundin. »Und?«
»Ist okay«, sagte sie, »der geht.«
Er/es sollte unser erster sein.
Und dann saßen wir zu dritt auf dem Sofa
meiner Großeltern. Er in Radlerhose & T-Shirt,
sie in ihrem Schulmädchenoutfit zwischen uns
(der karierte Rock so kurz wie das Lineal, das man selber
als Schüler im Ranzen gehabt hatte).
Ich hatte auch was an, aber soetwas merke ich mir nicht.
Der Mann sah älter aus als auf dem Foto, das er mir geschickt hatte,
aber so ist das halt – nicht schlimm.
Wir waren nicht zum Reden zusammengekommen -
sie legte ihren linken Schenkel auf seinen rechten
& streichelte die Ausbuchtung, die in der Radlerhose
besonders zur Geltung kam. Eigentlich
ging alles recht schnell. Dalli Dalli. Er war nun mal
Sportler und auf Geschwindigkeit getrimmt.
Schnell stand er auf, schnell zog er sich aus.
Und schon war sein Schwanz in ihrem Mund.
Der Schwanz war ziemlich kurz, aber die Eier gewaltig.
(Später fragten wir uns, ob das was mit Doping zu tun hatte;
aber ich glaube, da schrumpfen sie eher.)
Er trug einen Cockring.
Schließlich gingen wir in das Zimmer mit den Schaufensterpuppen.
Da lag eine Matratze auf dem Boden. Auch beim Ficken
schien er schnell durchs Ziel kommen zu wollen. Er war ein Rammler.
Es hätte mich nicht gewundert, kleine Rauchwölkchen sich kringeln zu sehen.
Sie sah nicht gerade begeistert aus. Schaute mir in die Augen.
Ein bisschen verloren, ihr Blick. Zum Ausgleich machte ich alles
ganz langsam. Seltsamer Staffellauf. Ich war schon immer
der Langsamste. In der Schule. Beim Sport. Beim Essen. Wie waren nochmal
seine Bestzeiten? »Dein Freund hat einen schönen Schwanz«, sagte er
zu ihr. Nun ja. Ob da was gelaufen war – mit Helmut Berger?
(Der sah auf jenen Fotos noch richtig gut aus, da wäre ich auch
nicht abgeneigt gewesen......)
Ein bisschen Smalltalk gab es dann doch noch. Er saß wieder
auf dem Sofa und musste sich nur noch die Schuhe anziehen.
Wir standen. Ich glaube, ich hatte mir etwas angezogen, aber
soetwas merke ich mir nicht. Sie jedenfalls war noch nackt,
soetwas merke ich mir. Er sprach von seinem Herzen.
Mit seinem Ruhepuls hätte ich mich für tot erklärt.
Ja, der Leistungssport! Ständig musste er
irgendetwas tun, um nicht abzunippeln. Sein Arzt sei besorgt,
sagte er.
Früher hätte ich das alles viel detaillierter geschildert –
aber ich werde ja auch immer älter. Aktuelle Fotos –
ach, Schwamm drüber.
Meine Phantasie arbeitet assoziativ.
Hatte ich nicht beinahe Verbindung aufgenommen
mit Visconti? Die Unschuld. Die Verdammten.
Gewalt und Leidenschaft. Ludwig. (Mit Berger.)
Tod in Venedig. Sehnsucht. (Ohne Berger.)
Wenn man das alles damals schon gewusst hätte!
Der Olympionike hatte bei den Spielen
keine Medaille gewonnen.
Dabeisein ist alles. Das war Spitze!
Auf der Sofalehne fand ich seinen Cockring.
Den warf ich in den Mülleimer
zusammen mit dem Kondom.
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Der Olympionike
6 Stunden, 5 Nächte, 5 Jahre
Sechs Stunden im Zug.
Ich fuhr nach München.
Ihr Freund war zur Kur, das Hotelzimmer
reserviert. 5 Nächte. Billig.
Tags gingen wir spazieren; sie
zeigte mir die Stadt, die sie verabscheute.
