Monatsarchiv: Juni 2020

Ein Stück Erinnerung

Seit sie mir die Pistole weggenommen haben,
besitze ich nichts mehr, um
mir bei Kopfschmerz die Schläfen zu kühlen.

Sie war ein Erinnerungsstück.
Aus der Sammlung meines Vaters.
Alle Erinnerungen

hätte man damit beenden können.
Man hat sie mir nicht weggenommen –
die Erinnerungen. Doch

der Kopfschmerz wurde schwächer,
als mein Vater starb. Ganz
verschwinden wird er nie.


Auf irgendwas wartet man ja immer

Daß ich ein Genie bin,
fällt zu Hause niemandem auf.

Nur mir natürlich. Zuweilen.
Ich sitze da so rum,
meine Freundin fragt: »Was

machst du heute?«, und
meine Antwort lautet:
»Aufs Kacken warten.«
Dieses Gedicht wiederholt sich

alle 2 Tage. Ich lege großen Wert
auf geregelten Stuhlgang. (Aber
bitte nicht jeden Tag; es
täte mir um die Zeit zu leid
& würde mich emotional

zu sehr mitnehmen.)
Man muß warten können, bis
einem etwas auffällt – einfällt –
rausfällt – da fällt mir ein,
daß Adorno einmal in einem Gespräch sagte,
Beckett habe der Begriff des Fallens in

der deutschen Redewendung der Fall sein, so sehr
gefallen. Als dies Gespräch vor etwa 40 Jahren
von meinem Rundfunkempfänger empfangen wurde,
war es schon 15 Jahre alt & Adorno so tot wie
Tilla Durieux. Alle, die da fallen. Was uns zu Effi Briest führt…..
Oder führen könnte. Doch lassen wir die weiten, von schwarzen Mönchen
bevölkerten Felder der Assoziation ruhen im milden Glanz der Abendsonne.

Immer wenn niemandem etwas auffällt, herrscht
Ruhe. Ich betrachte die
Ordnung der Gedanken
Nicht (als) zufällig.
Im Augenblick der Entspannung könnte ein
Sonett entstehen.
Crazy door of the jakes!
Heute geht irgendwie alles durcheinander…..

Verdammt & aufgetrennt! (Schnell ein Gedicht
von Günter Grass lesen; dann weiß ich wieder, wie gut
ich bin.) Worauf ich eigentlich hinauswollte,
war ja ich. »Wie immer«, würde meine Freundin sagen.
Wir lieben unsere Rituale. Und übermorgen
wird sie mich wieder fragen: »Was machst du
heute?« Und vielleicht werde ich dann antworten:
»DEATH HAS TWELVE WINGS LIKE THE ANGEL OF HELL!«
Aber wahrscheinlich

ist das nicht.


Das schwebende Buch

Nachts trage ich meine Tarnkappe,
damit, falls niemand herein kommt,
er denkt, auch ich sei nicht da.

Es schwebt ein Buch
über dem Kanapee,
und niemand fragt sich,

warum das so ist.
Hätte er mich gefragt,
würde ich ihm geantwortet haben.

Vielleicht wäre ein Gespräch entstanden.
So haben wir alle
noch mal Glück gehabt.


Mond mit eigenem Licht

Sie scheint
Wenn alles dunkel ist
Wie ein Mond
Mit eigenem Licht

Und niemals gewöhnt man sich
So sehr an den Mond
Dass man seine Schönheit nicht
Mehr wahrnähme

Schon gar nicht an diesen
Der nicht nur reflektiert
& der die Sonne nicht braucht
Um zu leuchten

Es klingt wie ein Rätsel
Ist aber keins

Sie scheint
Mich zu lieben


Meine kleine Sanduhr

Meine kleine Sanduhr steht
in meinen Armen.
Sie spiegelt sich nackt
im Fenster, weil

der Rolladen geschlossen ist.
Im Tageslicht wäre ihr Abbild
geisterhaft – so als hielte ich
ein Wunschbild

fest. Ganz fest.
Rücken, Taille, Hüfte –
die Zeit vergeht,
während sie steht.

