Monatsarchiv: Oktober 2011

Weg mit dem Dreck!

Ich will Euch langweilen langweilen langweilen
so – wie Ihr mich langweilt!
All diese Gedichte –
ein einziger Dreck – & je gereimter, desto
dreckiger!
Als ob diese ganze Scheisse, die wir verzapfen,
aufgehen könnte! Nichts geht auf! Weil
wir nicht rechnen können –
weil wir uns ständig verrechnen; weil
die Welt uns über ist – weil

Ach, scheiss drauf!
Irgendwann werde ich alles löschen
& alles verbrennen …….

Und dann könnt Ihr von vorne anfangen,
mich zu langweilen –

& ich werde Euch
zu Tode langweilen!


Wer rennt

Während ich mich
an den Horror erinnere, erfinde ich
Witze

denn ich liebe es
laut zu lachen
im Vergessen

der Erinnerung


In der U-Bahn

Wir lachten in der U-Bahn &
schauten aus den Fenstern
in die Fremde

Und 3 Wochen später
schauten wir in den Fernseher
& sahen
dass Fremde gestorben waren

auf der selben Strecke
die wir belacht hatten
in unserem Glück

da wir die
Bomben der Zukunft
nicht ahnten


Selbst

Ich kann tun, was ich nicht will !
Ich kann tun, was ich will !
Kunst kommt von Du cunst mich mal!
Ich scheisse auf den kleinsten Haufen
oder auf den größten, wenn es mir beliebt –
Ich treibe Spinnen in den Wahnsinn, bis
sie mir ihre Netze schenken.
Ich schreie solange Es ist mir egal!!!, bis
es mir egal ist …….. 88
Das Blech, das ich rede, ist
meine Rüstung – ich
schmiede sie mit dem
Hexenhammer ………….
Verbrennt! Verbrennt!
Auf dem Haufen Eures Scheiterns …..
Ich huste Blut in die Glut, bis
die Flammen in den Nachthimmel züngeln –
Das All ist mir egal
denn ich kann tun
was ich will!

Selbst
wenn ich es nicht will


Da war er wieder

2 Kettensägen … Lärm … geschrieene Kommandos …
Schlaflosigkeit …
1 Baum, viele Jahrzehnte alt & alles überragend,
knarrrrzte, wankte, neigte sich – – – &
krachte zu Boden – !!!

Sie hatten ganz gut gezielt, die
Mörder; aber nicht gut genug.
Im Sterben nahm der Baum ein Stück von
meiner Gartenmauer mit.

Als die Mörder klingeln wollten,
hatte ich meine Klingel längst abgestellt.

Aber irgendwann
erwischten sie mich doch.

„Es tut uns so leid. Natürlich regeln wir
das alles über unsere Versicherung.“

Ich sah mir den Schaden an.
„Sieht eigentlich ganz interessant aus“,
sagte ich, „weniger langweilig als vorher.
Ein Denkmal für den Baum.
Belassen wir’s dabei.“

Und da war er wieder –
: Der fragende Blick, den ich so gut kannte.

Und die Frage lautete :
„Was ist denn das für ein Irrer?“


Das Taschentuch

Du bist verloren
wie das Taschentuch, das Dir aus der
zitternden Hand fiel

Ich hebe es auf
für Dich
& mache einen Knoten hinein

damit Du
Dich nicht vergisst


Es sind doch nur …..

Es sind doch nur Worte.
Worte, die mir aus der Tasche fallen,
wenn ich stolpere.
Kein Grund, mich zu mögen,
kein Grund, mich festzuhalten;
kein Grund für irgendwas.
Und wenn ich am Boden liege,
purzeln noch weitere Worte
aus meiner Tasche.
Keine Ahnung, wie sie da
hineingekommen sind.
Es ist mir auch egal.
Es sind doch nur Worte.
Kein Grund für
irgendwas.

 

(Inwendig vorgetragen:)


Lesezeichen

Ich möchte
meine Lesezeichen in Deine Seiten stecken

Dort
wo Deine Worte am schönsten sind
Dort
wo Dein Schweigen am schönsten ist
Dort
wo Du etwas vergessen hast
Dort
wo Du mich erinnerst
Dort
wo Deine Hoffnungen sind
Dort
wo Deine Angst ist
Dort
wo ich nichts mehr verstehe

Ich möchte
meine Lesezeichen in Deine Seiten stecken

Vielleicht hast Du
mehr Seiten, als ich Lesezeichen habe

Vielleicht habe ich
mehr Lesezeichen, als Du Seiten hast

Vielleicht aber
geht die Rechnung auf

& vielleicht
brauche ich keine Lesezeichen

weil ich Dich
auswendig kenne


Abblätterungen

Ich liebe es, wenn
der Lack von Türen abblättert

wenn Tore
verrosten

& Eingänge
von Unkraut überwuchert werden

Ich liebe den
Ver
Fall

Die Löcher
im Laken

durch die man
blicken kann

Ich liebe
verwelkte Blätter
im Abfluss

& ihren Geruch

Ich liebe den Staub auf dem
Kopfschnitt alter Bücher

& ihre Gedanken
die wie Staub
zerfallen


Die Würgeschlange

Der Schock raubte ihr die Stimme.
Sie wurde stumm durch den letzten Schock
in einer langen Kette von Schocks;
eine Kette, die sich wie eine
Würgeschlange um ihre Kehle wand
& langsam sich zusammenzog.

Und ich hatte ihre Stimme geliebt.

Und ich würde die Stimme immer noch lieben,
wäre sie noch immer da …..

Wörter werden auf Zettel geschrieben;
ich lese die Zettel, stumm – & ich
versuche die Worte zu hören mit der Stimme
in meiner Erinnerung. Aber
irgendwann wird auch die Erinnerung
verstummen –
& nur die Zeichen werden bleiben,

falls die Schlange überlebt.


Einflüsse

Je älter ich werde, desto
weniger Bücher lese ich;
desto weniger Filme sehe ich;
desto
weniger weniger weniger.

Weg mit den Einflüssen!
Weg mit den fremden Gedanken!

Aber es ist zu spät.
In meinem Kopf: der zähe, fremde Brei der
Vergangenheit, und was ich davon
verdrängt habe, halte ich
vielleicht sogar
am Ende,
wenn es wieder erscheint,
für mein Eigentum.

Ein Dieb, der nicht weiss,
dass er ein Dieb ist …..

Wie jämmerlich!

 

(Inwendig vorgetragen:)


Ellenbogen

Ellenbogen altern am schnellsten.
Dein Gesicht mag jugendlich scheinen;
aber deine Ellenbogen verraten dich – :
Gefuchtel der Arme …
Kämpfe …
Schläge …
Umarmungen …
Stöße im Alltag …
Überleben …
Ellenbogen altern am schnellsten.
Weil Arme sich bewegen.
Gesichter können versteinern,
jung & ausdruckslos & stumm;
aber Ellenbogen sprechen
die Wahrheit.
Man sieht ihre Sorgenfalten;
man sieht ihre Zärtlichkeit;
man sieht in ihren Falten
vergangenes Leben.