Abends schauten wir fern in ihrer (seiner) Wohnung.
Nachts im Hotel wurde gefickt.
Ich bezahlte sie. (Nie davor & nie danach
habe ich bezahlt, und für keine andere
hätte ich es getan.) Es ging um
ihr Gewissen; da ich sie bezahlte,
fiel es ihr leichter, ihren Freund
zu hintergehen. Menschliche Seele,
man kennt das: dieses Ding da, aus
dem man kaum schlau wird. Küssen
durfte ich sie nicht. Das war das Schlimmste.
Aber auch die Bezahlung war grausam
für mich. Am letzten Tag
hatte sie einen Termin. Jemand anderes
hatte ihr online Geld für Sex geboten; sie
langweilte sich, also wollte sie
etwas erleben. Ein bisschen Schwung
ins Leben bringen. Ich ging
in ein Museum, und sie zu dem Café,
wo sie alles besprechen wollten.
Eine Stunde später waren wir
wieder zusammen. »Und?«
fragte ich. – »Wird schon gehen«,
sagte sie. »Er hat mir gleich die Hand
aufs Bein gelegt. Das hasse ich. Außerdem
hat er eine hohe Stimme. Wie ein Mädchen.
Schrecklich. Zu jung isser auch,
nächste Woche treffen wir uns.«
Dieses Ding da, aus dem man kaum
schlau wird. Ich habe es auch.
Ein Schmerz im Herz, ein Puckern
im Schwanz. Ich weiß es doch auch nicht.
Es war alles so seltsam. Am nächsten Tag
saß ich wieder im Zug. Zum Abschied
durfte ich sie nicht einmal
auf die Wange küssen. Am Telefon
erzählte sie mir später alles
ganz genau. Die Therme, das Stundenhotel,
der Whirlpool… Und wieder:
Schmerz & Puckern.
Mehr als 5 Jahre
leben wir jetzt zusammen.
Kein Ende abzusehen.
Mehr Glück ist
dem Menschen nicht zugänglich.
Die Zellteilung der Gefangenen
Gefangen im Leben
Gefangen in der Welt
Die Zellteilung der Gefangenen:
das Zusammen
Sein
Geteiltes Leben
Geteilte Welt
Liebe
Vermehrung
sonst
Nichts
Irgendwas mit Star Trek
Ein verwittertes gelbes Flugzeug stand auf dem Gelände.
Einmotorig. Über die linke Tragfläche hinweg kletterten wir
Kinder in sein Inneres. Wir waren zu zweit, und
mehr hätten auch nicht in die Maschine gepasst. Obwohl….
Eine gestreifte Spinne hing zwischen den Instrumenten;
sie konnte nicht fliegen, aber Fliegen flogen in ihr Netz
durch die Löcher der gesplitterten Scheiben. Ich behielt sie
im Auge, diese Spinne. Etwas ängstlich. Etwas angeekelt. Aber
nicht einmal sie konnte mich vom Sitz des Piloten vertreiben.
Es roch nach Metall, es roch nach Rost & Vergangenheit.
Wir waren am Boden. Wir blieben am Boden. Alle Zeiger standen
auf 0. Und nur unsere Fantasie
konnte den Propeller noch in Rotation versetzen.
Die beflügelte, beflügelnde Fantasie der Kinder. Es muss
wenige Jahre vor der ersten Mondlandung gewesen sein.
Es gab noch keine Flaggen dort oben, keine Fußspuren.
Nichts, was Reflexionen & Projektionen hätte stören können.
Der rothaarige Junge, der hinter mir saß, war erst vor kurzem
nach Deutschland & in meine Schulklasse gekommen; sein Vater,
ein amerikanischer Offizier, war hier stationiert. Flaggen
flatterten vor dem Gebäude, in dem sie wohnten. Unsere Eltern
unterhielten sich darin. Der Junge erzählte mir von Amerika,
das ich nur aus Filmen & Fernsehserien kannte. Auch den Mond
kannte ich nur aus Filmen & Fernsehserien. Wir wussten nicht, wo
das Flugzeug gewesen war. Also konnte es überall gewesen sein. Über
All. Das gefiel uns. Und ich kannte niemanden sonst, der aus einem
so fernen Land kam wie der Junge mit den roten Haaren. Ich drückte
Knöpfe, die längst keine Funktion mehr hatten – & die Zeit flog
dahin. Am Boden. In unseren Köpfen. In die Zukunft.