Jedes Korn ein Bruchteil
eines Augenblicks.
Ich fasse, begreife, halte ihn
fest, fest. Fest.


Niemals

Ich kenne niemanden,
Der so lebt wie ich.
Aber wie sollte ich auch
Jemanden meiner Art kennen,

Da es zu meinem Leben gehört,
Niemanden kennenzulernen,
Und er, wäre er wie ich,
Mich nicht kennenlernen könnte?

Wo ist er?
Es ist mir egal.
Wo bin ich?
Es interessiert ihn kein bißchen.

So gingen wir unserer Wege,
würden wir nicht lieber
zu Hause bleiben & auf
Der Chaiselongue liegen –

Lesend, allein & niemanden
Hereinlassend, nicht einmal
Ihn & mich, die wir niemals
vor unseren Türen stehen werden.


Virus

Man liegt vor dem Fernseher
(nur im Schlafzimmer hat er eine Daseinsberechtigung),
und schaut kurz nach, ob
die Menschheit sich endlich ausgerottet hat
und man nun doch noch ein bisschen Ruhe bekommt,
bevor einem das Klopapier ausgeht
und einen der Hunger in fremde Häuser treibt.

Nein. Sie machen immer noch Lärm.
Sind immer noch blöd,
werden immer ungebildeter,
proletenhafter, hassenswerter.

Es ist mal wieder ein Virus unterwegs.
Der kann einem leidtun, wenn man sich vorstellt,
wen der so alles bewohnen muss.
Seine auffälligste Nebenwirkung ist,
dass er die Geistlosigkeit der Nicht-Infizierten hervorhebt.

Es wird gestorben, der Planet atmet durch,
aber alles in Maßen. Die menschliche Maßlosigkeit
ist nicht gefährdet. Die Dummheit erfährt
keine nennenswerten Einbußen.

Man liegt vor dem Fernseher
und schaltet ab.
Na ja –
vielleicht beim nächsten Mal.


Ruhig, ganz ruhig

Als ich geboren wurde, waren alle schon tot.
Alle, die tot sein durften, weil sie gestorben waren,
bevor ich geboren wurde. Vielleicht waren sie auch
immer schon tot gewesen. Wie kann es sein,
dass diejenigen sterben, die zu meiner Zeit lebten,
und an die ich mich erinnere? Da ist etwas
falsch. Grundlegend falsch. Der Mensch auf dem Foto
soll nicht mehr existieren? Wie kann das sein?
Nur noch vergrabener Dreck? Für immer
verschwunden. Stimmlos. Atemlos.
Er hatte doch so jung ausgesehen,
bevor er alt wurde – wie ist das möglich?
Ich habe noch seine Stimme im Ohr.
Neben all den anderen Stimmen.

Ruhig, ganz ruhig.

Ich BIN ruhig. Nur sie sind es nicht.
Auf diesem Foto packt er seinen Koffer.
Er will verreisen. Dann kann er doch nicht tot sein.
Man kann nicht verreisen, wenn man tot ist. Oder?
Er ist noch nicht da gewesen, wo er hin wollte,
also muss er doch da sein. Der Koffer ist ja auch
noch gar nicht geschlossen.

Wo wollte er denn hin?

Ich weiß es nicht.

Dann war er vielleicht doch schon da.

Wieso DANN ? Was hat das mit mir zu tun?
Nur weil ich etwas nicht weiß, soll es stattgefunden haben?
Wo ist denn da die Logik?

Wie tot er ist, seit er nicht mehr lebt.
Man kann nicht so tot sein;
also müsste man doch leben.

Ruhig, ganz ruhig. Mit manchem muss man sich abfinden.