21.10.2011

Ich komme nicht mehr raus aus diesem Gebäude … Die Tür … sie ist nicht mehr da … Die Fenster … sie sind verschwunden … Es ist fast dunkel … Ein paar nackte Glühbirnen hängen verstaubt auf den Etagen … So viele Stockwerke … Wieviele? Ich habe es vergessen … Die Treppen sind schmutzig, die Stufen ausgetreten … Geländerteile fehlen … So viele Räume … Ich sitze im Erdgeschoss, in einem Zimmer, wo es nur 1 Stuhl & 1 Tisch gibt … Papier & 1 letzter Bleistiftstummel … Es ist völlig sinnlos, etwas zu schreiben – deshalb tue ich es … noch … Überall Dreck … Spinnweben, manche Fäden sind dick wie Seile … Ich weiß, was das bedeutet … Aber ich will es nicht … wahr? haben? … Ich kann mich erinnern, wie es hier früher war … Die offene Tür, die offenen Fenster, Luft, Licht, Leben, Lachen, Lust … Nichts davon ist übriggeblieben … Mir zittern die Hände … Meine Handschrift ist fast unleserlich, na und? Wer sollte sie entziffern wollen? Einer von Denen? … Denen in den oberen Stockwerken? … Manchmal höre ich ihre Geräusche, sie sind noch da … Ich könnte nachschauen, wie sie jetzt aussehen, könnte die Treppen hinaufsteigen … Vielleicht werde ich es tun … Irgendwann … Bald … Vielleicht schon nachher … Vielleicht schon gleich … Ist es Tag? Ist es Nacht? … Egal … Die Vorräte im Keller gehen zu Ende … In Kürze ist ohnehin alles vorbei … Ein paar Flaschen Schnaps sind noch da, billiger Fusel … abgefüllte Betäubung … Es wird schön sein, nicht mehr zu denken … Es wird schön sein, wenn der Bleistift am Ende ist … Wann war ich zuletzt dort oben? … Mein Zeitgefühl sagt irgendwas, aber es wird eine Lüge sein … Ich war dort oben, und wenn ich jemanden sah, habe ich ihn nicht wiedererkannt … Und dabei kannte ich sie doch irgendwann einmal alle … Diese seltsamen Wesen! … Menschen! … Menschen aus der Vergangenheit … Menschen, die wie Spinnen sind … Ich irrte dort oben durch den Staub, durch das Gespinst, und immer wieder sah ich in dem Trüben Licht ihre Hüllen am Boden liegen … Hässlich & vertrocknet & eingefallen … Aber ich erkannte immerhin einige von diesen Überbleibseln … Was aus diesen Hüllen, diesen Hülsen gekrochen war, war dann jedesmal ein wenig verändert, immer noch Mensch, aber schon ein wenig entstellt … Wie werden sie jetzt aussehen? … Nach so vielen weiteren Häutungen … Wieviele Hülsen werden dort wohl herumliegen? … Verdammte Neugier! … Die Neugier des Verdammten … Ob SIE wohl noch dort ist? … Doch, sie muss dort sein … Aber ich würde sie vermutlich nicht wiedererkennen; auch ihre Stimmen verändern sich … Aber SIE würde MICH erkennen! … & vielleicht SICH zu erkennen geben … Aber jede andere könnte das auch … könnte sich für SIE ausgeben … Zumindest am Anfang würde ich es nicht bemerken … & sie stecken doch alle unter einer Decke … Sie werden sich alle Alles erzählt haben im Laufe der Jahre … Alle kennen alle Geschichten aller anderen … (Plötzlicher Gedanke: Was, wenn ich wahnsinnig bin!?! Mir das alles nur einbilde … Aber nein, es ist wie es ist … & es ist wahr!) … „Warum liebst du mich nicht mehr?“ hat sie mal gefragt … & in der Ecke des Schlafzimmers lagen 2 ihrer Hülsen … Dieser Anblick … Ich sagte gar nichts, und sie warf mir mein Schweigen vor … Sie hätte dankbar sein sollen für mein Schweigen … Ich ging, und sie schrie mir irgendwas hinterher … Beinahe wäre ich über ihre Fäden gestolpert … Nur beinah … Egal … Es sind noch ganz andere dort oben … Vergessene sogar … vermute ich … Die würde ich nicht mal wiedererkennen, wenn sie die alten geblieben wären … Manche der Spinnfäden sind so stark – ich könnte mich an ihnen erhängen … Vielleicht sollte ich es tun … Aber nicht, bevor der Schnaps


Ich bin nicht, denn ich wurde

Ich – bin nicht frei!
Ich bin – nicht frei!
Ich bin nicht – frei!
Ich bin nicht frei -!

ICH BIN NICHT FREI!
ICH BIN NICHT FREI!
ICH BIN NICHT FREI!
ICH BIN NICHT FREI!
ICH BIN NICHT FREI!

Denn ich wurde geboren


Die Schrottpresse

Ich bin so rücksichtsvoll wie
der Innenspiegel eines verschrotteten Autos

Es hängt an einem Magneten
wird geschwenkt über einen
friedvollen Hof
voll von Autoleichen
voll von Ähnlichkeiten

Blech
immer gleich

Vergangene Formen
die in eine Presse geworfen
wurden

Sie hielten sich für
originell
diese Formen

aber

zerquetscht
von Mechaniken, die
irgend jemandem eingefallen sind

sind sie nichts als
ein Würfel

aus Metall

Masse
Dichte
Gleichförmigkeit

Gesplitterte Blicke
in die Vergangenheit

Die Vergangenheit wird
unkenntlich

& man wird rücksichtsvoll wie
der Innenspiegel eines verschrotteten Autos


An der Nadel

Behäbig & feist & alt war sie,
weiß- & langhaarig; und seit ihrer Jugend
steckte das Diabologeschoss eines Luft-
gewehrs direkt neben ihrer Wirbelsäule.
Irgendein Nachbar hatte auf sie geschossen
(wie Nachbarn halt so sind).
Immer wenn sie hörte, dass die
Spritze vorbereitet wurde, beflügelte es
ihre Schritte. Schnell kam sie herbei –
bei Fuß, fast wie ein Hund. Die
Kanülen waren kurz.
Sehr rasch hatte die alte Katze gelernt,
wie gut es ihr nach einer Injektion ging.
Geradezu beschwingt bewegte sie sich
anschließend. Wie ich. Nach einigen
Gläsern Absinth. Das Insulin wirkte schnell.
Jeden Tag. Über viele viele Jahre hinweg.

Und dann kam die Wassersucht; der
hängende Bauch & das Umkippen …..
& die kurze Nadel bewirkte nichts mehr.
Ein Mann mit Ledertasche betrat die Wohnung;
in der Ledertasche eine weitere Spritze.
Die Kanüle, die er aufsteckte, war lang –
sehr sehr lang.
Und ich machte einen Fehler –
: Ich betrachtete das Gesicht der Katze,
als der Mann die lange Nadel direkt
in ihr Herz stieß …….
Für einen Sekundenbruchteil krampfte sich
das Gesicht zusammen, als würde es
nach innen & zur Mitte hin gezogen.
Dann entspannte es sich.

Der Absinth bewirkte nicht viel;
an diesem Tag.

Vielleicht liegt unter der Erde
noch immer das Diabologeschoss –
nach all den Jahren –
irgendwo – ganz einsam
& verlassen. Und
kalt


Dompteure

Es war schon immer mein Traum,
Dompteure auszupeitschen …
sie einzusperren in Käfige …
sie zu erniedrigen durch Zwang &
sinnlose Tätigkeiten …
Schon immer wollte ich sie anstarren lassen
von herzlosem Pöbel, von geistfernen
Unterhaltungssüchtigen …
Wollte Seiten aus der Bibel reissen,
die den Dompteuren als Rechtfertigung dienen.
Es war schon immer mein Traum,
Dompteure leiden zu sehen.
Schon als Kind konnte ich
den Zirkus nicht ertragen.
Tiere, die einen Job haben –
wie grauenvoll ist das!
Tiere, die Vorgesetzte haben –
wie grauenvoll ist das!
Es war schon immer mein Traum,
die Peitsche in die Hand zu nehmen –
in diesem Zirkus – &
auf die Hüter der Sinnlosigkeit
einzuschlagen.

 

(Inwendig vorgetragen:)


Doppelter Fliegendreck

Ich hasse es, wenn sich jemand
als Künstler bezeichnet; hasse vielleicht
das Wort Künstler an sich – – –
hasse das ü – den doppelten Fliegendreck
über dem u der Kunst – – das angehängte
ler !
Die Pose & die Selbstbeweihräucherung ….

Versucher
Schaffer
Hinrotzer
Vorsteller
Handwerker
Weberknecht

Alles wäre mir lieber als
die Künstelei !

Und am liebsten wäre mir es,
wenn sich jeder als GarNichts bezeichnen würde –

& Bezeichnungen erkannt würden als das,
was sie sind :

ein doppelter Fliegendreck, der
auf der Wirklichkeit klebt.


Der Kuchen

Die Kuchenform war symmetrisch,
sie war rechteckig.
Aus einer Schublade, angefüllt mit
Unordnung, nahm ich einen Hammer.
Mit dem Hammer schlug ich auf die
Form ein – ohne System.
So lange, bis nicht mehr viel
an das Rechteck erinnerte.
Dann rührte ich einen Teig an; aus
Zutaten, die ich verschweigen muss.
Ich füllte den Teig in die Form.
Stellte die Form in den vorgeheizten Herd.
Der fertige Kuchen, aus der unförmigen
Form befreit, sah aus wie eine
Krankheit.
Ich nahm ihn mit zu einer
Trauerfeier.
Er wurde bestaunt.
Fragen wurden gestellt –
Wie ist denn das passiert?
Ist das dein erster selbstgebackener Kuchen?
Was ist da drin?
Ich log Antworten.
Er wurde probiert.
Sein Geschmack für interessant befunden.
Aber, so wurde übereinstimmend gesagt,
Backen ist nicht deine Stärke; du solltest es
vielleicht lieber lassen
.
Zurück zu Hause nahm ich die Form &
hämmerte weiter auf sie ein.
Ich ahnte:
Mein nächster Kuchen würde mir noch besser
gefallen.