Irgendwann erzählte er mir von seiner liebsten
Fernsehserie. Die Handlung drehte sich um Außerirdische, drehte
sich um ein Raumschiff & um fremde Welten. All
es war so weit entfernt – wie Alles Andere, das ich nicht kannte. Und er
zeigte mir Fotos von einem Mann mit seltsamen Ohren & seltsamen Augen
brauen. Faszinierend, dachte ich. Oder so etwas Ähnliches mag ich
gedacht haben. Einige Jahre später kam die Serie
nach Deutschland. Im selben Jahr als das Apollo-Programm eingestellt wurde.
Wir wohnten längst woanders. Ich ging
auf eine andere Schule. Die alten Kontakte waren ab
gebrochen. Und ich erinnerte mich – als ich die erste Folge sah…..
Das Flugzeug, die Spinne, die Flaggen, die Erzählungen….. Ich
mochte die kurzen Uniformen der weiblichen Besatzungsmitglieder.
Schon damals. Es war alles anders als ich es mir vorgestellt hatte.
Wie so oft. Aber es gefiel mir. Was nicht so oft der Fall war.
Den Ton einiger Folgen nahm ich mit dem Kassettenrecorder auf, und
nachts im Bett in meinem dunklen Zimmer hörte ich diesen Ton
zu meinen eigenen Bildern. Immer wieder. Science Fiction. Schon
der Kassettenrekorder hatte etwas davon. Verglichen mit unserem alten
Bandgerät. Ich drückte Knöpfe – & die Zeit flog dahin. Im Bett. In
meinem Kopf. In die Zukunft. Und sonstwohin.
Und 42 Jahre später bin ich gelandet. Auf dem Boden. In einer
Wohnung, die nicht die meine, in einem Raum, der mir nicht mehr
fremd ist. Zwischen gespreizten Schenkeln. Gespreizt
wie Tragflächen. Und die einzige Licht
Quelle ist ein eingeschalteter Fernseher hinter mir. Ein
charmant-gealtertes Röhrengerät. Gealtert bin ich auch. Doch
weniger charmant. Bekannte Namen erklingen
in der Nacht. Kirk. Pille. Spock. Uhura. Ein Film vom Ende
der 70er. Wiederum eine andere Zeit. Propellernde Zungen. Ein gewaltiger
Mond ist aufgegangen. Der damals noch nicht existierte. Bemannter Raum
Flug. Peterchens Arschfahrt. Auch so’ne Kindheitserinnerung. Es riecht
nach Lust. Nach Jugend & Gegenwart. Im Geflacker des Films
sehe ich wie ein Gesicht sich verändert. Ein Mund sich öffnet. Im Rausch.
Und noch mehr. Öffnet sich. Und jemand ruft:
»Alarm, Alarm! Ein Eindringling! Alles auf Gefechtsstation!«
Und ein anderer ruft: »Scotty, bitte kommen!« – dabei heiße ich gar nicht so.
Gelächter säuft ab. Und erstickt in Körpersäften. Und sie flüsterschreit:
»Oh Gott, oh Gott!«, aber auch das ist nicht mein Name.
Science Fiction. Mit wenig Science. Immer wieder. Und es ist immer dieselbe Zeit,
die fliegt. In unseren Köpfen. Die Zeiger stehen nicht. Es
scheint nur so. Es sei denn, es ist etwas kaputt. Alles
auf 0. Wir waren zu
zweit. Im Cockpit. Und doch nicht
allein. Und niemand weiß wie
& wann die Spinne gestorben ist.
