Monatsarchiv: März 2020

Beim Zahnarzt

Sie schmerzt immer mehr
Die alljährliche Zahnsteinentfernung
Blut fließt, ich balle die Fäuste

Mein Zahnarzt ist 78 Jahre alt
Zwei Oberschenkelhalsbrüche hat er hinter sich
Seine Frau ist tot
Aber manchmal läuft sein Hund durchs Behandlungszimmer
Die Sprechstundenhilfe, peinlich berührt, führt ihn
Dann wieder hinaus – den Hund
»Du darfst hier doch gar nicht sein«, sagt sie
Und tätschelt ihn
Ob sie sich hinterher die Hände wäscht
Weiß ich nicht; es ist mir auch egal
Der Zahnarzt hat nicht mehr viele Patienten
Aber was ich ihm vor 12 Monaten sagte, hat er vergessen
Dass ich seit 7 Jahren keine Zigarren- & Rotweinbeläge mehr
Auf den Zähnen habe, wundert ihn
Jedes Jahr aufs neue
Und immer wieder fragt er, ob ich keinen Tee mehr trinke

Er will nur noch arbeiten
Bis seine Sprechstundenhilfe in Rente gehen kann
Woanders würde sie doch keinen Job mehr bekommen, meint er
»Außerdem – was soll ich denn sonst machen?
So bin ich gezwungen, jeden Morgen aufzustehen
Und mich zu rasieren; das ist was Gutes.
Und solange meine Hände nicht zittern….«

Das Poster an der Decke kenne ich
In- & auswendig
Kitsch: Elvis Presley, Marilyn Monroe, Stan Laurel & Oliver Hardy,
James Dean und und und – kreisförmig angeordnet
Auch schon alle tot
Wie meine Mutter, die sich hier ein neues Gebiss besorgt hatte
Vor langer Zeit
Gerahmte Fotos verstorbener Hunde zieren die Wände
Da gibt’s viel Staub zu wischen
Ob das jemand tut, weiß ich nicht; es ist mir auch egal
Die Hunde ähneln einander

Nach Einbruch der Dunkelheit
Geht die Sprechstundenhilfe Gassi
Damit der Doktor nicht wieder stürzt
Sie ist etwas schwerhörig
Aber der Hund ist jung
Er könnte uns alle überleben

Kinderbücher im Wartezimmer
Obwohl keine Kinder mehr kommen
Doch die Erwachsenen erinnern sich vielleicht
Sie gelesen zu haben

Werde ich nächstes Jahr wieder hier sein?
Wird der Doktor nächstes Jahr noch hier sein?
Er würde sich wundern
Wo meine Beläge geblieben sind

Und ich könnte ihm sagen, dass ich keinen Tee mehr trinke
Obwohl das nicht stimmt
Ich möchte nicht der letzte Mund sein
In den er schaut

An meinem Ende
Des Dorfes kann ich hören
Wie der Hund des Zahnarztes
Am anderen Ende bellt

Er begrüßt jeden Patienten persönlich
& meldet ihn an
Aber manche Hunde bellen auch
Weil sie einsam sind


Das Portemonnaie

Das Portemonnaie war wieder da.
Man erzählte es mir.
Ich hatte nicht gewusst, dass es weggewesen,
aber nun – da ich hörte, dass es wieder da war –
wusste ich es.

Kein Grund, sich zu erschrecken.
Es ist ja wieder da.
Als wäre es nie weggewesen.
Die verzweifelte Suche
war mir entgangen.

Was weiß man schon, und
was will man wissen?

Das Ende allein?
Den Weg dorthin?
Den Anfang?

Ich weiß es nicht.
Jetzt ist da etwas.
Vielleicht war es weg
gewesen ohne mein Wissen.

Wo nichts ist
war vielleicht immer schon nichts,
aber niemals kann man sich
sicher sein.


