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Reformationstag

[Auf dem Lokus blätterte ich
in einem alten Video-Katalog
von Beate Uhse. Einer der Pornos hieß:
Heißer als Lava
Was mir dazu augenblicklich einfiel –
je nun, Folgendes.]

▪️▪️▪️▪️▪️▪️

🎶 Heißer als Lava
Ist ihr Kadaver 🎶

Wenn ich übern Friedhof schleiche
Freu ich mich auf ihre Leiche
Mit dem Spaten in den Händen
Zuckt es schon in meinen Lenden

An ihrem Grabe muss ich graben
Um mich an ihrem Leib zu laben
Ich klopfe an womit auch immer
In silberblassem Mondenschimmer

Sie liegt so schön in ihrem Sarg
Sie liegt so still wie ich es mag
Ganz feucht ist sie und weich
Ich komme, Schatz, ich komme gleich

Du riechst so gut und schweigst so schön
Wir wollen gleich nach Hause gehn
Da kuscheln wir und schlafen lange
Ich küsse deine dunkle Wange

Ich streichle zärtlich deine Waden
Liebkose lüstern deine Maden
Immer will ich bei dir liegen
Rotten stinken Würmer kriegen

Natur sind wir für lange Zeit
Ein kleiner Teil von Ewigkeit
Und wenn es wohl auch seltsam klingt
Ich liebe was aus uns entspringt


Endlich daheim!

Ich irrte

durch eine düstre
Anstalt

wandelte
heimlich

durch ihre irren
Gänge

& ging in die Irre
die eine Falle
war

Ich verwirrte mich
in mir

auf leeren Fluren
verwandelte ich mich

in Etwas, das
anders war

als das Gewohnte

mit seinen unheimlichen Zimmer
fluchten

Ich verging mich
an meinem alten Ich

das ich
verfluchte

Ich verfiel
& fiel dem Irr
Sinn anheim

& machte keine Anstalten
zu fliehen

Aus

dieser neuen Wohnung
die ein Irrsinn war

von Vielen

Endlich

Da

Heim!


Tut-ench-Amun

In der Bücherwand lebte das Bild der Mumie.

In einem der Wohnzimmer meiner Kindheit.
Irgendwo – im zufällig erscheinenden Farbmuster
tausender Rücken aus Leinen, Leder & Pappe wartete
der Tod auf mich. Der Tod als plötzliche Gewissheit.
Götter, Gräber & Gelehrte hieß das Buch
(ein Bestseller, Pfui Deibel!).
Nichts ahnend blätterte ein junges Ich darin –
Fotos goldener Schätze; Vasen, Masken, bunt & schön;
die Landschaften Ägyptens & die Gesichter von Männern, die
sich über einen Sarkophag beugten & die Ruhe eines Toten störten…..
Und diese 1 Seite, die ich umschlug, war
die Grabkammertür zu künftigen Albträumen.
Der Kopf des verstorbenen Pharaos starrte in mein Kindgesicht
aus grauen Augenhöhlen; – Jahrtausende senkten sich
auf mich herab, und der Tod griff nach mir
wie eine Wirklichkeit, von der ich immer nur
fantasiert hatte – in den dunklen Zimmern der Schlaflosigkeit.
So wirst DU aussehen …. So werden DIE ELTERN aussehen ….
So werden DIE BRÜDER aussehen …. grau, papieren,
rissig, geädert, die Lippen zurückgezogen vom brüchigen Gebiss ….
Der Tod Der Tod Der Tod! …. Sieh es dir an, dieses Bild! Das bist

Ich schlug das Buch zu. Stellte es zurück. In die Bücherwand.
Nie wieder wollte ich es öffnen.
Als wäre es notwendig gewesen – noch einmal
hineinzuschauen! Das Bild lebte. Pulsierte in mir
lebendig, nur allzu lebendig – lebendiger als jede Anschauung,
lebendiger als jeder Nachtmahr, plastisch
wie eine überfahrene Katze in der Straßenmitte.
Doch allein – dieses Buch im Hause zu wissen, zu wissen,
dass dieses Foto mir so nahe war; dass dieses Mumiengesicht
aus einer Seite heraus auf die gegenüberliegende Seite des
geschlossenen Buches starrte – aus grausiggrauen Höhlen,
die lid- & mitleidlos waren….. DAS allein, und allein zu sein
mit diesem Buch in diesem Haus in dieser Kindheit mit diesem
Wissen! …..
Natürlich – zog es mich – wieder & wieder – in die Nähe
des Buches – wie es einen immer zieht – in die diversen Nähen
all dessen, was nicht fern genug sein kann….. Es zog mich, und
es zieht mich in die Nähe des Gedankens, in die Nähe des Todes,
in die Nähe der Todesgedanken. Und der Bücher. Wieder & wieder.
Das Buch ging verloren. Irgendwann. In einem Wechsel – bei
einem Umzug. Ich vergaß es. Beinahe. Und
dann kaufte ich es mir neu. Jahrzehnte später. Es zog mich zurück. Doch
es hatte seinen Schrecken verloren. Die Erinnerung an das Grauen
war nicht das Grauen selbst. Ja,
es hatte Tote gegeben – in der Zwischenzeit; Tote, die mich tatsächlich
erinnerten…. an dieses Bild. Und Andere, die
es nicht taten. Jahrtausende senkten sich auf mich herab, und
ich lebe noch. Wie das Bild der Mumie
in der Bücherwand meiner Kindheit.


Die rollenden Köpfe

Der Mann träumte das Grauen.
Von oben herab schaute er
auf namenloses Elend:
das Viertel eines unbekannten Ortes, das
hoch auf einem Plateau lag
in irgendeiner Welt; gewaltige
steinerne Treppen führten dort hinauf – nur
dass Niemand dort hinauf stieg….
in dieser Welt.
Verfallene Hütten aus schimmelndem Material,
eingefallene Dächer – Dreck & Gestank.
Alles war gräulich, und das Wetter
konnte aus keinem Himmel kommen.
Apathische Menschen lagen am Boden
überall. Und allüberall
waren Kinder.
Körperlose Kinder.
Kleine Köpfe bewegten sich über den Unter
grund – teils schwebten sie wie auf einem Luftkissen, teils
rollten sie über das rissige Grau.
Und der Blick des Mannes, der ebenso körperlos über
Allem schwebte, sah –
wie die Köpfe
immer wieder
auf die Treppen zu
rollten…..
auf die Stufen, die in einen unsichtbaren Ab
grund führten.
Schief & verrottet waren die Stufen – schmerzhaft
pochte die Hilflosigkeit des träumenden Beobachters….
des beobachtenden Träumers. Und dann
fielen
die
Köpfe
die Treppen hinab.
Prallten auf ihre Gesichter, die anfingen
zu bluten; und
das Geschrei, das aus ihren nichtvorhandenen Kehlen drang,
hätte Jeden geweckt –
nur den Träumer nicht.
Die Eltern der stürzenden Köpfe
sahen zu. Taten
nichts.
Lagen herum. Mit bloßen
Füßen, gezeichnet von Blut
ergüssen. Nichts
interessierte sie
mehr. Nichts
konnte sie bewegen.
Die Lethargie machte ihre Augen stumpf
wie die gebrochenen Augen von Toten.
Schreie! Schreie! Schreie!
Kleine weinende Köpfe mit gebrochenen Nasen
rollten & hüpften die Stufen hinunter, der Tiefe entgegen….
wie Spielbälle sinnlosen Leidens …. Kanonenkugeln
aus berstendem Fleisch.
Des Träumers Blick schwebte
über Allem
in einem Himmel
aus dem kein Wetter kam.
Nicht die Schreie, nicht das Weinen, nicht das Wimmern
konnten ihn dem Schlaf entreissen. Und doch
erwachte er.
Aus
einem Grund, den er
nie erfahren würde ….
Aus
einem Ab
grund, den er
nur zu gut kannte…..

Heftig atmend kam er zu sich
in meinem Kopf. Kam er zu mir
in meinem Kopf, der
auf einem Kissen lag.
Sein Herz schlug wild
in meinem Schädel.
Träume stürzten treppab in mir.
Jetzt

musste nur noch

Ich

er
wachen.

Erwachen.

Und
zu mir kommen.

Aus

diesem Traum.


Die Operation

Leben

Sie lag auf dem Tisch
bedeckt von grünem Tuch
Das Tuch hatte ein Fenster
In dem Fenster:
Ihr geöffneter Brustkorb

Der Chirurg
maskiert
operierte
ihr bloßgelegtes Herz

Der Anästhesist
war ein
Sadist

& ließ sie

erwachen


Der seltsame Dieb

Er bemerkte ihn nicht.
Den seltsam grinsenden Mann,
der in der Masse
hinter ihm stand.
Im Gedränge des Lebens.
Und er spürte nicht,
wie die Hand des Mannes
langsam & geschickt
in eine seiner Taschen glitt.
Er bemerkte nicht, dass
der Mann da gewesen war,
und er bemerkte nicht,
dass der Mann
wieder verschwand.
Lange Zeit bemerkte er gar nichts.
Denn er vermisste nichts.
Erst spät,
sehr spät
fand er etwas.
Er fand es in
einer seiner Taschen.
Es war
eine Quittung.
Die Quittung für
sein Leben.
Und für all das, was er
sich selber
angetan hatte.
Und dann begann er
zu spüren,
was ihm
gestohlen
worden
war.