Schmuddelkomödie mit gewaschenen Gardinen
Es erinnerte mich
beinahe an eine dieser Schmuddelkomödien
– vom Anfang der 70er Jahre, dabei war es bereits das Ende
dieses Jahrzehnts. Da stand sie also
barfuß auf der Leiter – & hängte die frisch gewaschenen
Gardinen auf. Das grüne Kleid mit dem gelben Blümchenmuster war
eines ihrer kürzesten. Kurz & knapp. Ich saß auf dem Sofa
& schaute zu; ihr Mann (neben der Leiter) hielt
die Stores in beiden Händen; und sie streckte sich
& schob ein Plastikröllchen nach dem andern in die Schiene
an der Decke. Draußen vor dem Fenster
verblasste eine Landschaft in der Sonne. Ich
erinnere mich nicht an sie. Nicht an die Landschaft
& kaum an die Sonne. An die Sonne erinnere ich mich nur
als Lichtspiel auf nackter Schenkelhaut. Als Gegenlicht &
Reflex. Gelbgrün rutschte der Saum übers Pogebäck, und
natürlich trug die junge Frau nichts unter diesem Kleid. Es war
die Zeit, es war Klischee, und es war
diese seltsame Schwäche des Mannes; seltsam &
gewöhnlich zugleich. Das Begehren der Anderen erhöht den Wert
des Begehrten. Und nicht zuletzt den Wert dessen, der sich
als ‚Besitzer’ des Begehrten fühlt. Ein kleiner, billiger Kick.
Nicht ohne Gefahr. Ich saß also da, lauschte dem Geräusch
der Röllchen, dem belanglosen Geplauder zwischendurch –
& war nichts als Auge & Erektion –
& Besuch, ich schlief im Gästezimmer, ich hörte
das Gestöhne bei Nacht. Und machmal auch bei Tag. Über
die Konstellation der Komödianten gibt es nicht viel zu sagen.
1 Ehepaar & 1 Vereinzelter. Und die wunderbare Verblendung
der Hormone. Die grandiose Dummheit der Wollust.
Es war – als hätte der Mann nie darüber nachgedacht, weshalb es
der Frau nichts ausmachte, sich dem Besuch so zu zeigen. Dabei hatte
es oft genug Streit gegeben, weil die Frau sich den Bekleidungswünschen des Mannes
widersetzte. Es war ein Spiel, ein Hin & Her, es war Schwäche gegen Stärke,
Widerspiel & Kräftemessen, Spiel mit Feuern jeglicher Art, dem Feuer
der Leidenschaften, dem eigenen Feuer, dem Feuer der Anderen &
brennenden Sehnsüchten.
Die Gardinen waren noch feucht. Ich konnte sie riechen. Der Mann grinste;
der Arsch grinste, und ich grinste wohl auch – ab & an. Eine Komödie eben.
Die Wohnung war groß; 2geschossig, die Schlafzimmer oben. Und irgendwann
waren wir oben, die Frau oben, ich oben, die Frau oben auf mir, und unten
wurde ein Schlüssel ins Schloss gesteckt. Wir hörten es beide. Da wir
es gewohnt waren, aufmerksam zu bleiben. Man wusste nie sicher, wann
er nach Hause kommen würde. Also sprang sie runter
von mir & ich aus dem Bett. Sie griff sich das Kleid vom Boden &
rannte ins Bad. Wo blieb denn nur die Musik
vom Hammerklavier? Warum waren wir nicht schwarzweiß?
Ach nee, es waren ja die 70er. Und nicht die 20er. Obwohl……
Irgendwie gelangte ich in die Beine meiner Hose – & ritsch!:
ein Stück Haut verklemmte den Reißverschluss. Das war das Ende
der Erektion. Es blieb keine Zeit, Schmerz zu empfinden. Also:
ratsch!: wieder runter mit dem Reißverschluss….. Und es blutete
nur ein wenig. Ich schnappte mir ein Buch, setzte mich aufs Bett &
sah, über den Flur hinweg, wie sie aus dem Bad kam. In Grün & Gelb
& ohne Schuhe. Sie barfüßelte treppab, und wir flogen
nicht auf. Dieses Mal.
Herzblut, Penisblut, Ende gut, Alles gut.