Das Chaos spritzt Wassertropfen

 „I stepped inside an Avalanche, it covered up my soul…”
 Leonard Cohen

„Hast du gar nicht gehört, wie ich letzte Nacht mein Sterbchen gemacht habe?“ sagte mein Vater.
Er saß lächelnd am Frühstückstisch. Mir gegenüber. Bereit, mich zur Schule zu fahren.
Ich verneinte. Ich hatte fest geschlafen. – Er hatte die halbe Nacht hindurch gekotzt. Irgend etwas. Wahrscheinlich Metastasen. Vielleicht Blut. Die Verniedlichungsform sollte es mir leichter machen.
12 Jahre später betrat ich den Friedhof. Er lag auf einem Hügel. Die Sonne schien. Ich war mir sicher, das Grab auf Anhieb zu finden, obwohl ich zuletzt vor 10 Jahren hier gewesen war. Zielsicher ging ich aufwärtsführende Wege …. Grabsteinlesend …. Im Kopf eine Mundharmonika …. Ein Labyrinth … Der Geruch der verwelkten Blumen erinnerte mich an einen anderen Friedhof. An den Friedhof, wo der Vater meines Vaters begraben war; oft hatte ich meinen Vater dorthin begleitet. Immer kaufte er zunächst einen Strauß Blumen in einem kleinen Laden in der Nähe. Auf dem Friedhof wickelte er ihn aus & warf das zerknüllte Papier in einen der Mülleimer. Die Mülleimer waren voller Blumenleichen & kreisender Fliegen. Ich beobachtete alte Frauen bei der Grabpflege. Kaninchen zwischen den Hecken. War fasziniert von allem. Ich war gerne hier. Mochte die Stimmung, in der mein Vater war …. Ich suchte …. Suchte …. Hatte ähnliche Blumen in der Hand. Sie konnten ihn doch nicht verlegt haben. Der Friedhof war gewachsen in den 10 Jahren. Der Tod hatte sich ausgebreitet. Seit 1 Jahr hatte ich den Führerschein; dies war die erste längere Strecke (knapp 500 km), die ich zurückgelegt hatte. Und nun konnte ich das Grab nicht finden. Der Plan, den die Erinnerung in mir gezeichnet hatte, war nichts als die völlige Verwirrung der Wirklichkeit.
Ich schaute auf die Uhr. Damals trug ich noch eine Uhr. Es wurde Zeit. Ich musste zurück zum Parkplatz. Ging abwärts. Wenigstens den Ausgang fand ich.
Ihr Auto stand neben meinem. Sie stieg aus, als sie mich kommen sah. Im leichten kurzen Sommerkleid. Lächeln spiegelte sich. Umarmung. Küsse. Gerüche. 12 Monate waren vergangen. Zwischen uns. Sie hatte keinen weiten Weg gehabt.
Irgendwann sagte ich:
„Ich hab’s noch nicht gefunden. Ich war mir ganz sicher, wo es sein müsste. Seltsam.“
„Ich weiß, wo es ist“, sagte sie.
„Ein Glück“, sagte ich.
„Ich wollte eigentlich nicht dabei sein, wenn du’s besuchst. Ich mag sowas nicht.“
„Du störst doch nicht.“
„Trotzdem.“
„Komm schon“, sagte ich. –
Hand in Hand. Sie wusste wirklich genau, wo es lang ging. In ihren offenen Schuhen. Das Grab war dort, wo ich es zuletzt vermutet hätte. Ich verfluchte meine Erinnerung. Wir standen stumm davor. Sie etwas abseits. Ich nahm Verwelktes aus der in die Erde eingelassenen Vase & tat meine frischen Blumen hinein.
Ich dachte einen Monolog. […] –
„So. Wir können“, sagte ich.
Auf dem Weg zurück warf ich Papier & Blumen in einen Mülleimer. Alte Frauen waren mit Gießkannen unterwegs.
Wir setzten uns in ihr Auto. Redeten. Küssten. Fühlten. Abendsonne. Auf dem Parkplatz des Friedhofs.
Wir ließen meinen Wagen dort stehen & fuhren in die Stadt. Zur Konzerthalle. Das Konzert war der Vorwand gewesen. Deshalb hatte er sie – allein – fahren lassen; er interessierte sich nicht für Leonard Cohen.
Von oben rechts schauten wir auf die Bühne hinab. – – –
Nach dem Konzert saßen wir in einer Bar & tranken etwas.
„Der ist ganz schön alt geworden“, sagte sie.
„Da hat er ja wohl ein Recht zu“, sagte ich. (Ein seltsamer Satz – finde ich heute. Abgesehen von der miesen Grammatik.)
Es war wenige Monate vor seinem 51. Geburtstag.
Sie sagte: „Was ich nicht verstehe, ist, dass er ‚So long, Marianne’ nicht gesungen hat, obwohl die Leute immer wieder danach gerufen haben.“
„Vielleicht kann er den Song gerade nicht ertragen“, sagte ich; „kann doch vorkommen, wenn man über das eigene Leben schreibt. Wer weiß, was mit der Frau gerade ist….“
„Da ist was dran“, sagte sie.
Der Friedhofsparkplatz lag im Schein einer einzelnen Laterne. Bis auf meinen Wagen war er leer. Die Scheinwerfer ihres Autos kegelten mit Licht. Der Abschied war so grauenvoll wie alle anderen davor & alle anderen, die noch kommen würden. Noch ein Kuss. Noch ein Kuss. Noch ein Kuss.
„Ich muss“, sagte sie.
„Ich weiß“, sagte ich.
500 Kilometer.
Der Friedhof war nun abgeschlossen.
Ich fuhr ihr so lange hinterher, wie es ging … Rote Rückleuchten ……. Bis sich unsere Wege trennten …. Lichthupe zum Abschied …

Sterbchen …. Sterbchen ….
Das Grab meines Vaters existiert nicht mehr. Meine Mutter hat den üblichen Zeitraum von 30 Jahren nicht verlängern lassen.
Mein Großvater hat meinen Vater geschlagen; mein Vater hat uns Brüder geschlagen – & allmählich wird das gleichgültig.
Immer wieder kam er aus dem Krankenhaus nach Hause. Immer wieder wurde er auf der Trage aus dem Haus gebracht, während ich daneben stand, und immer wieder sagte er zu mir:
„Es ist nicht so schlimm.“
Einmal stand er vor mir. Im Bademantel. Mit eingefallenen Wangen. Blaß.
„Wie alt bist du jetzt?“ fragte er.
„12“, sagte ich.
„Hmm. – – 12“, sagte er & schien darüber nachzudenken.
2 Jahre zuvor hatte er eine Pendeluhr gekauft & hier im Flur aufgehängt. Die Pendelbewegung war laut. Und sobald die Uhr nicht absolut waagerecht hing, nur einen halben Milimeter beim Staubwischen bewegt worden war, blieb sie stehen.
Irgendwann hörten wir es nur noch, wenn sie stehengeblieben war.
Früher hatte mein Vater mich manchmal mitgenommen, wenn er seine Freundinnen besuchte. Ich mochte die hübschen jungen Frauen. Und ihre Beine. Von denen man damals nicht viel zu sehen bekam. Und die hübschen jungen Frauen fanden den Knirps niedlich.
Ich saß auf seinem Schoß & er ließ mich an seinem Bier nippen. (Mein Vater trank wenig. Es hatte ihn immer abgeschreckt, wenn sein Vater trank.) Das Bier war bitter & widerlich. Es war in der Kneipe, die einer seiner Freundinnen gehörte. Sie schenkte mir Schokolade.
Manchmal saß ich auch im Auto auf seinem Schoß & durfte das Lenkrad halten. Als hätte ich gewußt, wo’s langgeht.
Wußte er bereits, dass er bald sterben würde, als er sich langgehegte Wünsche erfüllte? Er reiste allein nach Afrika. Er kaufte sich ein Motorrad. Meistens saß ich auf dem Sozius. War Sozius, stolz. Furchtlos. 2 leuchtend-gelbe Helme hintereinander (seiner hatte einen lilanen Streifen in der Mitte).
„Halt dich gut fest“, sagte er.
Je schneller, desto besser.
Ich wurde bevorzugt; das wußte ich.
Und ich erkannte sie wieder; die Freundinnen am Grab meines Vaters. Death of a Ladies´ Man …..
Seine Leidenschaft für Bücher fühlte ich, bevor ich lesen konnte. Und ich konnte lesen, bevor ich in die Schule kam.
Zu zweit machten wir einen Kurztripp nach Belgien. Seebad Knokke. Noch im Dunkeln gingen wir spazieren. Das Meer in der Finsternis; Rauschen & Geruch. Laternen auf der Promenade.
Aus einem dunklen Hauseingang trat eine junge Frau hervor. Sie tippte auf ihr linkes Handgelenk & fragte auf französisch nach der Uhrzeit.
Mein Vater antwortete ihr, und wir gingen weiter.
„Niedlich“, sagte er. –

Keiner meiner Klassenkameraden durfte so lange aufbleiben wie ich. Ich kannte Fernsehserien, die sie nicht kannten: Invasion von der Vega; Nummer 6; High Chaparral; Solo für O.N.C.E.L. – – – Der Schulweg dauerte zu Fuß etwa eine ¾ Stunde; morgens wurden wir mit dem Auto gebracht, mittags aber spazierten wir nach Hause. Und immer mußte ich dabei die einzelnen Folgen der Serien nacherzählen.
Damals gab es noch Sendeschluss & Testbild. Einmal stand mein Vater vor dem Fernseher, als in der Spätausgabe der Tagesschau der Wetterbericht lief; er wartete -; und als die Sprecherin freundlich „Gute Nacht“ gesagt hatte, sagte er „Gute Nacht, Süße, träum was Schönes“ & schaltete den Fernseher aus. Das gefiel mir; ich musste grinsen …

Ich verbrachte viele Stunden im Krankenhaus, als sie auf die Entbindung wartete. Ich liebte sie. Sie, die ich kurz nach dem Tode meines Vaters kennengelernt hatte. Ich erinnere mich genau an dieses Kennenlernen. Ich blätterte durch das Angebot der Poster im Kaufhaus. Blieb hängen an einem Poster von Marilyn Monroe in Netzstrümpfen; betrachtete es lange – mit dem Blick der Pubertät. Und plötzlich standen sie & mein Bruder neben mir. Sie lächelten. Mein Bruder stellte sie mir vor. Ich wurde rot. Wir gaben uns die Hand. Sie war mit ihren 1,60 größer als ich.
Während ich im Krankenhaus an ihrem Bett saß – sie 18, ich 14, und wir redeten & redeten & redeten, wie wir es von Anfang an getan hatten – fickte mein Bruder eine andere.
Ihr erster Krankenhausaufenthalt: Falscher Alarm – mein Neffe wollte noch nicht kommen.