 

(Inwendig vorgetragen:)


Der Friedhof der Hände

Als ich ein Kind war, erzählte man mir:
Wenn ein Toter begraben wird, der in seiner
Kindheit böse war – vor allem zu seinen Eltern -,
dann wächst nach einiger Zeit
eine seiner Hände
aus dem Grab heraus …..

Als Mahnmal
für alle Nachkommenden.

Und in der Finsternis meines Zimmers,
in meinem Bett liegend,
stellte ich mir vor, wie ich
in einer Mondnacht
über einen Friedhof ging ….
Und aus fast allen Gräbern
ragten diese Hände –
in unterschiedlichen Stadien der
Verwesung.
Faulig glitzernd im fahlen Licht.

Viele
viele
Hände

Und es war nicht so sehr Furcht,
was ich fühlte. Denn
ich wusste, ich
gehörte zu ihnen.
Und ich wusste, dass sie es wussten.
Auch meine Hand würde
aus dem Grab wachsen;
auch ich würde
bewegungslos winken.
Und es hatte etwas
Beruhigendes,
nicht allein zu sein.

Es hatte etwas Beruhigendes,
zu den Bösen zu gehören.


Geliebte Albträume

Wie langweilig wäre mein Schlaf
ohne die
geliebten Albträume ! –

Die Toten meines Lebens schicken mir
verstörende Briefe,
bevor sie
plötzlich wieder da sind
& mit fremden Gesichtern
meine Ruhe stören

Blutige Unfälle passieren
in meiner Nähe,
bevor
die Kugel des Psychopathen
in meine Schläfe dringt

Flugzeuge stürzen ab
Schiffe versinken

Flammen züngeln nach mir

In düsteren, verwinkelten Kellergängen
werde ich verfolgt
von meiner Vergangenheit
in Gestalt von
riesigen, untoten Spinnen

Zähne fallen mir aus
& meine Umgebung ist mir fremd

Ärzte schütteln den Kopf
über meiner Leiche

Auf schmutzigem, grauem Kopfsteinpflaster
liegt sterbend
die Geliebte
unter meinem Messer

Wüsten bestehen aus Treibsand
Gärten aus Morast

Der Schweiß
sickert in meine Matratze, während
das Fluchtauto
nicht anspringt

…. nicht anspringt, sobald
die geträumte Wirklichkeit
mir auf den Fersen ist –


Der Traum des Wahnsinnigen

Ein Wahnsinniger träumte
mich in die Welt

Schreiend wälzte er sich auf dem Boden
& konnte nicht erwachen

Wo war er hergekommen?
Niemand wußte es.

Wo würde ich enden?
Ich wollte es nicht wissen.

Rückwärts entfernte ich mich von ihm
behielt ihn im Blick – dann

drehte ich mich um
& rannte

Ich rannte in die Welt
in die wir nicht gehörten

Ich
der Traum des Wahnsinnigen

Und ich höre seine Schreie
überall & jederzeit


Unter Beobachtung

»Sie sind nur zur Beobachtung hier«,
sagte der Mann ohne Gesicht.
Der Raum war leer &
so düster, dass ich
nicht einmal sah, wo das Licht herkam;
auch seine Wände konnte ich nicht erkennen.
Der Raum hätte endlos sein können.
Unbegrenzt.
In meiner Vorstellung war er es.
Aber ich hatte auch eine Vorstellung der
Realität
&
ihrer Grenzen.
»Es wird nicht lange dauern»,
sagte der Mann. »Wir
wollen uns nur
Klarheit verschaffen.«
»Klarheit worüber?« fragte ich.
Ȇber Ihren Zustand. Und
Ihre Eignung.«
»Ich eigne mich für gar nichts«, sagte ich.
»Auch das
ist eine Eignung«, sagte er.
»Aber kein Zustand«, sagte ich.
Vielleicht hätte er gelächelt, wenn er
ein Gesicht gehabt hätte.
Ich stellte es mir zumindest vor.
Ich wollte nicht beobachtet werden;
nur unbeobachtet hatte ich eine Chance,
mich nicht unwohl zu fühlen.
»Ich möchte lieber gehen«, sagte ich.
»Keine Chance«, sagte er. »Niemand geht,
bevor die Beobachtung zuende ist.«
Er
ging.
Dorthin, wo
eine Wand sein mochte.
Oder auch nicht.
Ich
blieb.
Und
fühle mich
be
ob
acht
et
cetera


Der Schweiß in der Matratze

Die Albträume, die mich die größte Menge
an Schweiß kosten, sind diejenigen,
in denen ich jünger bin als in der
Schlaflosigkeit.

Denn
die Hölle habe ich
hinter mir.

Vielleicht habe ich
eine noch schlimmere Hölle
vor mir.

Wahrscheinlich sogar.

Aber von ihr
träume ich nicht.

Gegenwart findet nicht statt
in meinem Schlaf.

Die Matratze ist vollgesogen
vom AngstSchweiß
der Erinnerungen.


Das Mädchen mit den Gedankenstrichen

Schneelose Winternacht. Dunkel wie das Innere einer leeren Mülltonne. Verhaltene Kälte. Trockene Straßen. Ein dünner Mann in langem, schwarzem Mantel humpelt durch eine enge Gasse. Er spricht zu sich – leise, unverständlich. Der Mond ist verschwunden. Wolken wie finstere Gedankenblasen aus einem Comic. Ein Comic, der auf einem Friedhof gezeichnet wurde. Der Mann trägt seinen Kopf voller Erinnerungen wie eine Bürde & eine Cognacflasche in der Manteltasche; es ist immer dieselbe, seit Jahren; niemals trinkt er aus ihr; sie ist seine Beruhigung – sonst nichts. Die Erinnerungen in seinem Kopf – sie sind keine Beruhigung; zu zahlreich sind sie, zertrümmert in viel zu viele winzige Splitter; ein Puzzle, das er nicht mehr zusammensetzen kann. Der Mann ist auf dem Weg nach Hause. Zählt die kaputten Laternen. Zählt die Finsternisse. Und spricht.
Und verstummt.
Plötzlich.
Und er horcht.
Hört ein Weinen.
Ein Weinen, das nach kleinem Mädchen klingt.
Er wendet den Kopf. Versucht, das Weinen zu orten. Düstere Häuserfronten. Mauern wie schmutzige Gedanken.
Das Weinen – es dringt durch ein verrostetes Geländer. Durch das Geländer einer Treppe, die zu einer Kellertür führt. Der Mann nähert sich dem Rost …..
Und er erblickt das Mädchen. Sitzend.
Auf der Treppe, die zu einer Kellertür führt.
Auf einer Treppe, die zu der Kellertür führt.
Er sieht den Rücken des Mädchens, zierlich, in einem dreieckigen Lichtfleck; ein Anorak aus Rot & Schwarz, eine Kapuze wie ein Zuckerhut. Leicht erschüttert vom Weinen.
„So schlimm?“ sagt der Mann.
Rotz, der hochgezogen wird.
„Mh“, ist die Antwort.
Ein Schütteln der Kapuze, wie das Schütteln eines Cocktailshakers.
„Hast du dich verlaufen?“ Fragende Linien auf der Stirn des Mannes.
„Nein.“
„Soll ich dich nach Hause bringen, oder wohnst du hier?“
„Ich will nicht nach Hause“, sagt das Mädchen.
„Aber hier kannst du doch auch nicht bleiben.“
„Egal.“ Das Mädchen nimmt ein Päckchen Papiertaschentücher aus der Anoraktasche, putzt sich die Nase, steckt das benutzte Tuch in die andere Tasche.
„Willst du erstmal mit zu mir kommen?“ sagt der Mann. „Dann können wir immer noch weitersehen.“
„Okay.“
Das Mädchen steht auf, dreht sich herum, faßt nach dem Geländer & steigt weiter ins Laternenlicht. Eine ernste, traurige Miene.
„Du brauchst keine Angst vor mir zu haben“, sagte der Mann.
„Hab ich nicht“, sagt das Mädchen.
„Gut. Es ist nicht weit, nur bis zur nächsten Querstraße.“
Das Mädchen geht, der Mann humpelt. Zieht das linke Bein nach. Keine Verbindung, kein Anderhandhalten. Die Straßen sind menschenleer.
„Was ist mit Ihrem Bein“, fragt das Mädchen.
„Ich weiß nicht. Ich gehe nie zum Arzt. Es schmerzt einfach.“
„Dann sollten Sie zum Arzt gehen.“
„Ja, sollte ich wohl.“
„Und warum gehen Sie nicht?“
„Aus Gewohnheit.“
„Versteh ich nicht.“
„Egal“, sagt der Mann. „Wie heißt du eigentlich?“
„Sina.“
„Schöner Name. Ich heiße Edward, und das ist ein blöder Name.“
„Find ich nicht.“
„Hmm, danke. Und wie alt bist Du?“
„11 ½.“
„Du wirst bestimmt längst vermisst. Deine Eltern werden sich Sorgen machen.“
„Nein. Die sind tot. Schon lange.“
„Tut mir leid. Aber irgend jemand wird sich Sorgen machen. Bei wem wohnst du denn?“
„Ich möchte nicht darüber sprechen. Nicht jetzt.“
„Okay“, sagt der Mann, „nicht jetzt. Aber später müssen wir darüber sprechen. Du kannst übrigens ruhig du zu mir sagen.“
Das Mädchen schweigt.