Abfinden! Das ist auch so ein Wort.
Die Abfindung. Mir hat noch keiner etwas dafür gegeben,
dass einer nicht mehr da ist. Und wenn, würde ich es
nicht annehmen. Ich würde es nicht haben wollen.
Hoffentlich hat er sein Nackenkissen nicht vergessen.
Ich sehe es gar nicht in dem Koffer. Er bekommt
doch so schnell Nackenschmerzen. Einmal
konnte er kaum aufstehen vor lauter Schmerz.
Aber das ist lange her.
Er ist noch oft aufgestanden danach.
Wahrscheinlich steht er morgen auch wieder auf.
Wir können ja gar nicht anders. Wir müssen
aufstehen. Weil wir nicht immer liegenbleiben können.
So ist es doch. Oder?

Ja.

Wenn er nur nicht seinen Zug verpasst.
Er hält so lange inne. Er sollte endlich
weiter packen. Hoffentlich ist er nicht zu erschöpft.
Dann müsste er sich ausruhen. Vielleicht
wartet der Zug ja auch auf ihn. Er hat so oft
den Zug genommen, dass der auch mal auf ihn
warten könnte. Er hat so oft den Zug genommen,
dass ich manchmal dachte, ohne ihn kann
ein Zug gar nicht fahren. Er hatte ja
Flugangst. Er konnte nicht fliegen. Er meinte,
er würde abstürzen. Dabei sind doch immer nur
Flugzeuge abgestürzt, in denen er NICHT war.
Wenn er sich das klargemacht hätte, hätte er
fliegen können. Aber Logik war seine
schwache Seite. Da konnte man reden,
wie man wollte. Er verstand einen einfach
nicht. Na ja. Egal.

Haben Sie nur dieses eine Foto?

Sehen Sie bloß – wie ruhig er atmet. Man sieht es
kaum. Nur wenn man ganz genau hinschaut, kann man es
sehen. Man muss immer ganz genau hinschauen.
Sonst verpasst man, worauf es ankommt.
Wenn man natürlich nicht weiß, worauf es ankommt,
kann man es auch nicht sehen; da kann man
schauen, so lange man will, man sieht es nicht.

Das stimmt.

Als ich geboren wurde, gab es nur Lebendiges
um mich herum. Das war schön.

Das ist doch immer noch so.
Oder sehen Sie die Toten?

Woher soll ich das wissen?
Ich weiß es nicht.
Vielleicht sehe ich sie.
Sind Sie tot?

Nein. Ruhig, ganz ruhig.

Ich BIN ruhig. So wie er.
Ich will nicht unruhiger sein
als er. Es ist schön,
wie ruhig er ist.

Ja.

Danke. Es war nett mit Ihnen zu plaudern,
aber ich muss jetzt auch meinen Koffer packen,
sonst verpassen wir doch noch den Zug.
Der wartet nämlich nicht auf uns.

Sie haben recht.
Ich werde Sie begleiten.


Unsichtbar

Der Nichtschwimmer blickt auf das Meer,
beobachtet die Wellen,
lauscht dem Rauschen.
Riecht das Salz.

Er weiß nicht, ob
er die Berührung des Wassers vermisst.
Er denkt an den Untergang und manchmal
an seine Rettung.

Dann fragt er sich, wie
ein Nichtschwimmer ihn sollte retten können.
Die Hilfe eines Schwimmers
würde er ablehnen.

Der Nichtschwimmer blickt auf
das Meer und lächelt.
Das Meer ist voll von Seinesgleichen –
aber niemand kann sie sehen.

Das macht ihn froh.