Ich wurde Babysitter. Neffensitter. Liebte seinen Geruch. Er war aus ihr gekommen. Onkel mit 14. Wickeln, baden, füttern. Ich verbrachte mehr Zeit mit ihm als sein Vater es tat. Mein Bruder wollte sich amüsieren; ausgehen. Und sie musste dabeisein. Sie vertraute mir ihren Sohn an. Weil sie alles wusste. Zwischen uns war ewiger Kurzschluss : Kennen, Wissen & Funken.
Einmal, der Kleine schlief bereits, saßen wir zu dritt beim Kartenspiel. Eine Tafel Schokolade zwischen uns. Ich hasse Kartenspiele; hasse Spiele überhaupt – egal. Wir spielten. Aßen Schokolade. Irgendwann nahm sie einen kompletten Riegel, biss davon ein Stück ab & legte den Rest zurück aufs Papier. Ich wartete kurz. Es musste beiläufig wirken. Wie ein Versehen; wie eine Unachtsamkeit. Schließlich nahm ich den Riegel & biss meinerseits ein Stück davon ab.
Sie sagte: „Ich hatte davon abgebissen.“
„Oh“, sagte ich, „jetzt werde ich bestimmt sterben.“
Ich aß den Riegel auf.
Sie grinste.
Mein Bruder grinste.
Und ich spielte schlecht.

Mein Vater erzählte von einer Geschäftsreise. Es war Ende der 60er. 69, glaube ich. Er & seine Kollegen waren eines Abends ins Kino gegangen. Er erzählte von kotzenden Zuschauern. Erzählte von einer Erste-Hilfe-Station im Kino. Erzählte von einem widerlichen Film. Erzählte von seinem Ekel & seinem Unverständnis. In diesem Film, so erzählte er, fraßen Leichen sich gegenseitig auf. Nachts, im Dunkeln, lag ich im Etagenbett unter meinem Bruder & stellte mir alles vor. Ich wollte schreien. Heute weiß ich: es war Night of the living dead.
Kurz vor seinem Tod fuhr mein Vater mich zum Kino; ein kleiner Familienbetrieb, der nicht mehr lange zu leben hatte. Auf dem Weg dorthin überholten wir einen Mofafahrer. Er hatte lange Haare. Mein Vater hasste lange Haare. Ein ständiger Kampf zwischen ihm & seinen Söhnen.
„Der ist bestimmt auch auf dem Weg ins Kino“, sagte er & lachte.
Auch ich musste lachen.
Im Kino lief: Die Nacht der Reitenden Leichen.
Der Film war ab 18 – aber sie ließen mich in alle Filme, nachdem meine Mutter dort einmal telefonisch ihr generelles Einverständnis abgegeben hatte. (1 Jahr zuvor hatte sie mich – auf mein Drängen – in Wie schmeckt das Blut von Dracula begleitet …. Ich spürte ihren prüfenden Blick auf mir, als Christopher Lee auf das goldene Kreuz fiel & seine Augen bluteten…)
Mir verging das Lachen im Angesicht der Reitenden Leichen. Nach den ersten 5 Minuten wollte ich fliehen. Aber ich hielt durch. Und erzählte meinem Vater den Inhalt.
Der Inhalt erinnerte ihn an seine Geschäftsreise.
Kurz nach seinem Tod sah ich zum ersten Mal Mario Bavas ‚I tre volti della paura’; und das entstellte Gesicht der Leiche in der Episode vom ‚Wassertropfen’ (sie dauert nur 20 Minuten) erinnerte mich an das entstellte Gesicht meines Vaters, als ich ihn im Sarg liegen sah. –
Mit 17 endeckte ich in der Schrankwand meiner Mutter zufällig eine Monatsschrift. Blätterte darin. Fand das Foto meines Vaters. Dasselbe Foto, das auf dem Nachttisch meiner Mutter stand. Es war ein Nachruf -:

Zum Tode von Dr. Jürgen L.....
Obgleich man wußte, daß Dr. Jürgen L. seit einigen Monaten schwer
 krank war, traf die Nachricht von seinem Tod am 13. Dezember 1973
 doch völlig unerwartet ein. Wir alle werden Zeit brauchen, um wirklich
 zu begreifen, daß Dr. L. nicht mehr unter uns ist. Das gilt natürlich 
 in erster Linie für die Mitarbeiter des Kölner Büros, dessen 
 wissenschaftlicher Leiter er während der letzten sechs Jahre war, das 
 gilt aber auch für alle anderen, die ihn kannten und mit ihm zu tun 
 hatten.
Jürgen L. wurde 1925 in Rummelsburg in Pommern geboren, er ging
 in Königsberg und Tilsit zur Schule und wurde 1945 zur Wehrmacht
 eingezogen. Nach Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft
 studierte er 1947 bis 1948 an der Bergakademie Clausthal, 1948 bis
 1952 an der Universität Marburg/Lahn Naturwissenschaften mit
 Zoologie als Hauptfach. Er schloß seine Studien 1952 mit der Promotion
 zum Dr. rer. nat. ab. Dr. L. gehörte aber nicht zu denjenigen, die 
 sich im Elfenbeinturm der Wissenschaft abkapseln. Mit dem sicheren 
 Blick für die Bedeutung ökonomischer Zusammenhänge - gerade in der 
 Phase des Wiederaufbaus nach dem verlorenen Krieg - studierte er von 
 1949 bis 1954 außerdem Volks- und Betriebswirtschaft.
Von 1952 bis 1959 war Dr. L. Assistent und zeitweise Lehrbeauftragter
 für vergleichende Physiologie am Zoologischen Institut der Universität
 Marburg/Lahn. In diese Zeit fallen auch seine Veröffentlichungen über
 Tierpsychologie und Tierphysiologie.
Wer die Situation an den Hochschulen der fünfziger Jahre kennt, weiß,
 welch hartes Brot das Assistenten-Dasein damals war. Es bedeutete
 daher einen guten Schritt voran, als Dr. L. am 1. Dezember 1959 als
 wissenschaftlicher Mitarbeiter in die [...] eintrat. Konnte er doch 
 hier sowohl seine naturwissenschaftlichen wie auch seine wirtschafts-
 wissenschaftlichen Kenntnisse sinnvoll einsetzen. Nach der damals
 kurzen Einarbeitungszeit begann Dr. L. 1960 seine Außendienst-
 tätigkeit im Raum Aachen. Aufgrund seiner fundierten Kenntnisse
 und seiner guten Auffassungsgabe wuchs er schnell in seine neue
 Aufgabe hinein. Der Erfolg blieb nicht aus, und mit der Ernennung
 zum wissenschaftlichen Leiter des Kölner Büros am 1. Januar 1968
 wurden Einsatz, Mühe und Erfolg gelohnt.
Aber auch als Büroleiter verstand sich Dr. L. weniger als Chef, 
 als vielmehr als Primus inter pares. Stets hilfsbereit, wenn jemand
 seinen Rat brauchte, stets voller Verständnis für die Anliegen
 seiner Kollegen, gleichwohl mit ernsten Worten nicht sparend,
 wo diese ihm notwendig erschienen, erwarb er sich das Vertrauen
 derer, die mit ihm zusammenarbeiteten.
In Anerkennung seiner Verdienste um die Führung des Kölner
 Büros stand Dr. L. unmittelbar vor seiner Beförderung zum
 Prokuristen. Der Tod ist dem zuvorgekommen. Er hinterläßt
 eine Lücke, die schwer zu schließen sein wird. Noch begreifen
 wir nicht, daß Dr. L. - im Alter von 48 Jahren - von uns gegangen
 ist. Wir wissen nur, daß wir ihn nicht vergessen werden.