Die Wohnung lag im 2. Stock. Sie war klein, 2 Zimmer, Küche, Bad. Sie war unordentlich, voller Bücher & Staub. Bücher von toten Autoren; ausschließlich. Voll von Flaschen, die Wohnung. Viele alte Erinnerungen, wenig neue. Der Mann drehte die Heizung etwas höher & räumte Bücher & Zeitschriften von einem Sessel, damit das Mädchen sich setzen konnte. Anorak & Mantel lagen auf dem Sofa. Das Mädchen trug rote Jeans & ein schwarzes Sweatshirt. Es sah sich schweigend um, während der Mann damit beschäftigt war, Tee zuzubereiten. Seltsam & ungewohnt war es für ihn, jemanden in seiner Wohnung zu haben. Er hatte keine Tiere – abgesehen von denen, die vielleicht hinter den Bücherstapeln leben mochten. Seine Einsamkeit – er hätte sie als selbstgewählt bezeichnet, wenn er an den Freien Willen geglaubt hätte.
„Hast du Hunger?“ fragte er das Mädchen. „Ich hab hier noch Milchreis von heute Nachmittag.“
„Nein“, sagte das Mädchen. „Hab keinen Hunger.“
„Okay.“
Schließlich saßen sie sich gegenüber. Die Teekanne auf einem Stövchen zwischen sich. Das Mädchen nahm viel Zucker. Der Mann keinen. Das Mädchen pustete in die Tasse.
„Du hast viele Uhren“, sagte es.
„Ein kleiner Tick von mir“, sagte der Mann.
„Aber alle gehen falsch, oder?“
„Nein, eine geht richtig.“
„Warum?“
„Warum was? Warum geht eine richtig, oder warum gehen alle anderen falsch?“
„Warum gehen alle anderen falsch?“ sagte das Mädchen.
„Einfach so. Es reicht doch, wenn eine richtig geht.“
„Du bist komisch“, sagte das Mädchen – ernst.
„Manchmal“, sagte der Mann.
„Was arbeitest du?“ fragte das Mädchen.
„Ich bin arbeitslos“, sagte er.
„Und vorher?“
„Gelegenheitsjobs. Mal dies, mal das. Zuletzt in einer Tankstelle.“
Unter dem Tisch stand eine Rumflasche. Er kippte einen Schluck daraus in seinen Tee.
„Und warum arbeitest du da jetzt nicht mehr?“ fragte das Mädchen.
„Ich hab Schnaps geklaut“, sagte der Mann.
Pädagogischer Fehler, dachte er. Und grinste.
„Richtig geklaut?“
„Ja.“
„Dafür kommt man doch ins Gefängnis.“
Bin ich doch. Immer & immer & immer.
Er sagte: „Nicht für so ne Kleinigkeit. Eine Strafe gibt’s schon, aber kein Gefängnis.“
„Hmm.“ Das Mädchen schien zu grübeln.
Irgend etwas an ihm fand der Mann zutiefst merkwürdig. Befremdlich. Die Augen. Der Blick. Nichts in diesem Blick schien naiv oder kleinmädchenhaft zu sein. Und die Art, wie es sprach, passte nicht dazu; es war, als wollte es mit seiner Stimme & seinen Worten bewußt diese Befremdlichkeit ausgleichen -, und dadurch bewirkte es das genaue Gegenteil.- Dies waren nur verschwommene Gedanken, verschwommene Gefühle in ihm. Struppig wie die schulterlangen Haare des Mädchens. Beinahe verfilzt. Es war ihm egal.
Nicht kindlich, nicht kindisch, sondern – kinderesk.
Er trank die Tasse halb leer & füllte sie mit Rum auf. Er begann, sich gut zu fühlen. Die Gesellschaft gefiel ihm. Seltsam & ungewohnt, zu jemandem zu sprechen. Zu jemandem, der nicht er selber war.
„Du bist sehr alt“, sagte das Mädchen.
„Ja“, sagte er. „51.“
„Das ist wirklich sehr alt“, sagte das Mädchen.
Er lächelte.
Und immer wieder schaute Sina sich in dem Zimmer um, das nach Bücherstaub roch.
„Hast du keinen Fernseher?“ fragte sie.
„Nein“, sagte Edward.
„Echt nicht?“
„Echt nicht.“
„Und keinen Computer?“
„Nein. – Ich habe ein Radio, einen Plattenspieler & ein altes Tonbandgerät.“
Sie schaute sich um nach den Geräten.
„Sowas hast du wahrscheinlich noch nie gesehen“, sagte Edward.
„Doch, hab ich.“
Kurze Pause.
Dann fragte sie: „Und was machst du dann den ganzen Tag?“
„Entweder nichts – oder lesen & trinken & Musik hören.“
„Das könnte ich nicht“, sagte sie ernst.
Edward lachte. Sein linkes Auge juckte; er rieb über das Lid.
„Ist auch besser so“, sagte er.
Sina lächelte nicht.

Er fragt sie nicht.
Er fragt sie nicht.
Er fragt sie nicht.
Nicht jetzt.
Neugierig ist er. Ja. Aber er will nicht wissen, wo sie wohnt. Bei wem sie wohnt. Warum sie geweint. Warum sie auf der Treppe gesessen hat. Sobald er es erfahren würde, müsste er handeln.
Tätig werden.
Agieren.
Zuviel.
Es wäre zuviel für ihn.
Jetzt. In diesem Moment.
Und in dem nächsten wohl auch.
Einen weiteren Rum für ihn. Einen weiteren Tee für sie.
Und Sina niest. Es ist der Bücherstaub. Und sie verschüttet ein bisschen Tee dabei. Und es ist Edward egal.
Und zum ersten Mal lächelt sie.
Ein wenig.

Und wenn eines nie stimmt, ist es das Gefühl für die Zeit. Mein Gefühl für die Zeit. Wie in einer Kurzgeschichte, die nur als Roman funktionieren würde. Wie in einem Roman, der nur ein 2strophiges Gedicht sein dürfte. – Als würde ich mein Leben schreiben, und die Diskrepanz zwischen der Dauer des Schreibens & der Dauer des Lesens führte zu Verzerrungen …..

Edwards Wahrnehmung war verzerrt. Oder er nahm die verzerrte Wirklichkeit korrekt wahr. Er war sich nicht sicher. – Die Wirklichkeit war sich Edwards nicht sicher.

Sina schlief in Edwards Bett. In dem kleinen Schlafzimmer mit den gestapelten Büchern ringsum. Edward hatte das Bett frisch bezogen. Er selbst schlief auf dem freigeschaufelten Sofa. Halbnacht für Halbnacht. Und zu dem Schmerz im Bein gesellte der Schmerz im Rücken.

„Aber sag mal, was ist eigentlich mit der Schule? Dort wirst du doch bestimmt vermisst.“
„Vielleicht“, sagte sie. „Aber egal.“

Edward fühlte Vertrautheit mit Sinas Befremdlichkeit. Sina – ein Rätsel. Edward war an Lösungen nicht interessiert. Rätsel fand er schön, solange sie nicht gelöst waren.

Wurde sie vermisst? Irgendwo? Keine Meldung in den Radionachrichten. Er kaufte ihr eine Zahnbürste, hinkend, kaufte ihr etwas zum Anziehen – in Geschäften, wo man ihn nicht kannte (sie bestand auf rot & schwarz, auch bei Socken & Unterwäsche); er kaufte Tageszeitungen. Nichts. Nichts deutete auf ein Vermissen, nichts auf einen Verlust. Kein Zettel an der Korkwand im Supermarkt, wo er ihre Lieblingsschokolade kaufte. Außerdem kaufte er, zum ersten Mal seit vielen vielen Jahren, ein Frischluftspray fürs Klo – & war fast stolz auf sich, weil er daran gedacht hatte. Der Einkaufswagen war voller Schnapsflaschen & Dosenfutter & Tiefkühlkost.
Das Geld wurde knapp. Er schränkte sich ein. Noch mehr. Sina zuliebe.
Der Fernseher fehlte ihr nicht wirklich. Was fehlte ihr überhaupt? Edward wusste es nicht. Edward ahnte es nicht. Sie las in seinen verstaubten Büchern. In den Gedanken der Toten. In den Gedanken, die Edward vielleicht schon wieder vergessen hatte. Die meiste Zeit des Tages verbrachte sie so. Sie konnte es eben doch; so leben wie er. Mit Ausnahme des Trinkens. Aber sie sprachen niemals miteinander über die Bücher.

Tage vergehen wie Zeilen.
Zeilen vergehen wie Wochen.
Und längst wusste Sina, welche Uhr die richtige Zeit zeigte.