Ausstellung

An manchen Tagen
Rinnt das Sonnenlicht in
Sämtliche Ritzen, und die Möwen lärmen im
Chor, während der Sand
Heiß in Zwischenräume dringt
Zehen graben sich ein
Es rauscht in den Ohren, rauscht
In brunstprallen Schwellkörpern
Geblendet sind die Augenblicke, und die
Einsamkeit steigert die Triebe in Todesnähe
Ruhelos zählt man die Tropfen auf fremder Haut
Immer wieder, immer wieder
Nur selten geht die Rechnung auf, und
Nachts leuchten die Monde in der Erinnerung
Es scheint kein Ende zu nehmen
Nie nie niemals


Nicht nur ein Name

Tod, Zeit, Vergänglichkeit
Haben keine Macht
Ohne das Vergessen
Manchmal kehre ich zurück
Aus der Gegenwart und
Suche mich in der Erinnerung

Mit dem Vertrauten meiner Jugend
Alte Geschichten bewohnend
Nähere ich mich den Anfängen
Nicht zum letzen Mal


Draußen

Ja. Natürlich. Selbstverständlich. Da muss doch einfach
Jeder vernünftige Mensch, Jeder gute Mensch, Jeder
Gutwillige zustimmen. Ja, also, wer DA sein Herzchen
nicht druntersetzt, sein Sternchen oder was auch immer,
vielleicht ein Smiley oder DaumenHoch – Dem
ist doch nicht mehr zu helfen. Der ist wohl dagegen,
Der steht vermutlich auf der falschen Seite, Der
ist schlecht, durch & durch schlecht. Politisch
völlig unakzeptabel.

Ich weiß: auch ich könnte mich beliebt machen,
auf jene Weise, die ebenso erfolgversprechend wie billig ist.
Ich verstehe die Mechanismen, verstehe,
wie simpel die Menschen geklöppelt sind,
wie leicht man die Herden mit ein bisschen Gebell dahin treiben kann,
wo man sie haben will – zum Liken, Favorisieren,
Retweeten, Rebloggen. Wuff! Wuff! Man muss
schreiben, wie SIE denken, muss ausdrücken,
was sie glauben, denken zu sollen, um als gut zu gelten.
Die Meinungen, die ich meine, SIND ja gut, ich habe sie
selber. Selbstverständlich. Nur:

Jede, einfach JEDE Art, Spielart, Unart von »Populismus«
ekelt mich zutiefst an. Sie ist mir fast schon konstitutionell widerwärtig.
Sie widersteht mir, ich widerstehe ihr.
Ich spüre es im Magen. Sofort –
das Maschenhafte, das Fabrikmäßige der Aussagen,
die Gemeinplätze, die einladen sollen
zum gemütlichen Schunkeln & Mitklatschen;
da werden die weißen Fahnen der Politischen Korrektheit geschwenkt,
während die Stars der Anständigkeit einen Schlager nach dem anderen
in die verschmalzten Ohren der Menge applizieren. Applaus, Applaus!
Ich KANN da nicht tun, was nahezu jeder Wohlgesinnte & Gutwillige
gerne & herzhaft tut – nämlich Liken, Favorisieren, Retweeten, Rebloggen.
Ich kann nicht mit-tun. Mein Kopf ist nicht herzhaft. Doch es ist, als
müsste ich nicht einmal wissen, bloß fühlen, dass
jede Masse die Tendenz zum Schlechten in sich trägt,
selbst wenn sie im Moment gut sein mag. Sie kann immer kippen,
umschwenken, sich drehen, gesteuert werden: die Masse.
Die träge, wabernde, dumpfe Masse. Aus Angst, aus Dummheit,
aus Sehnsucht nach dem Gemeinschaftsgefühl, das
die Einsamkeit des Einzelnen mit der Kuscheldecke der simpelsten Parolen
verhüllen soll. Und es ist wie im alltäglichen Gespräch,
das auch immer platter wird, je mehr Menschen daran teilnehmen.

Nein.

Man lasse mich einfach stehen,
wo ich immer gestanden habe:
Draußen. Entfernt
vom Pulk.

Auf beruhigende Weise erfolglos.
Beobachtend. Und
hin & wieder den Kopf
mit ganzem Herzen schüttelnd.


Still & weich

»Ihr Gedicht ist recht ansprechend«,
sagte Einer.

Ich sagte: »Es tut mir leid,
wenn es Sie belästigt hat.