Im bewegten Licht des Fernsehers saßen wir uns gegenüber, während mein Bruder in der Badewanne lag. Es war ein Ritual seit langem: die Blicke in die Unendlichkeit. Die unendlichen Blicke. Es war der Jähzorn meines Vaters gewesen, der mich Gegenstände zerbrechen ließ – aus Eifersucht, aus Sehnsucht. Einmal, vor Jahren, hatte sie mich vorsichtig umarmt. Und gesagt: „Du bist zu jung.“
Jetzt ……
umarmten wir uns wieder. Ich ließ sie nicht los. Sie ließ mich nicht los. Ihr rechtes Ohr an meiner Nase, ihr Haar an meiner Nase, Wange an Wange, streichend ….. bis der –
(ich hatte geträumt von ihm, immer und immer wieder)
KUSS
geschah – –
zunächst traf meine Zungenspitze auf Lippen
dann auf Zähne
& endlich
auf ihre
Zunge – – – – – –
„Das darf er niemals erfahren“, atmete sie warm in mein Gesicht. – –
Es dauerte vielleicht 10 Minuten, bis er es erfuhr. – Da wir nicht aufhören konnten, uns zu küssen.
In der Schwangerschaft hatte sie sich oftmals auf meinen Arm gestützt. Hatte gesagt: „Ich fühle mich schwach…..“ (Später lächelte sie, als sie sagte: „Alles Quatsch! Ich wollte Dich fühlen.…“)

Mein Bruder packte mich am Genick. Ganz sanft. Als ich 6 oder 7 war. Wenn er mich über die Straße führte. Durch die Gefahr der Autos. Ich liebte seine Hand in meinem Nacken. Er war mein Vorleser, als ich noch nicht lesen konnte. Und er las aus 1001 Nacht.
Und als mein Neffe 6 oder 7 war, las ich ihm vor. Aus Alice im Wunderland & Alice hinter den Spiegeln. – Und wenn er das Frühstücksei im Becher sah, sagte er: „Das ist der Goggelmoggel; denn so war Humpty-Dumpty ins Deutsche übersetzt worden.

Wenn ich erkältet war & meine Mutter meinen Rücken mit Wick-Vaporub einrieb, war es wie Sandpapier auf meinem Rücken; denn ihre Hände waren rauh. Wenn mein Vater es tat, war es weich & angenehm. Meine Mutter schlug nie, ihr Streicheln war hart; mein Vater schlug oft, sein Streicheln war zart.
Solange er im Außendienst tätig gewesen war & sich die Arbeit selber hatte einteilen können, war er Mittags immer nach Hause gekommen; und nach dem Essen legte er sich für eine Weile ins Bett, um zu lesen. Niemals, auch später nicht, sah ich ihn außerhalb des Bettes ein Buch lesen, egal zu welcher Tageszeit; und so verbrachte er oftmals das komplette Wochenende im Bett.

Sie bemühte sich, leiser zu stöhnen als sonst. Sie wußte, dass ich im Nebenzimmer saß. Immerhin, sie bemühte sich. Ich mußte ihnen zuhören, er hörte uns nie zu. Ich saß einfach nur da. Das Auf- & Ablaufen hatte ich längst hinter mir. Irgendwann war es vorbei. Ich sah, wie sie nackt aus dem Schlafzimmer kam & ins Bad ging. Ihre Zigaretten lagen auf dem Tisch vor mir. Schließlich kam sie aus dem Bad, um sie sich zu holen. Ihr Blick sagte mir: Du hast kein Recht sauer zu sein. Nur ein kurzer Blick. Ich folgte jeder ihrer Bewegungen. Sie gab mir einen sehr flüchtigen Kuss, und ich beobachtete ihren Hintern, als sie ins Schlafzimmer zurück ging. – –
Wir lagen im Bett. Das Fenster war weit geöffnet, die Sonne schien. Wir lachten & überhörten zunächst das Telefon. Dann hörten wir es. Sie beeilte sich ranzugehen. Natürlich. Er war’s. Kontrollanruf. Hatte er gestoppt, wie lange es dauerte, bis sie sich meldete? Knappe Belanglosigkeiten wurden ausgetauscht, dann kam sie zurück ins Bett. Nichts in meinem Leben roch so gut wie sie. Nach höchstens einer ¼ Stunde hörten wir einen überdrehten Motor, quietschende Reifen, dann einen Aufprall. Sie sprang aus dem Bett & lief ins Bad. Ich war wie gelähmt, blieb einfach liegen. Hörte Schritte, hörte Klopfen, hörte Wut. Dann stand er an meinem Bett. „Du kannst deine Koffer packen.“ So jähzornig er war, niemals hätte er mich geschlagen. Zuviele Jahre, zuviele Erinnerungen, zuviel gemeinsame Kindheit.
– – Jahre zuvor:
Immer hatten sie Streit deswegen. Sie wollte nicht anziehen, was er ihr kaufte. Alles was er kaufte, sagte: Seht her, meine Frau (und nur ich darf sie ficken)! – Er setzte sich immer wieder durch. Sie gingen Billard spielen, und sie trug den kürzesten Minirock & einen durchsichtigen Slip. Wenn sie sich über den Tisch beugte ….. Ich sah die Blicke der Typen ringsum. Außerdem liebte mein Bruder durchsichtige Blusen. Durchsichtige Blusen waren sein Fetisch; ohne etwas darunter; natürlich. Er wollte ihre Titten zeigen. –
Ich durfte bei ihnen einziehen, dafür musste ich im Gegenzug meinen Schulabschluss nachholen. Meinen 16. Geburtstag hatte ich in einer geschlossenen Abteilung verbracht, weil unsere Mutter sich nicht mehr anders zu helfen wußte; er wollte mir etwas Gutes tun. Wie oft waren wir Verbündete gewesen! Gegen den Vater, gegen die Welt. (Außerdem war es praktisch für ihn, stets einen Babysitter parat zu haben.)
Zunächst trug sie noch ein Höschen in der Wohnung ……
Eines Tages, als sie wieder so herumlief, wir 3 waren in ziemlich alberner Stimmung & der Kleine bei seiner Großmutter zu Besuch, packte mein Bruder sie am Handgelenk. Er legte sie übers Knie, zog ihr den Slip herunter & versohlte ihren nackten Arsch. Sie lachte. Das Klatschen; das Lachen; der Anblick – ich saß genau richtig, ihre Beine in meiner Richtung. Der Slip hing an ihren Oberschenkeln. Sie versuchte, ihn wieder hochzuziehen. Der Stoff riss. Als mein Bruder sie loslies, stand sie auf & zog den Fetzen hoch. Der Riss war hinten, sie hielt ihn irgendwie zusammen & verschwand kurz in Richtung Schlafzimmer. Als sie zurückkam, trug sie noch immer diesen Slip. Vorn war er intakt. Sie grinste. Machte:
„Ta Daaaa!“ & drehte sich herum. Sie hatte durch Schnitte & Knoten ein kunstvolles Guckloch geschaffen; die Arschritze verlief exakt durch dessen Mitte. Cut up. Es hatte etwas Unschuldiges. Niedlich, fühlte ich.
Ab diesem Tag machte es ihr nichts mehr aus, in meiner Gegenwart nackt herumzulaufen. Das dunkle schöne Kräuselhaar; die kleine weiße Reißleine einmal im Monat.

Ich schlief in meinem schmalen Bett, das ins Zimmer meines Neffen gestellt worden war. Sie schlief nebenan im Ehebett. Allein. Ich erwachte. Ich stand auf. Ihre Tür stand offen. Sie nur im Schlaf zu beobachten……..
Irgendwann saß ich auf dem Bett & schnupperte an ihren Haaren. Begann sie zu streicheln. Traute mich zunächst kaum, die Decke zu bewegen. Zentimeter. Für. Zentimeter. Das erste Mal, dass ich einen Hintern küsste.
Und es dauerte lange – – bis sie mir sagte, dass sie nicht geschlafen hatte.

Man muss nicht schwimmen können, um das Meer zu lieben. Im Ruderboot, meinem Vater gegenüber. Geblendet von Sonnenblitzen auf der Wasseroberfläche. Das Geräusch der Ruderblätter …. Der Geruch nach Salz & Algen …. Mein Bruder paddelte in einiger Entfernung neben uns her; in einem kleinen roten Schlauchboot. Im Gegensatz zu mir konnte er schwimmen. Ich hatte einen gelben Eimer dabei, dessen Boden aus Plexiglas bestand; manchmal, wenn ich ihn während einer Ruderpause, ins Wasser drückte, konnte ich durch den Boden einen Fisch sehen.

Die Erinnerung ist kein ruhiger Fluss. Keine Ordnung von Tropfen. Kein 1 nach dem andern. Irgend etwas peitscht die ruhende Oberfläche, und das Chaos spritzt. Spritzt ungeordnet – wie die Verwirrung der Wirklichkeit.

„Ich liebe dich“, sagte ihre alte Stimme. Zum ersten Mal. Glaube ich.
„Ich weiß“, sagte ich. Mehr war nicht drin. Es war ein 2-Bett-Zimmer; im Nebenbett lag eine andere alte Frau & lauschte.
Über ihrem durchscheinenden Totenkopf trug meine Mutter die Parkinson-Maske. Wenn ich zitterte, hatte das andere Gründe. Abgründe.
Ich beugte mich zu ihr hinunter, um mich zu verabschieden.
Nichts wie raus. – 4 Stunden hatte es gedauert, bis sie endlich ein Bett zugewiesen bekommen hatte. Immer wieder hatte sie gesagt: „Fahr doch nach Hause. Du musst nicht die ganze Zeit über warten.“
Verdammte Krankenhäuser! – Es gab nur eine Zeit in meinem Leben, wo ich gerne ins Krankenhaus ging; es kaum erwarten konnte. Und es war eine schwere Geburt gewesen; damals. Ihr Damm musste genäht werden. Und der Arzt sagte zu ihr: „Ich werde das so machen, dass sie künftig viel Spaß haben werden.“ Und wir hatten viel Spaß.