Meist gingen sie erst spät in der Nacht schlafen. Edward schlief schlecht. Er hatte immer schlecht geschlafen, aber auf dem Sofa noch schlechter. Und auch Sina sah manchmal, wenn sie gegen Mittag aufstanden, übernächtigt aus. Und blass. So blass manchmal. Blasser als er, wenn er verkatert war. Und das war er meistens.
Aus Gewöhnung wurde Gewohnheit, aus Gewohnheit Abhängigkeit, aus Abhängigkeit Verlustangst. Edward hing an Sina. Er bezweifelte, dass sie an ihm hing. Niemals berührten sie sich; eine Art schamhafte Zurückhaltung bestand zwischen ihnen. Sie sprachen sich niemals mit Namen an. Das einzige, was so etwas wie Nähe darstellte, war die Tatsache, dass Edward Sinas Anziehsachen in die Waschmaschine tat & anschließend aufhängte; auch ihre Höschen & Unterhemden. – Sina blieb immer in der Wohnung. Wenn er einkaufen ging oder sonst etwas zu erledigen hatte, tat er es allein. Und nie war er sich sicher, ob sie noch da sein würde, wenn er zurückkam.

Später Abend. Leise Musik. Mahlers Zehnte. Sina blättert in Zeitschriften. Im Schneidersitz auf dem Sessel. Ohne Schuhe, wie immer; und immer trägt sie eine rote & eine schwarze Socke. Edward trinkt Absinth, den er sich eigentlich nicht leisten kann. Lauscht der Musik. Betrachtet Sina.
Sie blickt auf.
„Warst du immer schon allein?“
„Nicht immer, aber meistens.“
„Und seit wann bist du’s diesmal?“
„Lange. Sehr lange. – So lange, dass ich es fast nicht mehr weiß.“
„Aber das musst du doch wissen“, sagt sie.
„Na ja, ich weiß es natürlich schon; aber ich möchte es lieber nicht sagen.“
„Hmm. Verstehe.“
Versteht sie? Versteht sie wirklich? Noch bevor sie geboren wurde, war ich wieder allein. – Wie soll sie das verstehen.
„Der schreckliche Mann, bei dem ich wohne, ist auch allein.“
Endlich. Endlich spricht sie.
„Du wohnst bei einem Mann? Wer ist er, und warum ist er schrecklich?“
„Der Bruder meines Vaters“, sagt Sina. „Er ist alt, sehr alt, und er trinkt viel, und dann wird er manchmal böse, und er vergisst alles; er weiß dann gar nicht mehr, was er gemacht hat & dass er böse gewesen ist.“
„Was tut er denn?“
Sie zögert.
„Ach, alles möglich halt.“
„Sag doch.“
„Nein, ich möchte nicht.“
„Okay“, sagt Edward. „Wenn du nicht möchtest.“
Er trinkt einen großen Schluck Absinth.
Dann sagt er: „Er trinkt also. Und er ist alt. Das heißt also, er ist wie ich.“
Sinas Mund lächelt leicht, ihre Augen lächeln nicht.
„Ja, fast wie du“, sagt sie. „Aber nur fast. Du bist ja nicht böse.“
„Stimmt, normalerweise nicht.“
„Bist du’s manchmal?“
„Manchmal. Ja.“
Sie sieht ihn forschend an.
„Und was passiert dann?“
„Was soll schon passieren? Ich trinke einfach etwas mehr, und dann beruhige ich mich wieder.“
Immer noch liegt die aufgeschlagene Zeitschrift auf Sinas Schoß. Eine Filmzeitschrift aus einer Zeit, als es Sina noch nicht gab.
„Und vergisst du dann auch, was du gemacht hast?“
Edward lächelt. „Ich glaube nicht.“
„Du weißt es nicht?“
„Es könnte doch sein, dass ich etwas so sehr vergesse, dass ich nicht mal weiß, dass ich es vergessen habe.“
„Das ist doch Quatsch“, sagt Sina, „das gibt’s doch nicht.“
„Na ja“, sagt Edward, „ein bisschen Quatsch ist es schon. – Aber wer weiß….“
„Hmm… Ich vergesse nie was. Glaub ich.“
„Manchmal isses ganz gut, wenn man was vergisst.“
Sina schaut wieder in die Zeitschrift, blättert weiter.
Mahler klingt aus, Absinth wird nachgegossen.
Ist Selbstzerstörung unvernünftig, oder ist sie nicht vielmehr ein Akt der Vernunft? – Oder ist sie ein Akt des Verstandes?
Der Tonarm des Plattenspielers bewegt sich zurück in die Ausgangsposition.
Und jetzt? Faurés Requiem oder Coltrane?
Er entscheidet sich für Coltrane, steht auf, humpelt, wechselt die Platte. Humpelt zurück. Lässt sich wieder aufs Sofa plumpsen. Sina blättert um & sagt, ohne aufzublicken:
„Trane.“
„Ich fass es nicht“, sagt Edward.
„Der schreckliche Mann hört das auch oft“, sagt Sina.
„Ich sollte ihn mal kennenlernen“, sagt Edward.
Sie schaut auf, schaut in seine Augen. „Lieber nicht“, sagt sie.
„Na gut. Ich lerne sowieso nicht gerne neue Leute kennen.“
„Wieso?“
„Weiß nicht. Vielleicht weil sie mich irritieren, irgendwie.“
„Wieso?“
„Keine Ahnung.“
„Irritiere ich dich?“
Edward grinst. „Irgendwie schon. Aber anders.“
„Wieso anders?“
„Einfach so.“
Pause. Sina scheint über Edwards Worte nachzudenken. Zumindest kommt es Edward so vor.
„Übrigens“, sagt sie, „ich würde morgen gerne mal baden statt zu duschen.“
Netter Themenwechsel.
„Okay. Kein Problem.“
„Aber erst abends“, sagt Sina.
„Gut. Aber nicht zu spät, wegen der Nachbarn.“

Nacht. Stille. Der Mann wälzt sich auf dem Sofa. Hin. Und. Her. Schmerz im Rücken. Absinth im Kopf. Bewusstsein & Halbträume enden in Albträumen. Das Mädchen schläft in seinem Bett. Im Bett des Mannes mit den Schmerzen. Der schreckliche Mann – wer ist der schreckliche Mann? Wo ist er? Was tut er? Was vergisst er? Der Raum ist finster. Der Mund des Mannes ausgetrocknet vom Absinth. Die Kehle brennt. Der Mann hustet. Halbwach. Sinkt zurück in den Schlaf. Wacht wieder auf.
Was für ein seltsames Mädchen …. Was für ein seltsames Kind …. Kein Kind könnte so seine Tage verbringen, herumsitzen in einer engen Wohnung, in der Wohnung eines Fremden …. Bücher lesen …. & was für Bücher, was für Bücher …. Musik hören … & was für Musik …. & vor sich hin starren ….. Vor sich hin starren wie ich …. wie ein alter Mann …. Was hat sie erlebt? Was zur Hölle hat sie erlebt? …..