Ich schärfe meinen Texten regelmäßig ein:
›Haltet die Schnauze! Keiner

interessiert sich für Euch. Sprecht
Niemanden an; das gehört sich nicht.‹«

Wenn Blicke einen einliefern könnten,
wäre es jetzt sehr still um mich herum,

und die Wände wären wunderbar weich.


Die Schwalbe

Mitten auf der Autobahn: ein toter
Vogel: eine Schwalbe, glaube ich.
Ich kann mich aber auch irren
bei 130 km/h. Sonst nicht

natürlich. Ich rase
vorbei. Die macht
nie wieder keinen Sommer,
denke ich. Und setze

die dunkle Brille auf.


Falls Sie sich wundern

Nein, nicht nur junge Frauen
gehen an meinen Fenstern vorüber.

Aber was da sonst so läuft
ist der schriftlichen Rede weniger wehrt.

Da kriegt man keine Lust
die Feder zu ergreifen

& in Diminutiven zu schwelgen
wie in einer Schublade voll duftender Höschen.

Da fährt der Bauer auf dem Trecker,
dass es stinkt & kracht,

tumbe Visagen
spotten jeglicher Beschreibung,

der Nachbar sägt
in seinem Spießergarten,

und die Mutter schiebt ihr drittes Kind
auf quietschenden Rädern vor sich her.

Nee nee, ich schau auch gar nicht
oft ausm Fenster, aber wenn –

dann lasst mich bitte
(einen Augenblick lang) glücklich sein.

Ein kurzes Röckchen
in goldenem Licht,
mit Grazie getragen,
mehr brauch ich nicht.


Sklaven

Man bedient das Smartphone.
Wie ein Sklave.
Als wäre es smarter als man selbst.
Was man im Griff hat – buchstäblich -,
hat einen im Griff – figürlich.

Ich war mal wieder beim Abwasch
(bekanntlich spüle ich gerne Geschirr).
Und wieder ging eine junge Frau am Fenster vorüber
(das macht diese Tätigkeit beinahe regelmäßig
noch attraktiver). Ihr Blick:
ins Display gesaugt (ein Brontosaurus auf einem Elektroroller
hätte an ihr vorbeifahren können, sie
würde ihn wohl kaum bemerkt haben).
Plötzlich hielt sie
inne. Stoppte, stand, starrte.
Halt, Sklavin! Beachte mich!
[War sie auf meine Seite gestoßen, las sie
meine Texte? Nagelte mein Esprit
sie aufs Trottoir? hahaha!]
Es hat doch Vieles sein Gutes –
mir blieb Zeit, zu betrachten.
Die schlanke Silhouette, die enge enge Hose (keine kurze
diesmal), der brünette Pferdeschwanz, in sanft nachschwingender
Bewegung…… (Eine Vogelspinne
hätte auf dem Teller in der Spüle tanzen können,
ich würde sie wohl kaum bemerkt haben.)
Was ich sah, gefiel mir
buchstäblich figürlich.
Halt, Sklave! Beachte mich!
Als wären ihr halbierte Globen ins Beinkleid gerutscht.
Hemisphären, Welten, Halbwelten.
Wenn man sie doch begreifen könnte!

Die Triebe.
Ja, die Triebe.
Gefesselte Aufmerksamkeit.
Ablenkung vom Wesentlichen –

Wo war ich stehengeblieben?
Ach ja, sie ging weiter.
Da war wohl was zu Ende gegangen.
Und man kann sich auch gar nicht mehr so lange
konzentrieren heutzutage.

Schau an! Da
war noch ein Fettspritzer
auf dem Pfannenwender, den
hatte ich übersehen.


Die Differenz

Wie oft ich schon gestorben bin
in ihren Träumen, weiß ich nicht.
Auch nicht woran & wie.
Ich frage nicht,
wenn meine Schulter nass wird
und sie mich so sehr drückt,
als wolle sie das Leben
in mir festhalten
& versiegeln
für immer.