Als er die Gelegenheit bekam, sich zu rächen, tat er es. Sie arbeitete nachts, schlief tagsüber, und er war für den Einkauf zuständig. Sie frühstückten außer Haus, und mit den anderen Mahlzeiten verhielt es sich ebenso. Das Söhnchen nahmen sie mit. Ich blieb allein. Er schaffte es, jeglichen Kontakt zwischen ihr & mir zu unterbinden. Das war leicht, da es ihm reichte, dass sie arbeitete. Er tat nichts, außer sie zu kontrollieren. Sie hatte keine Ahnung, dass es im ganzen Haus nichts zu essen gab. Und ich hatte kein Geld. Nichts. Manchmal legte er mir 5 oder 6 Zigaretten auf den Küchentisch. Das war alles. Immerhin.
Ich trank also Leitungswasser, und aß ein paar Löffel Zucker am Tag. Meine Gedanken kreisten nur noch ums Essen. Stundenlang lief ich draußen herum. Mit gesenktem Blick. Die Bürgersteige absuchend. Irgend jemand musste doch mal etwas verlieren. Ein paar verdammte Münzen. Eine Münze. – In der ganzen Zeit fand ich absolut nichts. Schnorren kam nicht in Frage. Ich versuchte, so viel zu schlafen wie möglich. Aber ich wachte immer wieder auf. Von dieser Faust im Bauch.
Sie arbeitete nachts. Hinter der Theke. Neben der Theke gab es eine Leinwand, auf der Pornofilme liefen. Er saß die ganze Nacht an der Theke, und kontrollierte sie. Genoß die Blicke der anderen Männer. Sie trug ein durchsichtiges Oberteil, nichts drunter. Und Hotpants. Die schönsten Beine in dem ganzen Laden. Und die einzigen, die nicht angefaßt werden durften. Blicke. Nichts als Blicke. Blicke für sein Selbstbewußtsein.
Sein Bett & mein Kinderbett standen Kopf an Kopf. Spät abends bauten wir dort aus unseren Decken eine Höhle, und beim Licht der Taschenlampe las er mir vor. Nie wollte ich einschlafen. Immer nur zuhören…..
Aber irgendwann schlief ich.

„Sein Schwanz ist größer als deiner“, sagte sie. Sie sagte es so wissenschaftlich, dass ich lächeln musste. Unter der Decke. Wo es ihretwegen so gut roch. Sie gab mir etwas, was er nicht bekam. (Wenn er mich provozierte, sagte ich in Gedanken zu ihm: „Hey, weißt du eigentlich, dass sie bläst & schluckt?“ – Sie hatte es nicht gemocht. Leckte ein bisschen, nahm in nicht in den Mund. Sie hatte mir erzählt, dass sie einmal dabei einen winzigen Spritzer von ihm auf die Wange bekommen hatte; hysterisch war sie ins Bad gelaufen.) Da war also etwas, das nur wir hatten. „Nur bei dir“, sagte sie…. Beim ersten Mal war sie noch aus dem Bett gesprungen, rüber zum Tisch, wo eine Flasche Jim Beam stand, und hatte einen kräftigen Schluck direkt aus der Flasche genommen. Dann hatte sie gelacht. –
Das Geld war knapp, da nur sie arbeitete. Es lief etwa ein Jahr lang nach demselben Muster ab. Er hörte auf, die Miete zu zahlen. Das bedeutete praktisch einige Monate gratis wohnen, bevor wir rausgeschmissen wurden. Dann mietete er etwas Neues. Immer waren es schöne, große Häuser. Wenn sich einer aufs Blenden verstand, dann er. Viele Umzüge. Schließlich packten wir nur noch das Nötigste aus. –
Er saß im Knast, als der Vater starb. Betrügereien. Die versammelte Familie hatte sein Foto bei Aktenzeichen XY gesehen. „Der Täter ist bewaffnet“, hatte es geheißen. Es gab nur 3 Fernsehsender, und am Tag darauf hörte ich in der Schule immer wieder den Satz „Du kannst ja nichts für deinen Bruder.“
Er wurde vorzeitig entlassen, um an der Beerdigung teilnehmen zu können. – –
Er hatte eingekauft. Endlich. Es war ein kleiner Karton, der auf dem Küchentisch stand. Ich packte ihn langsam, langsam aus. Damit es länger dauerte ihn auszupacken. Um mich darüber hinwegzutäuschen, dass nicht viel darin war. Ich wußte nicht, wie lange ich damit würde auskommen müssen. Als erstes schob ich eine Minipizza in den Ofen. Kaum größer als eine Untertasse. Ich wußte, ich würde sie sehr, sehr langsam essen. Sie würde kalt sein, bis ich zum letzten Bissen gelangte.
Der Geruch war der zweitbeste meines Lebens.

Mein Vater aß Muscheln. Mein Vater aß Krabben. Mein Vater aß alles, was unter Wasser lebte & über Wasser starb. – Ich war fasziniert davon, aber niemals hätte ich es über mich gebracht, etwas davon zu probieren. – Erst Jahre später, als ich Hemingway las, bekam ich durch dessen Beschreibungen solchen Appetit auf alles Fischige, dass ich es einfach probieren musste. Und es wurde Liebe daraus.

Immer wenn ich 20 Minuten zur Verfügung hatte – oder mich langweilte – sah ich mir ‚La Goccia D’Acqua’ an.