Der nächste Tag brachte den ersten Schnee. Sina interessierte sich nicht für Schnee. Sie warf einen kurzen Blick aus dem Fenster; das war alles. Dann machte sie das Frühstück, weil Edward zu verkatert war. Als sie am Tisch saßen, sagte sie:
„Und, erinnerst du dich an alles?“
Edward konnte nichts essen.
„Was meinst du?“
„Du hast doch so viel getrunken. Wenn du dich jetzt noch an alles erinnern kannst, dann war das doch wirklich Quatsch, was du gestern gesagt hast.“
Er grinste. Mühsam. „Ja. Ich glaub schon, dass ich mich an alles erinnern kann.“
Sina biss in ihr Marmeladenbrot.
„Siehste.“
Edward trank Grünen Tee.
Der Tag rieselte so dahin. Schneeschieber kratzten über die Gehwege. Edward erholte sich. Wie immer. Gemeinsam bezogen sie das Bett neu, damit Sina es nach dem Bad besonders angenehm haben würde.
Am Abend dann Faurés Requiem.
„Soll ich jetzt das Badewasser einlassen?“ fragte Edward.
„Ja bitte“, sagte Sina.
„Viel Schaum?“
Sie lächelte. Auch ihre Augen lächelten. „Ja.“
Er humpelte ins Bad, drehte den Warmwasserhahn auf, wartete, bis das Wasser richtig heiß war, und tat den Stöpsel in den Abfluss. Dann kippte er eine ordentliche Menge Badezusatz in die Wanne. Der Schaum dämpfte das Rauschen.
„Wie heiß magst du’s?“ rief er.
„Ziemlich heiß.“
Er nahm ein Badetuch & einen Waschlappen aus dem Schränkchen neben der Wanne. Legte beides oben darauf. Er zündete einige Kerzen & Teelichte an, die daneben standen, schaltete die Deckenbeleuchtung aus & eine kleine bunte Lampe ein, eine Art Laterne, die durch verschiedenfarbige Glasfensterchen das Zimmer in verschiedenfarbige Abschnitte unterteilte. Kitschiger Idiot, dachte er & ging zurück.
„Dauert ne Weile“, sagte er. „Der Wasserdruck ist hier manchmal ein bisschen schwach. Und ausgerechnet heute isses so.“
„Okay“, sagte sie, „macht ja nichts.“
Sie las in einer Anthologie expressionistischer Gedichte. Einleitung von Gottfried Benn.
Allmählich breitete sich der Geruch des Schaumbades in der Wohnung aus. – –
Schließlich tat Sina das Buch beiseite; aufgeschlagen.
„Hast du ein Gummiband für meine Haare?“ fragte sie.
„In der Küche; in der Schublade mit dem Besteck.“
Sina stand auf, holte sich ein Gummiband aus der Küche & verschwand dann im Bad. Die Tür ließ sie ein Stückchen offen, da es dort kein Fenster gab & die Lüftung für den Dampf nicht ausreichte.
Edward trank Rotwein, gemischt mit Weinbrand, Wodka & einem Spritzer Angostura. Er hörte Fauré, hörte, wie das Wasser abgedreht wurde. Hörte schließlich, wie Sina „Heiß heiß“ sagte & wieder Wasser zu rauschen begann. Er lächelte. Betrachtete den Dampf, der aus dem Türspalt direkt gegenüber dem Sofa schlierte. Er liebte diese Musik, liebte dieses Getränk, liebte diesen Geruch, liebte diese seltsame Zweisamkeit. Diese Zweisamkeit auf Distanz.
Als die Musik zuende war, lauschte er nur noch dem Plätschern, das aus der Wanne kam. In Intervallen. Er mixte sich einen weiteren Drink.
Vergessen Vergessen Ja wenn ich vergessen könnte Verdrängen Das Ende Das Nichtandauern Das Immergleiche Einfach mal geniessen könnte wie es ist Jetzt Jetzt gerade Ohne zu denken Ohne zu wissen Wer ist sie Was bin ich für sie Sie will doch gar nicht gehen Sie will doch hierbleiben Adoption Ach Quatsch Ich und Adoption Mir würde man jemanden anvertrauen Ja klar Ausgerechnet Arbeitsloser Säufer Dieb und wer weiß was noch alles Träumereien Immer diese Träumereien Aber sie sind das einzige Das einzige was ich immer habe Egal Seltsames Kind Seltsames Kind Seltsames Mädchen Und nirgends vermisst Ich hatte sie vermisst Wahrscheinlich Na klar Kitschiger Idiot Kitschiger alter Idiot Kitschiger sehr alter Idiot Das Buch Ha aufgeschlagen bei August Stramm ‚Welten schweigen aus mir raus’ Seltsames Kind Die Eltern tot Ich sollte sie danach fragen Endlich mal danach fragen Aber wenn sie nicht von sich aus Dann hats ja wohl keinen Sinn Sie wirds schon erzählen irgendwann Nicht mehr viel Wodka Verdammt Müsste einkaufen morgen Macht sie irgend etwas anderes wenn ich nicht da bin Liest sie wirklich nur Ich will nicht einkaufen Dieses verdammte Rausgehen Unter Menschen Und dann komm ich zurück und sie ist vielleicht wirklich nicht mehr da Das würde ich nicht Wie sollte ich das ertragen Aber wo sollte sie hin Zu dem schrecklichen Mann Schrecklicher Mann Wer weiß ob das alles stimmt Sie hat Fantasie Viel Fantasie Das Plätschern Wie süß Das kleine Mädchen in der Wanne Spielt mit dem Schaum wahrscheinlich Kleines zierliches Wesen Im warmen Wasser Ich könnte ihr den Rücken schrubben Na klar alter Idiot Sonst nochwas Ich sollte auch mal wieder baden Heiss ganz heiss Und mir dabei einen runterholen Und vergessen Das war doch ein guter Satz den ich ihr gesagt habe Mit dem Vergessen Nonsense Aber nicht nur Wie lang isses denn nun wirklich Das Alleinsein Egal Wenn ich nachrechnen würde wüßt ichs Aber warum sollte ich Es ist egal Egal
Er schloss die Augen. Ein rotes Karussell. Ein leichtes Schwindelgefühl war die Folge. Er öffnete sie wieder.
„Alles okay bei dir?“ fragte er.
„Yep“, kam die Antwort durch den Dampf.
Er lächelte. Wunderte sich, wie oft er doch lächeln musste. Überlegte kurz, ob er eine andere Platte auflegen sollte – verwarf den Gedanken, weil Musik das Plätschern übertönt hätte. Er fragte sich, ob die Nachbarn Sinas Stimme hörten. Wenn ja, was würden sie denken? Was vermuten? Er, der menschenscheue Sonderling – & aus seiner Wohnung dringt eine Kinderstimme…… Die Stimme eines kleinen Mädchens….. Sie waren nur Selbstgespräche gewohnt. Falls sie überhaupt etwas hörten. Er selber hörte fast nie etwas von ihnen.
„Du?“ rief Sina.
„Ja?“
„Kannst du mir ne Cola bringen?“
„Kommt sofort.“
Sein Herz pochte ein wenig schneller. Sein seltsames Herz. Er stand auf, etwas wacklig, und humpelte in die Küche. Füllte ein großes Glas. Humpelte zur Badezimmertür. Schob die Tür in den Dampf. Die Flämmchen tanzten. – Der kleine Kopf, gerötet & nass, ragte aus dem buntbeleuchteten Schaumpanzer. Kleine ….. Schildkröte. Die Gummibandfrisur stand ihr gut, halb Zöpfchen, halb Dutt. Sina lächelte. Zufrieden.
„Gemütlich, was?“ sagte Edward.
„Oh ja.“
Er trat an die Wanne & reichte ihr das Glas in die beschäumte Hand.
„Danke“, sagte Sina.
„Bitte. Aber trink nicht zu schnell; die ist sehr kalt.“
„Und ich bin heiss, ich weiss“, sagte sie & kicherte.
Edward grinste & wandte sich wieder um. Vor einem dunstblinden Spiegel. Hitze & Feuchtigkeit auf seiner Haut. Der Spiegel hing über dem Waschbecken, in das er so lange seine einsame Geilheit gewichst hatte. Er hob Sinas Klamotten auf, die sie auf den Boden geworfen hatte, und tat alles bis auf die Jeans in den Korb mit der Schmutzwäsche.
„Kannst die Tür offen lassen“, sagte sie, „ich ersticke sonst noch.“
„Okay. Bleib nicht zu lange drin. Nicht, dass du total verschrumpelst.“
„Ich verschrumpel gern“, sagte sie.
Er hinkte ins Schlafzimmer, legte die Hose ordentlich zusammen & ging zurück zum Sofa. Ließ sich fallen, trank einen kräftigen Schluck. Dann dachte er:
Jetzt, wo ich sie sehen kann, ist das Plätschern nicht mehr so wichtig. Also -: Musik.
Die Frage war, welche. Was passte zu dem Anblick, was zu der Stimmung? Einzelne Sätze hätten gepasst: der 4. aus Mahlers Fünfter Symphonie; das Air aus Bachs Suite Nr. 3 …. Aber die anderen Sätze hätten nicht gepasst. So ist es ja immer. – Er erinnerte sich an ein Tonband, das er vor Jahren, vor wievielen Jahren?, zusammengestellt hatte …. ‚Kerzenmusik’ hatte er es genannt & die Hülle so beschriftet. ‚Bademusik’ hätte er es ebenso gut nennen können. Er hatte vergessen, was alles darauf war, aber er wußte, alles war beruhigend & entspannend. Er hatte nicht allzuviele Bänder, also musste er auch nicht lange suchen. Er fädelte es ein, drückte auf die Starttaste & setze sich wieder.
Erik Satie, Gymnopedie No. 1 …. Als die Musik einsetzte, schaute Sina über den Wannenrand herüber. Nur ganz kurz. Dann spielte sie wieder mit dem Schaum. Kurz. Und schloss die Augen. Entspannt.
Kitschiger alter Idiot, dachte Edward.
Und trank.
Und trank.
Wenn ich jetzt pissen müsste ….. ungünstig ….. Müsste die Spüle benutzen …..
Grinsen.
Aber er musste nicht.

Die Mutter ruft:
„Eddie, Robert, Hände waschen! Essen ist soweit!“
„Wer zuerst fertig ist“, sagt Robert & springt vom Boden auf, wo das große Puzzle liegt; halbfertig. Ein Comic-Motiv. Donald Duck. Und seine Neffen. Wieviele Teile? Eddie glaubt, 1000. Robert glaubt, 500. Es gibt keine Verpackung mehr, wo man nachsehen könnte. Und sie wissen nicht, ob es noch vollständig ist.
„Hey, warte“, ruft Eddie, „das ist unfair!“
Er braucht etwas länger, um aufzustehen; läuft Robert hinterher. Ins Bad.
Wo das Wasser schon rauscht.
„Erster“, sagt Robert.
„Du hast geschummelt. Du schummelst ja immer. Wir hätten gleichzeitig starten müssen.“
„Du bist halt ne lahme Schildkröte. Du hättest sowieso nicht gewonnen.“
„Stimmt ja gar nicht.“
„Wohl.“
Die Mutter ruft:
„Wird’s bald?!“
Die beiden rufen, fast unisono:
„Wir kommen schon!“
Eddie ist 11, Robert 13.
Es gibt Reisbrei mit Zimt & Zucker. Ein Essen, das Eddie hasst. Und das er lieben wird, wenn er erwachsen ist.
„Robert“, sagt die Mutter, „nach dem Essen bringst du den Müll runter.“
Robert zieht eine Fresse. Eddie grinst.