Einfach wir

Zwei Ein
Zellgänger sagen
Wir

Zwei Zahn
Bürsten berühren sich
im Glas

Zwei Wäsche
Welten kreisen bunt im Kalleidoskop
der Waschmaschine

Zwei Leid
Ende der Einsamkeit
lachen

Es ist
fast ein
fach

Ein Du
Ein Ich

Ein Wir


Rahmenhandlung

Das Glöcklein klingelte beim Öffnen der Tür, es klingelte beim Schließen. Als lebte eine besonders kleine Maus darin, die sich eine Murmel an den Schwanz gebunden hatte und die nun, vor lauter Freude mich zu sehen, hundgleich wedelte. – Nun gut, vielleicht klang es nicht ganz so, aber mir gefällt das Bild.
Ein gelackter Verkäufer schnellte auf mich zu. Schließlich war hier sonst niemand, auf den er hätte zuschnellen können.
»Guten Tag, kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Guten Tag, das wäre schön.«
»Was suchen Sie?«
Das war eine große Frage. Doch ich entschloss mich, eine kleine Antwort zu geben.
»Einen Rahmen für mein Bild«, sagte ich.
»Nun, wie Sie sehen, haben wir eine große Auswahl.«
Das war keine Lüge; immerhin befand ich mich in einer Rahmenhandlung. Wodurch allerdings seine Frage, was ich denn suche, merkwürdig sinnlos wurde.
Da ich mich vermutlich besonders unentschlossen umsah, stellte der Gelackte gleich die nächste:
»Darf ich fragen, um was für eine Art von Bild es sich handelt?«
Ich setzte voraus, dass er es durfte und antwortete:
»Es geht um das Bild, das ich mir von der Welt mache.«
»Aha«, sagte er. Mit einem Blick, als fürchtete er den Überfall eines Psychopathen. »Tja – wie groß ist es denn?«
»Nicht besonders groß, fürchte ich.«
»Hmm, dann werden wir bestimmt etwas finden.«
Ich mochte es nicht, dass er Wir gesagt hatte; erstens kannte ich den Mann überhaupt nicht, und zweitens war es sein Beruf, etwas zu finden.
»Haben Sie an einen bestimmten Stil gedacht?« fragte er.
»Ob an einen bestimmten weiß ich nicht, aber ich glaube, ein schlechter wäre gut.«
»Nun, so etwas führen wir nicht.« Es klang fast entrüstet. Dabei war mir nicht einmal aufgefallen, dass er gerüstet gewesen wäre. Aber ich fühlte mich beruhigt, dass ich in diesem wir nicht mehr enthalten war.
»Ach wissen Sie«, sagte ich. »wenn ich mich hier umschaue, glaube ich sehr wohl, dass Sie dergleichen führen.«
Es hätte wenig Sinn, seinen Gesichtsausdruck zu beschreiben, dennoch unterlasse ich es.
»Sie haben es nicht zufällig bei sich?« sagte er.
»Von Zufall kann gar keine Rede sein«, erwiderte ich. »Ich habe es selbstverständlich immer bei mir. Ich kann es nur nicht so zeigen. – Und außerdem würden Sie ohnehin nichts erkennen; es ist ziemlich düster.«
»Also, dann weiß ich nicht, wie ich Ihnen helfen soll.«
»Machen Sie sich nichts draus. Kein Grund, sich zu entleiben.«
»Vielleicht sehen Sie sich doch am besten selber um und wählen einfach, was Ihnen gefällt.«
»Sie haben recht«, sagte ich. »Allerdings werde ich eher bevorzugen, was mir nicht gefällt. Da ist ja auch das Sortiment viel größer.«
Nun entfernte er sich fast ebensoschnell, wie er gekommen war. Ich fühlte mich wie von einer Geschwulst befreit.
Es herrschte Ordnung in der Rahmenhandlung. Rechtecke wohin man schaute, nebeneinander, hintereinander, zur Auflockerung hier und dort etwas Eiförmiges. Es wurde der Eindruck vermittelt, nichts könne jemals irgendwo herausfallen. Sogar die Zwischenräume wirkten wie gerahmt durch die Außenseiten der Rahmen. Hinter dem Verkaufstresen gab es eine geöffnete Tür. Sofort glaubte ich, eine leicht geschürzte Weiblichkeit würde in ihrem Rahmen erscheinen, auf dass die Erotik hier nicht zu kurz komme; aber auch dieser Glaube konnte der Wirklichkeit nicht lange standhalten. Immerhin: der Gelackte war durch diese Tür gegangen; wo etwas Garstiges entschwand, ist fast schon Schönheit; völlig unwahrscheinlich war es also nicht, dass im Wechselrahmen der Tür nach Hässlichkeit und Leere etwas erfreulich Erfräuliches sich manifestieren werde. War mein Bild etwa doch nicht so düster, wie ich gedacht hatte?
Ich konnte mich nicht entscheiden. Weder Stil, noch Form, weder Farbe, noch Verarbeitung, weder Muster, noch Größe passten zu meinem Bild. Und ich wusste plötzlich nicht einmal mehr, warum ich den Laden überhaupt betreten hatte. Bestimmt nicht wegen der Beispielbilder im Schaufenster. Dort wurde allzu tumb gegrient. Kein Zahn war vergilbt. Keine Pore atmete. In den Augen war Platz für ganz viel Nichts. Und das heiratete sich dann. Zumindest zum Schein. Ich hatte mich in der Glasscheibe gespiegelt, und schon meine Reflexion passte nicht ins Bild.
Es wurde Zeit in die Glocke zu schauen. Die Maus mit der Murmel zu grüßen und ihr Glück zu wünschen. An sie wollte ich glauben. Viele Geschichten gibt es. Ohne mich. Zyklen von Erzählungen. Ohne mich. Doch ich war in der Rahmenhandlung. Man sollte nicht zu viel von mir erwarten.


Unser Planet

Wenn wir uns täglich begrüßen
als hätten wir uns 1 Jahr
lang nicht gesehen

Gewinnen wir dann Zeit?
Wie alt sind wir?
Wir sind

auf einem anderen Planeten
Seine Zeitrechnung
ist unsere

Wir werden sehr alt
werden gemeinsam
auf unserem Planeten