Er packte sie am Handgelenk & zog sie hinter sich her. Sie war nackt. Es war spätabends, düster im Haus, wenige Lampen waren eingeschaltet. Nur ihre langen blonden Haare leuchteten.
„Lass sie doch in Ruhe“, sagte ich. Beschwörend.
Er sah mich kurz an. Seine Stimme, ruhig & bedrohlich, sagte:
„Du bist ganz still.“
Dann ging er mit ihr die Treppe runter, ich hörte ihre nackten Füße auf den Stufen.
„Was soll der Scheiß“, sagte sie. Aufgeregt. „Laß mich was anziehen. Bitte. Schatz.“
Unten wurde die Terrassentür aufgezogen. Ich lief nackt an mein Fenster, öffnete es in die Dunkelheit. Die Außenbeleuchtung ging an. Ich sah, wie er sie zum Auto zerrte … hinein zwang … hörte Drohungen … er stieg ein … der Motor heulte auf … die Scheinwerfer wurden aufgeblendet … rückwärts raste er die Auffahrt hinunter … unten quietschte es, der Wagen machte eine Vierteldrehung … dann Kickdown (es war ein Camaro Automatik mit ich weiß nicht wieviel PS, mit einer Beschleunigung, die man in den Eingeweiden spürte) … ich sah die Rückleuchten …
Ich zog eine Hose an & setzte mich auf das Fensterbrett. Adrenalin überall. Die Ortschaft war nicht groß, ich hörte Aufheulen, Quietschen, Aufheulen, Quietschen. In der Nähe. In der Ferne. Wieder in der Nähe. Das Autorennen eines Wahnsinnigen. Alle mußten es hören. Es schien keine anderen Geräusche zu geben. Ab & zu sah ich die Scheinwerfer & Rückleuchten in der Ferne, auf höher gelegenen Straßen.
Ich wartete. Es war warm. Meinem Fenster direkt gegenüber war das Fenster eines Klassenkameraden; in der Schule saßen wir nebeneinander. Er machte manchmal Andeutungen, aber wenn ich nachhakte, tat er immer so, als wisse er nicht, wovon ich sprach. Sein Fenster war dunkel. – Vorsichtig waren sie & ich nur meinem Bruder gegenüber, wir versuchten es zumindest. Der Rest der Welt war uns scheißegal. Sollten alle sehen, hören, denken, was sie wollten.
Irgendwann wurde es leiser draußen.
Und irgendwann bewegten sich die abgeblendeten Scheinwerfer wieder auf die Auffahrt zu. Ich schloß das Fenster, blieb dahinter stehen. Sie stieg als erste aus. Nackt ging sie auf das Haus zu. Zitternd. Er schloß den Wagen ab & folgte ihr.
Die Terrassentür wurde zugezogen, die Außenbeleuchtung ging aus, ich hörte, wie sie die Treppe hochkamen. Wie sie wortlos im Schlafzimmer verschwanden.
Ich war knapp 17, er 27.
Sie war 21. – –
Am nächsten Tag starb Elvis.
Mein Bruder sagte zu mir: „Wir unterhalten uns jetzt mal.“
Wir gingen ins Wohnzimmer & setzten uns. Sie war noch oben. Ich wartete. Ich war gespannt.
Er fing an. „Also, du weißt ja, dass es in unserer Familie sowas noch nie gab. Eine Frau & 2 Männer. Bei uns hat der Mann eher mehrere Frauen.“
Ich grinste. Wahrscheinlich grinste ich blöd. Dachte nur: Scheiße, wie ich dieses Klischee hasse!
„Wir haben uns letzte Nacht unterhalten“, sagte er. „Kurz & gut, wir werden es mal versuchen.“
Ich sagte nichts; machte aus meinem Gesicht ein Fragezeichen.
„Tagsüber, wenn ich nicht da bin, hast du sie, und abends, wenn ich nach Hause komme, hab ich sie. So einfach ist das. Ok?“
Verwirrter hätte mein „Sicher“ nicht klingen können. Er, der Eifersüchtigste der Eifersüchtigen …. Was sollte das?
Schließlich kam sie ins Zimmer.
„Und?“ sagte sie. „Alles geklärt?“
„Alles geklärt“, sagte er.
Sie lächelte.
Wir frühstückten.
Dann verließ ich das Haus wie immer. Aber ich ließ die Schule sausen. Ich wartete im Verborgenen, bis mein Bruder zu Arbeit fuhr. Dann ging ich zurück.
„Das war klar“, sagte sie strahlend, als ich zur Tür herein kam.
Ein langer Kuss.
„Was war das denn jetzt?“ sagte ich schließlich. „Was ist passiert, wie kann das sein?“
„Ich bin mir auch nicht sicher, was er vorhat“, sagte sie. „Aber vielleicht ist es ja wirklich sowas wie schlechtes Gewissen.“
Sie erzählte. Sie waren auf die Böschung bei der Eisenbahnbrücke zugerast. „DAS WAR’S!“ schrie er. „ICH KILL UNS BEIDE!“ Der Abhang kam immer näher, im Fernlicht. Der Motor so laut. Sie, nackt in den Sitz gepresst …. Erst im allerletzten Moment fing er den Wagen ab, rutschend, kreischend, ausbrechend. Es war Millimeterarbeit. Er hielt an. Legte die Hände um ihren Hals. „Wenn ihr noch einmal … NOCH EINMAL …..“
Man konnte nichts erkennen an ihrem Hals.
„In der Nacht haben wir dann lange geredet“, sagte sie. „Tja, und das Ergebnis siehst du.“
Wir gingen in mein Bett. Unser Bett.Wir jagten uns nackt durch das Haus, vor offenen Fenstern. Liefen nackt in den Garten. Wir gingen zusammen in die Badewanne. Wir gingen wieder ins Bett. Aßen im Bett, tranken im Bett. Wir mussten es nicht neu beziehen; oder Handtücher unterlegen. Ich liebte die Flecken auf dem Laken. Wir sahen im Bett Dokumentationen über Elvis. –
Was für Tage! Es war unglaublich. Morgens gab sie mir vor seinen Augen einen Begrüßungskuss. Alles leuchtete. Selbst die Schule leuchtete. Wenn ich mal hinging. Mein Kumpel deutete an, ich fragte nach, er grinste nur. Mir gefiel das. Der Weg nach Hause leuchtete am meisten. Es kann in jenen Tagen keine Wolken gegeben haben. Immer lief sie auf mich zu. Immer zogen wir uns sofort aus.
Abends saßen wir zu dritt vorm Fernseher, oder wir spielten mal wieder Karten. Dann war nur noch sie nackt. Wir lachten. Er begrabbelte sie ab & zu. Ich lachte trotzdem.
Wenn ich sie nachts stöhnen hörte, lachte ich nicht mehr. Aber noch schlimmer war es, wenn ich es morgens hörte. Es war, als wollte er sie, bevor er das Haus verließ, noch mal ordentlich durchficken, damit ich weniger von ihr hatte. So dachte er, ich war mir sicher. Eine Rechnung, die nicht aufging.
Nach ungefähr einer Woche war es vorbei. Er nahm sie einfach mit. Kein tagsüber hast du sie mehr. Sie war tagsüber nicht mehr zu Hause. Abends verschwanden sie sofort im Schlafzimmer; ich hatte keine Gelegenheit, mit ihr zu sprechen. An diesen Tagen ging ich durch die Zimmer. Ich drehte die Musik auf. Unsere Musik. Musik, die mich noch weiter runterzog. Leonard Cohen. Ich setzte mich ins offene Fenster. Hin & wieder wechselten mein Kumpel & ich einige Worte von Fenster zu Fenster, aber er wußte, wie ich drauf war, und ließ mich in Ruhe, als er merkte, dass ich nicht reden wollte. Ich versuchte zu lesen, dort auf dem Fensterbrett. Es war mein Lieblingsplatz, wenn sie nicht da war. Wenn es Dunkel wurde, blieb ich dort sitzen, machte kein Licht, überblickte den Ort & wartete auf das vertraute Motorengeräusch. –
An einem dieser Abende hielt der Camaro, und auf der Beifahrerseite stieg eine Frau mit dunkler Kurzhaarfrisur aus.
Ich wußte, dass sie es war. Und ich wußte, es war vorbei.
Sie kamen ins Haus, sie gingen ins Bad.
Ich klopfte an die Badezimmertür.
„Ja?“ sagte mein Bruder.
Ich öffnete die Tür, beachtete ihn nicht, sagte zu ihr (meingott, wie sieht sie aus!):
„Kommst du mal, ich muss mit dir sprechen.“ Ich machte sofort kehrt, ohne auf Antwort zu warten. Ging in mein Zimmer, setzte mich aufs Bett.
„Ich erklär’s ihm nur“, hörte ich sie sagen.
Sie kam herein, setzte sich neben mich.
„Bitte nicht“, sagte ich & fing sofort an zu heulen. Zitterte.
Sie weinte. „Ich kann nicht mehr“, sagte sie, „es hat keinen Sinn. Das mußt du verstehen.“
Irgendwelche Sätze folgten. Alles verschwamm.
Er rief nach ihr. Mit bestimmtem Ton.
Sie ging ………….
Die Tage wurden trübe. Viele Tage. Eine Woche : das sind viele Tage. Eine Woche, in der ich wie im Nebel ging.
Für meinen Bruder war die Sache geklärt. Aus der Welt. Aus seiner Welt. Alles normalisierte sich wieder.
An dem ersten Tag, an dem er wieder alleine zur Arbeit fuhr, stand sie plötzlich hinter mir. Sie nahm mich in den Arm, ich drehte mich herum. Ein Kuss. Ein Kuss. Ein Kuss.
„Es tut mir leid“, sagte sie.
Wir gingen ins Bett. Mit Angst. Angst, die stark war. Aber nicht stark genug.
Wie seltsam war es, diese dunkle Männerfrisur zwischen meinen Beinen zu sehen. Wie seltsam, in dieses Haar zu fassen, während der Kopf sich auf & ab bewegte. Und ich das Schlucken hörte.

„Möchtest du reiten?“ fragte meine Mutter.
„Oh ja“, sagte ich.
Es war ihr 2. Kuraufenthalt auf Norderney. Nun war ihr Mann eine Leiche, und ich wollte reiten.
Das Pferd erschien mir riesig. Ich fühlte mich so klein. Es nickte mit dem Kopf, als ich neben ihm stand. Ich streichelte – vorsichtig – seine Blässe.
Der Typ, der dieses Touristengeschäft betrieb, sagte:
„Es scheint dich zu mögen.“
Das gefiel mir; ich musste grinsen. – Er hob mich hinauf.
Ich ritt im Kreis. In einer Gruppe. Ab & zu gab es eine Diagonale. Ich federte. Wie man es mir erklärt hatte.
Ausblick von oben.
Leichter Trab. Mehr war es nicht.
Aber Leichter Trab erschien mir schnell. –
Meine Mutter hatte ein kleines Appartment gemietet. Als wir Abends zurückkehrten & das Licht einschalteten, wurden die Kakerlaken hysterisch; sie versteckten sich …. unter den Fußleisten …. hinter dem Herd …. hinter Schränken; eine, auf der Suche nach einem Versteck, lief über meinen Schuh – ich unterdrückte einen Schrei.
Es gab einen Kühlschrank voller Minibarfläschchen. Ich roch am Whisky. Trank ihn. Fand ihn eklig. Ahnte, dass ich ihn – irgendwann – lieben würde. Und alle seine Brüder & Schwestern. Und Schwägerinnen.
Ab & zu gingen wir kegeln.
Es war das Jahr, als ABBA den Grand Prix gewannen. Wir sahen es hier, in diesem Apartment. Und die beiden Mädels machten mich geil.
Aber dazu gehörte nicht viel.

Mein Vater konnte seine Schwiegereltern nicht leiden. Die genauen Gründe erfuhr ich nie. Aber mein Großvater war ein überzeugter Nazi gewesen, und schon das allein mußte meinen Vater abstoßen.
Sie waren sehr einfache Leute. Lasen keine Bücher. Mein Großvater roch nach filterlosen Ägyptischen Zigaretten & billigen Zigarren. Ich liebte diesen Geruch & seinen Humor. In einer alten Zigarrenkiste bewarte er seine Nazi-Memorabilien auf.
Seine ersten Lebensjahre verbrachte mein Bruder dort bei den Großeltern. Denn er war in die Lebensplanung meiner Eltern geplatzt. Ein Kondom war geplatzt. Es war kein Platz für ihn. Damals.