Ninna Nanna in Blu, Ennio Morricone.
Wie seltsam …. Ich war immer derjenige, der gesagt hat, dass er heiraten will, viele Kinder will …. und er …. ‚Niemals’ hat er gesagt …. Und dann …. Aber so isses ja immer …. Oder war’s umgekehrt? …. Gott, bin ich besoffen …. Soviel Dampf, schlecht für die Bücher … Na und? Scheiß drauf! ….
Der Dampf hatte sich verteilt. Die Sicht im Badezimmer war wieder klar. Der Blick auf das genießende Köpfchen am Wannenrand. Und der Schaum wurde weniger. Nur Edwards Blick war verschwommen.
Und die Zeit verging in Musik.
Schließlich schaute Sina zu ihm herüber.
„Machst du bitte mal die Tür zu? Ich will jetzt raus.“
„Na klar.“
Er stand auf, ging zur Tür. (Irgend etwas von Angelo Badalamenti.) Er sah, dass der Schaum weg war, sah Sinas Schultern ….. Schwarze Striche darauf, auch unterhalb des Halses ….
„Was zur Hölle ist das?“
Sie sah ihn ernst an. Die überhitzte Röte war aus ihrem Gesicht gewichen.
Edward sagte: „Das da, an deinen Schultern – was ist das? Sieht aus wie Schnitte.“
Er wollte nähertreten.
„Nicht!“ sagt Sina & versucht, sich hinter ihren dünnen Ärmchen zu verstecken.
Er hält inne.
„Okay okay. Ich komm nicht näher. Aber nun sag schon, verdammt noch mal.“
„Ja. – Ja, es sind Schnitte.“ Ihre Stimme zittertert ein wenig.
„Oh mein Gott“, sagt Edward. „Wie …. Wer …. War das der Mann? Der schreckliche Mann?“
„Ja.“
Er hält sich an der Türklinke fest. Etwas in ihm krampft sich zusammen.
„Arme Kleine“, sagt er. „Du musst mir jetzt seinen Namen sagen & seine Adresse, unbedingt, ich geh zur Polizei, ich zeig das Schwein an.“
„Kommt er dann ins Gefängnis?“
„Mit Sicherheit. Dafür gehört er in den Knast.“
„Und er kriegt nicht nur so ne andere Strafe? So wie du?“
„Aber nein. Natürlich nicht. Oh mein Gott, sieh dich doch an. Dieses Schwein. Dieses verdammte Schwein. – Wo hast du noch überall… ich meine, wie weit runter gehen die Schnitte?“
„Ein bisschen am Bauch. Und ein bisschen an den Beinen.“
Edward ist kurz davor zu weinen; er hält sich zurück.
„Brennt das nicht im Badewasser?“
„Nein.“
„Also, sag schon, wer ist er?“
„Ich möchte nicht.“
„Sina bitte.“ Zum ersten mal spricht er sie mit Namen an. „Du musst es mir sagen. So jemand darf doch nicht frei rumlaufen.“
„Nein bitte“, sagt sie. „Vielleicht später. Aber nicht jetzt.“
„Immer später später später, und immer vielleicht. Du brauchst keine Angst zu haben.“
„Ich hab keine Angst. Und jetzt bin ich ja bei dir. Es ist doch alles okay so.“
Ein Grund. Dies ist ein Grund, sie erst recht hier zu behalten. Sie nicht mehr zurück zu lassen. Zurück zu diesem schrecklichen Mann.
Jetzt oder nie.
„Wie sind deine Eltern gestorben?“
Die Frage scheint ihr nichts auszumachen.
„Autounfall.“
„Wann?“
„Da war ich 2.“
„Und du bist sofort zu diesem … diesem Onkel gekommen?“
„Ja. – Bitte“, sagt sie, „ich möchte jetzt raus. Ich friere.“
„Ja. Ja natürlich. Sorry. Ich geh schon.“
Er macht die Tür zu.
Herzrasen & Schwindel. Gedankenchaos. Widerstreitende Gefühle. Und immer wieder Dieses Schwein! Dieses Schwein! Dieses Schwein! Diese Bestie! – Bilder von einem Besoffenen, der nicht mehr weiß, was er tut, der das kleine, hilflose, nackte Mädchen mit einem Messer… oder womit auch immer …..
Edward setzt sich. Nimmt einen tiefen Schluck. Steht wieder auf, humpelt zum Tonbandgerät, schaltet es aus. Setzt sich wieder.
Wahnsinn …. Alles Wahnsinn …. Aber ich darf sie nicht drängen …. Wenn ich sie dränge, sagt sie gar nichts …. Geduld, ich brauche Geduld ….. Und sie muss hier bleiben, sie muss hier bleiben …. Sie kann nicht zurück …. Aber ich würde zur Polizei gehen …. Ich würde mich überwinden, ich würde zur Polizei gehen …. Bestimmt …. Auch wenn ich nicht wüsste, wie ich alles erklären sollte, wie sie zu mir gekommen ist, und wann sie zu mir gekommen ist, und alles andere …. Ich würde gehen …. Warum zur Hölle ….
Die Badezimmertür geht auf. Sina kommt heraus, eingehüllt in das große weiße Badetuch, das ihr so bis unter die Knie reicht. Hinter ihr rauscht das Wasser in den Abfluss. Die Schnitte an den Schultern & unter dem Hals. Unwillkürlich schaut Edward auf ihre Schienbeine, auf ihre Füße, um nach weiteren Spuren zu suchen – nichts.
„Rubbelst du mir ein bisschen den Rücken?“ sagt Sina. Zurückhaltend.
„Äh ja, klar, komm her.“
Sie tapst heran. Dreht sich vor ihm herum. Sie riecht gut.
Edward sagt: „Auf dem Rücken hast du nichts? Irgendwas, wo ich dir weh tun könnte?“
„Nein“, sagt sie, „da ist nichts.“
„Okay.“
Er beginnt, vorsichtig mit beiden Händen über den Frotteestoff zu streichen. Kommt sich ungeschickt vor. Unbeholfen.
„Fester“, sagt Sina.
Er gehorcht. Sie fängt an zu kichern.
„Ja, so is gut. Weiter.“
Ungewohnte Nähe. Kontakt. Etwas, das aus seiner Erinnerung fast schon verschwunden gewesen war. Fast. Und der kleine Hinterkopf, und das Haar halb Zopf, halb Dutt; der Haaransatz, der schmale Nacken; die Waden (ohne Schnitte), die kleinen nackten Füße …..
Es könnte ewig so weitergehen …. Ewig, haha, ich werde nicht schlau aus ihr … Egal, warum auch …. Ewig ….
„So“, sagt Sina, „reicht. Danke.“
Sie geht zum Sessel, setzt sich, zieht die Beine auf die Sitzfläche.
„Nicht dass du dich erkältest“, sagt Edward, „du solltest dir wenigstens Socken anziehen.“
„Jetzt nicht“, sagt sie.
„Wir müssten mit den Schnitten etwas machen.“
„Nein, die sind schon fast abgeheilt. Sind ja älter.“
„Wie lange ist….“
„Ich möchte nicht darüber reden, okay?“
„Okay. Sorry.“
„Warum hast du die Musik ausgemacht?“
„Sie hat mich gestört plötzlich.“
„Hmm. Mach sie doch wieder an, oder warte, ich mach das.“
Sie steht auf, geht zum Tonbandgerät, drückt auf die Starttaste.
Badalamenti geht zu Ende; das Ave Maria folgt.
„Das ist schön“, sagt Sina & setzt sich wieder.
Das letzte Wasser vergluckert im Abfluss.

Und in der Nacht wälzt sich der Mann in Schmerz & Traum …. Messer Messer Messer …. zarte Haut …. eine Kindheit aus Gedankenstrichen, geritzt in einen kleinen Körper …. Schreie & Hilflosigkeit …. Das Ausgeliefertsein …. Die Tränen …. Das Blut …. Blut, das dunkel trocknet …. Ein Friedhof im schneeigen Licht des Mondes …. Das Doppelgrab der Eltern …. Die Einsamkeit des Hinterbleibens …..

Weitere Tage kamen. Weiterer Schnee. Weitere Beseitigung des Schnees.
Die Tage nach dem Badetag waren wie die Tage vor dem Badetag. Die Distanz dieselbe. Das Thema Tabu.
Und sein Bein schmerzte ihn immer mehr.
„Du solltest mal an die frische Luft“, sagte Edward.
Sina blickte nicht auf von dem Buch, von welchem auch immer.
„Ich brauch keine frische Luft“, sagte sie.
Edward schwieg.
Und immer, wenn er von Einkäufen & Erledigungen zurückkam, war sie noch da – hatte sie kaum ihre Position verändert. Er hatte ihr ein rotschwarz-gestreiftes Gummi für ihre Haare gekauft, weil er das halbe Zöpfchen, den halben Dutt so mochte; und ihr gefiel dieses Gummi, und es störte sie nicht, ihm eine Freude zu machen.
Einmal, als er nach Hause kam, lag ein altes Fotoalbum auf ihrem Schoß.
„Bist du das“, fragte sie & deutete auf einen kleinen Jungen.
Er stellte sich neben ihren Sessel – mittlerweile war es ihr Sessel.
„Nein. Das ist mein Bruder.“
„Du hast einen Bruder?“
„Ich hatte einen. Er ist tot. Lange her.“
„Verstehe.“
Versteht sie? Versteht sie wirklich?
„Ich dachte, das bist du“, sagte sie. „Sieht aus wie du. Ich meine, sieht so aus wie du als kleiner Junge, irgendwie.“
„Wir waren uns sehr ähnlich“, sagte Edward.
„Hmm. War er jünger oder älter.“
„Älter. 2 Jahre.“

„ROBERT!!!“
„Ja?“
„KOMM HER, SOFORT!“
Die Mutter steht da – mit ihrem schweren stabilen Holzlineal. 1 Meter.
Robert zittert. Eddie zittert mit ihm.
„Was habe ich gesagt?“ fragt die Mutter.
„Ich sollte…“
„Ja, genau, du solltest! – Los, komm her! Dahin!“
Und das Holzlineal …..