Nun ja – so gut war das Ende nun auch wieder nicht.
Aber egal. Die Menschliche Komödie
halt. Kurz & knapp.
Es wurde nicht viel gelernt daraus.
Dieselben Fehler wurden weiterhin gemacht.
Und – ja: der Geruch frisch gewaschener Gardinen
macht mich geil.
Der weite Weg vom 100sten ins 1000ste
Wie war ich auf diesen Weg gekommen?
Ich weiß es nicht.
Plötzlich war er da. Und ich ging. Auf ihm.
In einem fremden Land. In der Erinnerung.
Ich kleiner Junge, der mir fremd ist, in
gewisser Weise. Nach all dieser Zeit. Die
man die vergangene nennt. Mal
trödelte ich hinterher; mal
lief ich voraus.
Mit der leeren Milchkanne in der Hand;
sie war leicht; aus Plastik; schlenkerte;
leuchtendes Weiß im Sonnenlicht, Griff & Deckel
in hellem Blau. Meine Brüder gingen denselben Weg,
umkreisten die Mutter. Keine Autos, nur Landschaft;
ein Weg ohne Gehsteig, von feinem Sand bestäubt;
links & rechts Wiesen, in der Ferne der Saum eines Waldes. Alles wild. Wuchernd.
Wie ich manchmal. Heiß war die Luft – & bewegt von einem leichten Wind.
Anders als zu Hause. Mit einem Hauch von Salz. Ich erinnere mich
an die Lupinen, die ich sah. Weil ich dabei an Fix & Foxi denken musste.
(Wölfchen & Lupinchen.)
Der Weg war weit – bis zu dem Hof, wo wir die frische Milch bekamen; so
erschien es zumindest meinen kurzen Beinen in den noch kürzeren Hosen.
Wir gingen & gingen; manchmal schloss ich auf –
zu den anderen; dann wieder setzte ich mich ab, so dass man nach mir rief.
Ich erinnere mich nur an Weite & Leere auf diesem Weg; an fremde Menschen
erinnere ich mich nicht. Und dann waren wir
an einem Strand. Und die Milchkanne war fort.
Mein Vater besaß ein großes graues Schlauchboot, mit dem man
segeln konnte. Und in der Ferne sahen wir das weiße, spitzwinklige Tuch auf dem Meer. Winzig über der flirrend blendenden Oberfläche. Ich suchte glattgespülte Steine im klaren Wasser, und irgendwann sah ich
das Dreieck kippen. Mein Vater war ein guter Schwimmer. Also wurde gelacht.
Und ich sang: »Junge, komm bald wieder«. Dann wurde noch mehr gelacht.
Meer & Himmel in hellem Blau …. Wolken & Segel in leuchtendem Weiß ….
Und dies war die erste Schallplatte gewesen, die ich mir gewünscht & bekommen hatte. Das also war der Musikgeschmack des kleinen Fremden. ›Junge, komm bald wieder‹. Es könnte dem Erwachsenen fast peinlich sein, das zu erwähnen. Wenn er gedankenlos wäre.