Charles Bronson. Lässig. Der öde weite Platz aus Sand. Die Sonne. Die hellen Klamotten, die er trägt. Die Bewegung der Kamera. Aufbau der Spannung. Morricone … Morricone … Morricone ….. Die erschreckende E-Gitarre, als Henry Fonda seitlich ins Bild kommt. Schwarz gekleidet, angespannt. Blicke in Techniscope.
Mein Vater lag auf dem Sofa. Schaute TV: Kennen Sie Kino? Sah diesen Ausschnitt. Er kannte den Tod aus der Nähe. Aber er kannte ‚Spiel mir das Lied vom Tod’ nicht. Meine Mutter & ich hatten den Film gemeinsam im Kino gesehen.
„Na“, sagte mein Vater, „sieht so aus, als müsste Henry Fonda gewinnen. Bronson ist zu lässig.“
„Und hat zu lange Haare“, sagte ich.
Mein Vater lächelte.
Meine Mutter sagte: „Das verraten wir dir nicht. – Schließlich musst du den Film unbedingt noch selber sehen.“
Wenige Wochen später war mein Vater tot. Er starb in dem Glauben, dass Henry Fonda gesiegt habe.

Ich griff nach der kleinen Reißleine. Zog langsam den Tampon heraus. Weiches Gleiten. Es war nicht allzu viel Blut daran. Ich legte ihn auf das Silberpapier, das von der Tafel Schokolade übriggeblieben war, die wir zuvor gegessen hatten. Schob das ganze unters Bett.
Sie lächelte. „Ich hoffe, du weißt was du tust.“
„Ich weiß nie, was ich tue“, sagte ich.
Ich fing an, sie zu lecken. Im alten Ehebett meiner Eltern. In dem manchmal auch eine Freundin meines Vaters mit-übernachtet hatte. In dem mein Vater so viele Bücher gelesen hatte.
Dies Schlafzimmer befand sich im Keller. Direkt unter dem Schlafzimmer meiner Mutter. Die nun ein Einzelbett hatte. Freud persönlich hätte es nicht treffender arrangieren können. Wir konnten ihre Schritte hören. Über uns. Sie hörte unsere Stimmen. Unter sich. Hörte das Stöhnen.
Der Kleine schlief ebenfalls oben – in dem Zimmer, das meines gewesen war. In meinem alten Bett.
Mein Bruder tröstete sich mit anderen Frauen. 500 Kilometer weit weg.
Meine Zungenspitze an ihrem Kitzler …… Heftiges Atmen …… Ihre Finger in meinen Haaren …… Dann: 69 … sie oben …… Meine Hände auf ihren Arschbacken …. Mein Schwanz in ihrem Mund ….. Keine Angst, keine Angst ….. Keine Furcht, erwischt zu werden, keine abgelenkte Aufmerksamkeit, kein Lauschen auf den Schlüssel, der ins Schloss fährt, kein Erschrecken, kein Aufspringen, keine gestammelten Erklärungen …… Ekstase … Fick … Rücksichtslosigkeit … Entspannung …… Spritzen …. (‚Kleiner Tod’ ? = ‚Sterbchen’ ?) ……
& da war nur wenig Blut an meinem Schwanz.
Und es war besser als Karten spielen.

Einige Spinnen & Asseln im Keller sind meine Gesellschaft. Die Pendeluhr habe ich angehalten; denn irgendwann, ganz plötzlich, nach Jahrzehnten, nahm ich sie wieder wahr – & sie schien immer lauter zu werden; so sehr, dass ich es nicht mehr ertragen konnte.
Das Kellerzimmer mit dem Ehebett meiner Eltern ist voll von Gerümpel. Alles Unliebsame habe ich dort einfach hineingeschmissen; auf das Bett, unter das Bett, neben das Bett. In einer Ecke schimmelt die Wand.
Die Geister sind ausgetrieben. Gründlich.
Das ehemalige Schlafzimmer meiner Mutter wird bevölkert von Schaufensterpuppen; meine (kleine) Hommage an Mario Bava. Bunte Lichter. Eine Matratze auf dem Fußboden. Für gelegentlichen anonymen Sex. Für alles, was nicht in meinem Bett stattfinden soll. Und letztlich nichts bringt.
Ein weiteres Zimmer im Keller ist vollgestopft mit den alten wissenschaftlichen Büchern meines Vaters. Nur in diesem Zimmer rauche ich. Die ursprünglich weißen Tapeten sind fast schon braun. Braun wie die Zigarrenkisten meines Großvaters. Die Bücher riechen nach Zigarrenqualm. Nach Staub. Ihr Inhalt ist zum Teil längst überholt; wissenschaftlich eindeutig falsch. Worte aus Schall & Rauch. Es fasziniert mich, diese falschen Fakten (die keine sind) zu lesen. Aus einer Zeit, als man glaubte, die Wahrheit gefunden zu haben.
Der Tod hatte meiner Mutter die Maske der Krankheit abgenommen. Es war seltsam. In ihren letzten Lebensjahren war sie zur Gestalt aus einem Horrorfilm geworden; sie ähnelte der Leiche aus ‚Die 3 Gesichter der Furcht’ oder einer Ägyptischen Mumie noch weitaus mehr, als mein toter Vater es getan hatte (Schmieren sich Bestatter Wick Vaporub unter die Nase?). – Und dann, als ich ihre Leiche im Krankenhausbett sah, war ihr Gesicht entspannt. Fast sah sie aus wie früher … sehr viel früher ….. Ich beugte mich zu ihr hinunter, um mich zu verabschieden.
„Es tut mir leid“, flüsterte ich.
Sterbchen …. Sterbchen ….
Bei ihrer Beerdigung sahen wir uns alle – nach vielen Jahren – wieder. Leuchtend gelb: die Sonne. Mein Neffe: größer als ich. Mein Bruder: grau. Sie: immer noch älter als ich („Du bist zu jung…“); und einmal wurde sie rot wie die kegelförmige Urne meiner Mutter; ansonsten: Blässe. Wie lange dauerte die Beerdigung? – – : 20 Minuten?
Der Vorname meiner Mutter beginnt mit M, aber er lautet nicht Marianne.
Ich bin ein paar Monate älter als Leonard Cohen damals. Damals – seems so long ago.
Die Minibar wurde zur Riesenbar.
Ich bin ganz schön alt geworden.
Aber – – – da hab ich ja wohl ein Recht zu. – –
Und Henry Fonda landete im Staub.

…………………†……………………….†………………………..†………………..

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Die Jalou Sie

Sie
ist eine Jalou Sie
die mich verdunkelt

Eine Jalou Sie
die den Tag aussperrt

Ich lasse sie
herunter

Sie
ist eine Jalou Sie
die das Lampenlicht fordert

Ich liebe
Lampen & ihr Licht

Ich liebe Lampenlicht
& deshalb liebe ich Jalou

Sie


Schon vorbei

Der Blitz am Nachthimmel
schon vorbei

Dein Lächeln
schon vorbei

Der Traum
schon vorbei

Das Jahr
schon vorbei

Die Schmerzlosigkeit
schon vorbei

Der Schmerz
schon vorbei

Niemand wird geschont.

Die Kindheit
schon vorbei

Der Gedanke
schon vorbei

Die Musik
schon vorbei

Die Lebensmitte
schon vorbei

Der Donner
schon vorbei

Der Einfall
schon vorbei

Der Ausfall
schon vorbei

Das Gedicht
schon vorbei

Und schon kommt
der Tod vorbei


Formel Eins

Geistlose Menschen fahren Runde um Runde
in geistlosen Maschinen.
Geistlose Menschen schauen ihnen dabei zu
& lauschen den Kommentaren geistloser Menschen.

Runde um Runde
Maschine um Maschine
Mensch um Mensch
Wort um Wort
Leben um Leben

Wenn
Das Sein an sich
sinnlos ist – kann dann etwas noch sinnloser
sein?

Der Geist sagt:
Nein.

Mein Gefühl sagt:
Ja.


Wie üblich

Da saß ich also wieder
wie üblich
Der Lehrer schaute sich um
wie üblich
Ein philosophischer Text war vorgelesen worden
Kant oder irgendein anderer von diesen Jungs
Der Lehrer hatte die Frage gestellt:
„Wer hat den Text verstanden?“
2 oder 3 Mitschüler zeigten auf
wie üblich
Er schaute sich weiter um
Schaute mir in die Augen
als erwarte er etwas von mir
Ich schaute weg
wurde rot
wie üblich
betrachtete die Aufzeiger
Ich hatte kein Recht aufzuzeigen
Die Frage war falsch formuliert
wie üblich
Sie hätte lauten müssen:
„Wer glaubt, den Text verstanden zu haben?“
Meine Arme waren schwer
wie üblich


Der Beweis

Ich weiß nichts
über meinen Urgroßeltern
nichts über meine noch ferneren
Ahnen

Fast ist es für mich
als hätten sie niemals
existiert

Und ausgerechnet ich
bin ein Beweis dafür
dass sie es taten –

Was noch beweise ich
ohne etwas davon zu wissen?

Was beweise ich
vielleicht
ohne es zu
ahnen?


Die kranke Struktur

All das Geschreibsel
Das All meiner Erinnerungen
Der unsinnige Versuch, irgend etwas zu
bannen

Nichts als ein löchriger Teppich
von besoffenen Motten zerfressen
Eine kranke Struktur, die
kaum beweist, dass ich
existierte

Und in den Löchern
zwischen den ausgefransten Fäden
haust das Grauen –
Das verschwiegene Entsetzen, das
sich den Worten entzieht –
Das Nichtmitteilbare

Schweigen