Sina lächelte.
„Dann bist du also der da.“
„Ja. Sorry.“ Edward lächelte auch.
„Süß“, sagte Sina. Sie trug schwarze Jeans & ein rotes Sweatshirt. Eine rote & eine schwarze Socke.
„Süß ist gut“, sagte Edward, „so hat mich damals, glaub ich, niemand genannt.“
„Ist das da deine Mutter?“
„Ja. – Was willst du heute essen?“
Sina sagte: „Pizza.“

Der Schnee verschwand.

Und dann –
irgendwann –
war sie da –
diese
Nacht …… :

Der Mann erwacht. Er weiß nicht, aus welchem Traum. Aber er glaubt, ein geträumtes Geräusch habe ihn geweckt. Dunkelheit & Rückenschmerz. Er greift nach dem Lichtschalter einer kleinen Lampe neben dem Sofa. Klick. 15 Watt in einem roten Schirm. Vorsichtig richtet er sich auf. Da ist noch ein Rest Wodka in der Flasche auf dem Tisch. Er schüttet diesen Rest in die leergetrunkene Teetasse des Mädchens. Trinkt, indem er seine Lippen dort ansetzt, wo die Lippen des Mädchens gewesen sein müssen. Fast kann er sie fühlen. Es ist ein billiger Wodka. Der Mann blickt auf die Uhr, die richtig geht. 3:53 Uhr. Und er sieht, dass die Schlafzimmertür einen schwarzen Spaltbreit geöffnet ist. Zum ersten Mal. Er befürchtet, sein Licht könnte das Mädchen wecken. Doch er hört ein Geräusch. Hört verschiedene Geräusche. Rascheln von Bettzeug …. Etwas wie ein Zischen, das aus einem kleinen Mund kommt …. Dann leises, ganz leises Kichern …. Und die Geräusche wiederholen sich; nur das Bettzeug raschelt nicht mehr …. Er steht auf, in T-Shirt & Shorts. Humpelt zum Türspalt. Horcht. Zischen. Kichern. Dann tippt er die Tür an ……
Langsam schwingt sie ins Innere des Zimmers. Der schwache rote Schein der Lampe reicht nicht weit. Und doch…..
Das Mädchen sitzt aufgerichtet im Bett, kaum mehr als eine Silhouette im fernen Licht … Die Decke zurückgeschlagen … Helle Haut des Oberkörpers, helle Haut der Beine, die dunkle Stelle, wo das Höschen ist … Das Mädchen hält etwas in der Hand … Ein dreieckiger Lichtreflex blitzt kurz auf, als es sich damit kurz über den Bauch fährt … Wieder das Zischen, das aus dem Mund des Mädchens kommt … Dann Kichern … Der Mann tastet nach dem Lichtschalter neben dem Türrahmen … Blendung …
„Sina!“ ruft er. Oder schreit er es?
Das Mädchen beachtet ihn kaum. Er ist wie ein kleines Nebengeräusch, das man überhört. Nur kurz blinzelt es in seine Richtung. Lächelnd. Das Messer ist ein langgezogenes Dreieck; zweischneidig, mit winzigen Flecken, die an Rost erinnern; der Mann hat es noch nie zuvor gesehen. Frische kleine Schnitte auf Bauch, Brust & Oberschenkeln des Mädchens. Rote Striche. Kleine Blutpunkte. Feine Rinnsale. Zwischen den schwarzen Strichen der Vergangenheit. Das Kichern ist beängstigender als das Zischen. Der Mann hinkt so schnell, so schnell zum Bett.
„Sina, nicht, komm, gib mir das Messer, bitte.“
Das Mädchen schaut ihm in die Augen, schneidet sich dabei, kurz oberhalb des Bauchnabels; zarte Haut wird zerteilt. Der Mann beugt sich über das Bett, streckt dem Mädchen die Hand entgegen ….
„Komm, gib es mir.“
Und so schnell, so schnell bewegt sich der dünne Arm des Mädchens. Und das Messer fährt in den Hals des Mannes. Ein verhaltener Schrei – mehr der Überraschung als des Schmerzes. Er greift nach der Stelle, aus der das Blut fließt. Die Schlagader. Er richtet sich kurz auf, stolpert dann vorwärts, fällt halb auf das Bett; das Mädchen zieht schnell die Beine weg, damit er nicht darauf fällt. Sein Blut trifft das Mädchen. Es nimmt den Griff des Messers in beide Hände. Dann sticht es in das linke Bein des Mannes. Mehrmals. Es ist anstrengend, es kostet Kraft. Der Mann zuckt. Der Mann windet sich. Tastet umher mit blutigen Händen. Berührt die Füße des Mädchens. Nur kurz. Hinterlässt Spuren. Aus zerfetzten Gefäßen pumpt es. Blut auf dem Laken, Blut auf dem Boden. Alkoholisiertes Blut. Das Mädchen kichert leise. Die Augen unbeteiligt. Noch einmal sticht es in das Bein. Lässt das Messer stecken. Bewegung fließt aus dem Mann. So lange, bis nur noch Ruhe zurückbleibt. Die Erinnerungen – enden.
Das Mädchen lehnt sich an das Kopfteil des Bettes, betrachtet den Rücken der Leiche. Das Gesicht der Leiche ist abgewandt. Das Mädchen ist ruhig. Es spürt die eigenen Schnitte nicht. Blutrot ist das Höschen, das es trägt.

Schneelose Winternacht. Dunkel wie das Innere eines Menschen. Verhaltene Kälte. Trockene Straßen. Ein Mädchen, zierlich, in rotschwarzem Anorak geht durch enge Gassen. Ganz still. Es sucht nach einer Treppe. Nach irgendeiner Treppe, die vor irgendeinem Haus zu irgendeinem Keller hinabführt.
Und es findet eine solche Treppe. Das Mädchen geht ein paar Stufen hinab. Es setzt sich.
Und S fängt an zu weinen.