›Ich schlich mich heimlich fort – als Mutter schlief.‹ Eine Zeile voller Sehnsucht & Grusel. Fort. Fort. Flucht. Einsamkeit. Fern von zu Hause. Und es war ganz still, und ich war allein in der nächtlichen Hotelhalle, und ich arbeitete am Empfang oder las vielleicht ein Buch, und dann legte ich die Arbeit oder das Buch beiseite, und
Freddy Quinn gab mir ein ordentliches Trinkgeld & sagte:
»Weil Sie so nett waren«; dabei hatte ich mich nur daran erinnert, was er beim
letzten Besuch, vor vielleicht 7 oder 8 Jahren, zum Frühstück geordert hatte,
das wunderte ihn offenbar, da er sich
an mich nicht erinnern konnte, und weil er ja nichts ahnte – von diesem Strand & meiner ersten Platte & dem kenternden Vater & dem Gelächter & meinem Gesang; und er konnte ja nichts ahnen von jenem späten Abend – als
der Vater in unser Zimmer kam, um Gute Nacht zu sagen…. Er hatte gerade einen Film mit Freddy Quinn gesehen, und er war gut gelaunt, sang selber ein Lied aus diesem Film & machte einen Witz, über den wir lange lachen mussten. Und als er den Raum verlassen hatte & es dunkel war, sagte derjenige meiner beiden Brüder, mit dem ich mir diesen Raum teilte & der oben im Etagenbett lag: »Warum hat er nicht immer so gute Laune?« Und das war ein Satz voller Traurigkeit; einer Traurigkeit, die wir beide spürten wie einen Schlag. Wie einen Schlag von vielen – während wir noch immer lächeln mussten. Und Freddy Quinn sagte: »Hat das Zimmer einen Fernseher? Ich brauche unbedingt einen Fernseher, um einschlafen zu können.« Natürlich hatte es einen Fernseher. Aber es ist lange her, und wer weiß, was für Hotels er schon gesehen hatte in seinem Leben. Dann sagte er »Gute Nacht« & fuhr mit dem Aufzug nach oben. Während ich hinunter ging
zum Strand. In meinem kindlichen Aufzug. Den kurzen Hosen. Den durchsichtigen
Strandschuhen aus Plastik. Die ich trug, weil ich es hasste, auf Steine zu treten. Steine, die spitz, und nicht glattgespült waren. Und dann war die Milchkanne gefüllt. Und schwer. Und schlenkerte nicht mehr. Und von dem Trinkgeld,
das Freddy Quinn mir gegeben hatte, kaufte ich mir
Schnaps & soff mich besinnungs- & erinnerungslos. Fix & Foxi.
Niemand kommt wieder.
Wie war ich auf diesen Weg gekommen?
Ich weiß es nicht.
Es gab ihn nicht. Nicht so.
Es gab ihn nicht – bis
ich mich an ihn erinnerte.
Er war – viele Wege.
Warum erinnerte ich mich – in dem Moment
als ich mich erinnerte?
Würde ich darüber nachdenken, würde ich
wohl darauf kommen. Aber
ich brauche es nicht
zu wissen. Nicht
zu wissen – auf meinem Weg
vom 100sten ins
1000ste.
1 Jahr
1 Jahr ohne Alkohol.
Was für ein Satz!
Und zunächst dachte ich:
Das gab es noch nie – seit
deinem 14. Lebensjahr….
Seit jenem Weihnachtsabend
nach dem Tod meines Vaters, als
mein Bruder, der gerade aus dem Knast entlassen worden war,
mir Gin mit O-Saft gab – &
ich mich verliebte.
In den Duft des Gins
& die spätere Frau meines Bruders.
Aber – das stimmt überhaupt nicht.
Schon lange vorher hatte es niemals
1 komplettes Jahr ohne Alkohol gegeben….
Ein Gläschen Sekt zu Silvester oder zu Geburtstagen….
ein Schlückchen Sliwowitz, das ich mir ab & an
aus der Hausbar meiner Eltern stibitzte (weil ich
Geruch, Geschmack & Wirkung so mochte; ich mochte
Pflaumen schon immer gerne) ….
Ach ja, und da war auch noch der Schluck Bier, den
ich aus dem Glas meines Vaters bekam – als der
eine seiner Geliebten besuchte (sie war Inhaberin einer Bar,
hatte lange schwarze Haare, sah südländisch aus, und
wenn ich länger darüber nachdenken würde, fiele mir vielleicht
auch ihr Name wieder ein…. Astrid?); jedenfalls saß ich auf dem Schoß
meines Vaters, nippte an dem Bier – & mochte es nicht. Was
ich mochte, war die Tatsache, dass er mir etwas davon abgab. Und
ich auf seinem Schoß saß. Und die hübsche Frau mich anlächelte.
Mit ihren großen dunklen Augen & ihren vollen Lippen.
Ich muss 5 oder 6 Jahre alt gewesen sein.
Später kamen die Dichter.
Allesamt Säufer. Jedenfalls diejenigen, die mir am meisten bedeuteten.