Ich mag mein Alter,
ich mag ihr Alter –
und die Differenz dazwischen.
Aber die Wahrscheinlichkeit,
von der sie träumt, würde ich
ihr gern ersparen.
»Ich kann hier nicht bleiben – «
sagt sie. » – dann.« Mehr
sagt sie nicht.
Ich versuche, mir vorzustellen,
wie es wäre,
hier ohne mich zu leben.
Ich kann es nicht.

Ich bliebe gerne da,
wenn ihre Träume wahr werden.
Unsichtbar, nur um zu sehen,
dass es ihr gut geht. Doch
auch das kann ich nicht.

So lange
halten wir uns fest –
als hätten wir die Hoffnung,
dass so – und nur so –
niemand zurückbleibt.


Es ist wohl nicht zu ändern

Man könnte auch mal beachtet
werden, solange man da ist.

Doch erst wenn man geht,
kommt die Aufmerksamkeit.

Wo ist er hin,
warum ist sie nicht hier?

Man hatte sich gewöhnt
& wird sich wieder gewöhnen.

Es ist wohl traurig,
aber nur für kurze Zeit

zu ändern.


Das merkt man

Manche Menschen schreiben gern.
Und dann schreiben sie,
weil sie gerne schreiben.

Das merkt man.
Nichts treibt sie, als sie selbst.
Manche werden berühmt damit.

Dann reden sie
im Fernsehen, weil sie gern
im Fernsehen reden.

Das merkt man.
Manchmal bekommen sie einen Preis.
Dann halten sie eine Rede,

die sie vorher geschrieben haben.
Sie schreiben gern,
sie reden gern —

Das merkt man.
Was sagt uns das Alles?
Nichts.


Abgründe

Abgründe tun sich auf,
in denen man verschwindet.
Fort für alle andren,
mit sich allein – zusammen.

 

 

 

Abgründe tun sich auf
und schließen sich wie Wunden.
Narben in der Erinnerung,
die man manchmal vergisst.


Eisberg

Na, Ihr Eisbergspitzenlutscher!
Wieder was gelesen, was Ihr glaubt,
sofort verstanden zu haben?

Ohne Mühe, stimmt’s?
Wie ist die Luft da oben?
Schmeckt’s? Wenn

Euch die Zunge einfröre,
sie am Eise kleben bliebe,
müsstet Ihr schweigen –

das wäre schön.


Der seltene Name

Ich gab dem Mädchen
einen seltenen Namen.
Dem Wesen in meiner Geschichte.

Ich kannte keines,
das so hieß,
drum hatt ich’s – zu erschaffen.

Das Mädchen mit den Narben
Gedanken Strich Gedanken Strich
Wie kam ich auf den Namen?

Ich weiß es, doch
ich sag es nicht. Nein,
kein Zufall. Natürlich nicht.

Jahre vergingen, andre Namen
zogen vorüber. Novembernächte,
Gewitter & gelbliches Mondlicht.

Dann klingelte es
an meiner Tür – – Ich stolperte wie’n freier
Vers. Ding Pause Dong! — »Na.«

Sie hieß wie das Mädchen
In der Erzählung, die sie nicht kannte.
Narben hatte sie auch.
Aber einen Anorak trug sie nicht.

Ich gab dem Mädchen
einen seltenen Namen.
Dem Wesen meiner Geschichte.

Ich kannte keines,
das so hieß,
darum musste es erst klingeln.

Das Ding – 1 Dong! (= 10.000 Hot)
Die Klinke ergriffen
und alles offen

Ein zaudernder Blick
Das Beste hoffen —

Anis mag sie nicht riechen.
Nachts sehen wir Schwarzweißes im Farbfernseher.
In manchen Gedichten kann man sie sichten.
Spiegelbildlich. Seitenrichtig.

Und alle Uhren zeigen EINE Zeit.
Ninna Nanna in Blu –

 

– – – – – – – – – – –

 

Das Mädchen mit den Gedankenstrichen