Wer rennt

Während ich mich
an den Horror erinnere, erfinde ich
Witze

denn ich liebe es
laut zu lachen
im Vergessen

der Erinnerung


Eine Lesenacht

2:00 Uhr Nachts. Wahllos nahm ich irgendein Buch aus irgendeinem Stapel & legte mich damit aufs Sofa. Ein altes Sofa im Licht alter Lampen. Ich begann zu lesen. Worte. Alte Worte, die jemand neu kombiniert hatte.
Ein paar Seiten vergingen.
Dann, plötzlich: eine Bewegung am Rande meines Blickfeldes. Fliegenähnlich, nur langsamer. Manchmal, wenn ich zuviel getrunken habe, tauchen für Sekundenbruchteile kleine schwarze Punkte oder die Ahnung eines sich bewegenden Schattens genau so auf; ich nehme das nicht ernst, beachte es nicht mehr. Doch gerade wollte ich den nächsten Satz lesen, da flog Sie von oben herab auf die Buchseite. Ich schrie laut auf & warf das Buch so weit von mir wie möglich. Eine schwarze, beinahe handtellergroße Spinne! Und diese Spinne hatte Flügel, durchsichtig, von zarten roten Äderchen durchlaufen. Ich sprang auf. Das Buch war gegen eine Wand geprallt & lag nun, mit dem Rücken nach oben, einige Meter von mir entfernt auf dem Boden. Die Spinne kam darunter hervor. Sie war unverletzt. Sie bewegte sich langsam. Die Flügel waren angelegt. Angelegt auf ihrem fetten, unbehaarten Körper. Langsam, sie nicht aus den Augen lassend, ging ich zur Tür. Rückwärts. Ich fühlte, dass ihr Blick mir folgte; ergriff die Türklinke ….. Da bewegten sich die Flügel; wurden aufgestellt …. Ich drückte die Klinke nach unten … Die Spinne hob ab, im Flug bewegte sie die Beine … Als würde sie auf der Luft laufen … Ich riss die Tür auf …. Wollte sie hinter mir zuwerfen, meine Hand rutschte ab, die Tür bekam nicht genügend Schwung, ging nicht ganz zu … Ich rannte über den Flur, der Flur war dunkel bis auf das wenige Licht aus dem Wohnzimmer, ich spürte die Verfolgung der Spinne … Ich bin schneller als sie, sie kann mich nicht einholen, bitte, sie darf mich nicht einholen! Der Flur schien länger zu sein, als ich ihn kannte. Schließlich riss ich die Schlafzimmertür auf, und diesmal schaffte ich es, die Tür rechtzeitig zuzuknallen. Finsternis. Ich machte Licht.
Ja, die Spinne war draußen geblieben. Selbst meine Panik war außer Atem. Etwas boxte von Innen gegen meine Rippen. Ich legte mich aufs Bett. Sie ist da draußen. Sie wartet. Ich werde sie töten. Ich kann sie töten – warum stelle ich mich dermaßen an? Eine Spinne, eine blöde kleine Spinne. Sie kann fliegen, na schön. Aber sie kann auch sterben, wenn ich das will. Vielleicht ist sie die einzige ihrer Art, dann rotte ich mit ihr gleichzeitig ihre Art aus. Das wäre doch wunderbar. Das wäre Macht. – Aber was, wenn es Millionen davon gäbe? Eine neue Art, die sich längst ausgebreitet hat …. Meine Fantasie fing an zu spinnen. Netze aus Peitschen. Rasende Bilder, aufgepeitschte Vorstellungen.
Beruhige dich …. beruhige dich …. nur eine Spinne …. nur 1 Spinne ….
Langsam, ganz langsam, so langsam wie die fliegende Spinne – beruhigte ich mich. Ruhe. Ruhe.
Und dann hörte ich ein Geräusch. Ein Geräusch & noch ein Geräusch. Als stieße unter dem Bett etwas gegen das Lattenrost. Panik. Ich wagte es nicht, aufzustehen. Setzte mich dicht ans Kopfteil des Bettes. Du spinnst! Du bildest dir etwas ein! Du
Doch. Das Geräusch war da. Keine Einbildung.
Ich wartete. Wartete. – Ich musste nicht lange warten.
2 dicke schwarze Beine waren das erste, was ich von ihr erblickte. Und ich meine wirklich: DICK. Dann folgte: der Kopf – – –
Eine weitere Spinne. Und sie war schnell, so schnell. Nachdem ihre ersten Bewegungen noch tastend-langsam gewesen waren, huschte sie nun unter dem Bett hervor. Groß wie 2 Pizzateller. Sie drehte sich herum, wandte sich mir zu. Und sie hatte den haarlosen Kopf einer Frau. Einen kleinen Glatzkopf, der zwischen ihren Vorderbeinen, vorne an ihrem dickrunden, behaarten Körper saß. Und sie schaute mich an, und ich erkannte ihr Gesicht. Zitternd. Ein Gesicht aus der Vergangenheit. Ein Gesicht, das schöne Augen gehabt hatte. Damals. Heute waren die Augen schwarz & böse. Und sie erbrachen einen Blick, der zu lange mit dem Wahnsinn geflirtet hatte. Ihre Lippen bewegten sich, als spreche sie. Doch ich hörte nichts. Ich musste sie nicht hören, um zu wissen, dass ihre Worte wüteten. Wüteten gegen mich. Ich glaubte ihren Körper zu riechen; und er roch schlecht in meinem Glauben.
„VERSCHWINDE!“ schrie ich.
Da grinste sie sarkastisch.
Wie kann ich sie töten? Wie kann ich DIESE töten? So groß. So schnell. Und das Gesicht…… Ein Messer. Ein Küchenmesser. In den behaarten Leib…..
Ein Geräusch an der Tür. Ein lautes Kratzen von Außen. Das konnte die fliegende Spinne nicht sein.
Die Hölle! Ich werde in die Hölle blicken….
Die schwarzen bösen Augen der Glatzköpfigen (der Schein der alten Nachttischlampe spiegelte sich in ihnen) blickten wissend. Sie schien zu wissen, wer das Geräusch verursachte.
Sie grinste. Und ihre 8 langen Beine spannten sich an. Spannten sich an. Spannten sich an, als setze sie an – – – zu einem Sprung……..
Ich wartete auf das Springen meiner Rippen. Die Schläge von Innen waren hart. K.O. oder Tod …..
Nie wieder würde ich ein Buch in die Hand nehmen.
Sie setzte zum Sprung an.
Und die Türklinke wurde heruntergedrückt.


Die Zigarre

Der Mann war seltsam, keine Frage.
Er stand vor mir, an der Hotelrezeption & textete mich zu mit Banalitäten. Ich war das gewohnt. Die seltsamsten Menschen kamen Nacht für Nacht vom Hauptbahnhof herüber, nur um zu quatschen. Für sie ist der Nachtportier ein Psychiater oder Beichtvater. Sie laden ab, was sie abzuladen haben. Meistens Müll. Müll, der sie belastet. Und wehe, sie merken, dass sie ein Ohr vor sich haben. Dann finden sie kaum ein Ende. Und ich bin ganz Ohr.
Was dieser Mann erzählte, es war unwichtig. Für mich. Für ihn war es: die Welt. Er hielt mich von der Arbeit ab. Und ich mag es, von der Arbeit abgehalten zu werden. Ich hörte ihm zu, und als er alles abgeladen hatte, was er hatte abladen wollen, fragte er:
„Rauchen Sie Zigarren?“
„Ja“, sagte ich.
„Gut“, sagte er, „ich habe gerade eine geschenkt bekommen. Von einem Freund, der Vater geworden ist. Aber ich rauche nicht. Dafür, dass sie so nett zugehört haben, werde ich sie Ihnen geben.“
Ich habe keine Skrupel, ich nehme an, was ich kriegen kann; und ich sah es auch so: er hatte mir eine Menge Dreck erzählt – ich verdiente es, dafür belohnt zu werden.
Er reichte mir das Metallröhrchen. Tiefschwarz mit goldener Schrift. Ich nahm es an. Grinste. Freundlich.
„Danke.“ (Nein, ‚Das wäre doch nicht nötig gewesen’, sagte ich nicht, denn es war nötig gewesen.)
Er ging. Und als er auf der anderen Seite der Straße angekommen war, konnte ich mich schon nicht mehr an sein Gesicht erinnern.
Ich brachte den Rest der Nachtschicht herum.
Fuhr nach Hause, aß Kuchen, trank Milch & legte mich schlafen. Verschlief den Tag. Wie immer.

Das schwarze Röhrchen mit goldener Schrift lag im Wohnzimmer.

Endlich. 4 Tage später hatte ich frei. Die Arbeitsnächte hatten mich abgefüllt mit Sinnlosigkeit, Dummheit & einer weiteren Schicht Routine.
Frei! Frei!
Im Bett liegen. Gin trinken. Lesen. Träumen. Dunkelheit genießen. Fantasie trinken. Und den Sinn des Nichtstuns erneut entdecken.
Irgendwann stand ich auf; in der Nacht. Hungrig. Gierig nach Olivenöl, Knoblauch & Zwiebeln. Zwiebeln finden meine Freudentränen & locken sie hervor. Ich kochte Spiralnudeln. Ließ sie im Sieb abtropfen. Warf sie in die Pfanne, in den aufzischenden Olivenölsee. Bewarf sie mit Knoblauch & Zwiebeln, Oregano obendrauf & Pfeffer in allen Farben. Roch, was zu riechen war. Zusammengebrutzeltes Glücksempfinden.
Ich aß. Aß. Aß. Roter Wein als kurzes Intervall. Spiralen. Ölig glänzend. Die 3 Kerzen auf dem Eßtisch.
Satt. Dann war ich satt. Was fehlte? Eine Zigarre. Die Zigarre zum Rotwein, zum Cognac, zur Sättigung.
Das schwarze Röhrchen.
Die goldene Schrift.
Ich dreht den Verschluss ab. Die Zigarre war in Zellufan eingeschweißt. Ich befreite sie. Schob sie unter meiner Nase vorbei. Sie roch GUT. Wie irgendein (fast) vergessenes SpeiseEis meiner Kindheit.
Sie war zu schön & zu gut für ein Feuerzeug. Also nahm ich ein Streichholz. Goldblaues Geflacker. Glut. Rauch. Graue Schlieren.
RAUCHEN!
Das Rauchen malt den Atem. Ein graues Gemälde.

Ich trank. Ich rauchte. Blies den Rauch in die Kerzenflammen. Beleuchteter Qualm.
Anheimelnd & gemütlich.

RAUCHEN!

Dann: wurde der Rauch – plötzlich – ungemütlich. Und unheimlich.
Über den goldblauen Flammen nahm er Formen an. Formen…… Ein Gesicht…. Ein graues, breites Gesicht, mit Augen. Augen, die sich vor Bosheit schlitzten. Vor Hinterhältigkeit. Und Gemeinheit. Darunter: eine wabernde Nase. Ein dunstiger Mund.
Und der Mund sprach. Im Licht der Kerzen.
Er sprach Worte, die ich vergaß. Ich weiß nur noch: sie waren boshaft; sie waren niederschlagend; sie waren düster; sie waren schwarz. Sie waren häßlich; so schauderhaft, dass ich fror.

Ich rauchte weiter. Weiter, während das Gesicht seine Form verlor & sich im Raum verteilte. Bei jedem Zug fragte ich mich, welches Grauen ich diesmal ausatmen würde. Ich zitterte & konnte es doch nicht lassen; ich musste sie aufrauchen. Nichts passierte. Ihren winzigglühenden Rest warf ich in den Aschenbecher. Aus der letzten, sterbenden Glut stieg der letzte Qualm, dünn wie ein Faden. Aber dieser Faden wurde das dicke Seil, das sich um meinen Hals legte. Um meinen Hals, der verstummte. Und keine Luft mehr bekam. Zu wenig Atem für einen Schrei.

Die Zigarre war seltsam. Keine Frage.