Trinken war auch eine Haltung. Eine Lebenseinstellung. Etwas,
das eine bestimmte Art von Kunst hervorbrachte; eine, die es
– ohne Exzess – so nicht gegeben hätte. Ja, sie waren Vorbilder.
In meiner Jugend. Und lange darüber hinaus. Aber
heute habe ich keine Vorbilder mehr. In keinem Bereich meines Lebens.
Ein sehr angenehmes Gefühl. Ich möchte nicht mehr jung sein.
Also: wann hatte ich zuletzt ein Jahr ohne Alkohol gehabt?
Ich weiß es nicht. Jedenfalls: vor über 45 Jahren.
Eigentlich bin ich mir nicht einmal sicher, ob es jetzt
exakt 1 Jahr ist….
Es war keine große Sache. Kein großer Schritt. Nichts Geplantes.
Ich hatte eine Erkältung & eine Nebenhöhlenentzündung,
pausierte deshalb mit Rauchen & Trinken….. & –
blieb einfach dabei.
Den Tag des letzten Schlucks, des letzten Zuges aus der Zigarre
habe ich mir nicht gemerkt. Nicht angestrichen im Kalender.
Den ich ohnehin nicht besitze.
Es war kein besonderer Tag.
Eigentlich.
Natürlich: der Genuss fehlt mir. Ab & an. Der Genuss
war immer die Hauptsache – im Grunde. Und sicherlich: die
Bratwurst schmeckt noch besser, wenn man ein Bier dazu trinkt (Ja,
ich glaube, sie hieß wirklich Astrid)…. Und
Pizza ohne Rotwein dazu konnte ich mir früher kaum vorstellen –
obwohl ich mir Vieles vorstellen konnte…. Aber
was soll’s! Ich komme klar. Und ich komme auch
ohne Betäubung klar – wenn es mir schlecht geht. Ich weiß,
dass ich nicht Maß halten kann. Zumindest nicht für lange Zeit.
Und es gibt andere Arten zu flüchten.
Vielleicht wäre das Trinken gut fürs Schreiben? Kann sein.
Egal.
An meinem rechten großen Zeh kann man immer noch sehen,
wo ich mich verletzt habe – als ich mich im Suff
aufs Maul legte….. Und es anfing
zu bluten. Mal wieder.
Doch nach & nach
verschwindet auch diese Spur.
Verflüchtigt sich
wie Alkohol.
Das Geräusch der Diele
Ich weiß nicht,
wie oft ich bereits über diesen Flur gegangen bin;
leise in zurückliegenden Nächten ….
Ein Rundgang, der zu meinem Job gehört,
hoch oben im Turm des alten Hotels.
Die Stufen, die dorthin führen,
habe ich nie gezählt.
Wenige Zimmer hinter Doppeltüren,
wo fremde Menschen schlafen
oder schlaflos sind;
dicke Mauern einer mittelalterlichen Befestigung,
welche nun einem anderen, friedlichen Zweck dienen.
Und dann
eines Nachts
steht ein Kinderwagen vor einer der Türen.
Ich muss ausweichen.
Abkommen
von meinem üblichen Weg.
Trete auf eine Diele
ganz am Rande des schmalen Ganges.
Und das Geräusch, das sie verursacht, ist
das Geräusch im Gästezimmer meiner Großeltern ….
Das Knarren, Knetern & Knarzen des federnden Fußbodens,
wenn ich mich auf das Bett zubewegte …. Das Bett,
welches mir so hoch erschien; mit der Decke, die so
dick & schwer war …. Und wenn ich darin lag, kam mir
die Zimmerdecke noch höher vor (ich schätzte die Höhe auf 4 oder 5 Meter) ….
Alles – fast alles – war gigantisch in diesem Haus
im Angesicht meiner Kleinheit ….
Die Räume, die Treppen, die Flure; alles war alt &
roch nach Holz, und an den Wohnungstüren befanden sich
mechanische Klingeln, die durch Drehung eines Griffes
einen metallisch-ratternden Schellenklang von sich gaben ….
Es lebten noch andere Menschen hier, glaubte ich, aber
ich sah sie nie …. Ich konnte sie riechen, glaubte ich,
im Gemeinschaftsklo auf dem Treppenabsatz …. Ich hasste dieses Klo ….
Hasste das Gemeinschaftliche daran; nur die lange Kette, die vom
Spülkasten herabhing, und der Porzellangriff an ihrem Ende faszinierten mich ….
Und oft hörte ich das Rauschen, nachts im Bett …. Nachts? – Ich glaubte,
dass es Nacht sei …. weil in der Kindheit oftmals das als Nacht erscheint, was
in Wirklichkeit doch nur Abend ist …. Das Rauschen
übertönte die Stimmen der Großeltern im Wohnzimmer, die Stimme der Mutter, die
noch nicht »Gute Nacht« gesagt hatte …. & die große Entfernung zur Zimmerdecke
gebar schattige Ungeheuer, vor denen die Bettdecke keinerlei Schutz bot ….
In meiner Erinnerung schien hier tagsüber immer die Sonne ….
Im Hof hinterm Haus befand sich der Schuppen mit der Werkstatt meines Großvaters.
Darin roch es nach Sägemehl & Klebstoff & den filterlosen ägyptischen Zigaretten
aus der Blechdose, die mein Großvater rauchte, und
das Sonnenlicht mochte ich am liebsten, wenn es
durch die schmutzigen kleinen Fensterscheiben auf die Werkbank mit ihrer
Unordnung fiel …. Keine Ahnung, was mein Großvater dort machte, ich jedenfalls
bastelte irgend etwas Zweckloses ….
Zweck
loses
Sinn
loses
der-
weil
die Zeit
verging ….
Und das Haus
schrumpfte ….
Während
ich
wuchs ….
Ob es eingerissen wurde; ob selbst meinen Großeltern alles
zu groß geworden war; ob sie es sich nicht mehr leisten konnten –
ich weiß es nicht.
Sie zogen in eine winzige Wohnung.
Sie waren so alt geworden
wie nie zuvor, obwohl ich sie schon
für so alt gehalten hatte, als ich
noch ganz klein & alle Räume größer gewesen waren.
Es gab dort kein Gästezimmer mehr. Die Klingel war elektrisch &
langweilig. Das Klo wurde nicht mehr mit Fremden geteilt.
Wenige Möbel waren übriggeblieben; alles roch
nach alten Menschen & den Zigarren, die mein Großvater
nur etappenweise & anstelle der Zigaretten rauchte
(in den Aschenbechern lagen Reste:
mal halblang, mal viertellang, manchmal nur ein Stummel, der aus
Sparsamkeit noch weiter, bis knapp über Fingerbreite, heruntergequalmt wurde).
Nichts übertönte die gebrochenen Stimmen des Paares
in der Enge. Nichts Neues wurde erschaffen, denn es gab
keine Werkstatt mehr.
Genaugenommen wusste & weiß ich
fast nichts
über meine Großeltern
& ihr Leben.
In meinem Wohnzimmer steht ihr mächtiges Sofa, und
das Grammophon funktioniert noch. Die Sprungfedern des Sofas
haben ihr eigenes Geräusch, und manchmal erschreckt mich
– mitten in der Musik – ein lauter Knall, den die alte
Grammophonfeder von sich gibt (während sie sich entspannt).
Und irgendwo im Keller liegt eine Zigarrenkiste, in der
hässliche Nazi-Memorabilien verschimmeln.
Ein Kinderwagen auf dem Gang.
Leer. Der kleine Mensch schläft (vermutlich).
In einem Turmzimmer mit hoher Decke.
In einem uralten Gebäude.
Ich gehe weiter.
Knarren, Knetern & Knarzen verändern sich
mit jedem Schritt.
Morgen wird das Hindernis
nicht mehr hier sein.
Das Hindernis, dem ich
ausweichen musste.
Und er
wird sich
bewusst
nicht
an diesen Ort
erinnern ….
Der kleine Mensch.
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