Das Glöcklein klingelte beim Öffnen der Tür, es klingelte beim Schließen. Als lebte eine besonders kleine Maus darin, die sich eine Murmel an den Schwanz gebunden hatte und die nun, vor lauter Freude mich zu sehen, hundgleich wedelte. – Nun gut, vielleicht klang es nicht ganz so, aber mir gefällt das Bild.
Ein gelackter Verkäufer schnellte auf mich zu. Schließlich war hier sonst niemand, auf den er hätte zuschnellen können.
»Guten Tag, kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Guten Tag, das wäre schön.«
»Was suchen Sie?«
Das war eine große Frage. Doch ich entschloss mich, eine kleine Antwort zu geben.
»Einen Rahmen für mein Bild«, sagte ich.
»Nun, wie Sie sehen, haben wir eine große Auswahl.«
Das war keine Lüge; immerhin befand ich mich in einer Rahmenhandlung. Wodurch allerdings seine Frage, was ich denn suche, merkwürdig sinnlos wurde.
Da ich mich vermutlich besonders unentschlossen umsah, stellte der Gelackte gleich die nächste:
»Darf ich fragen, um was für eine Art von Bild es sich handelt?«
Ich setzte voraus, dass er es durfte und antwortete:
»Es geht um das Bild, das ich mir von der Welt mache.«
»Aha«, sagte er. Mit einem Blick, als fürchtete er den Überfall eines Psychopathen. »Tja – wie groß ist es denn?«
»Nicht besonders groß, fürchte ich.«
»Hmm, dann werden wir bestimmt etwas finden.«
Ich mochte es nicht, dass er Wir gesagt hatte; erstens kannte ich den Mann überhaupt nicht, und zweitens war es sein Beruf, etwas zu finden.
»Haben Sie an einen bestimmten Stil gedacht?« fragte er.
»Ob an einen bestimmten weiß ich nicht, aber ich glaube, ein schlechter wäre gut.«
»Nun, so etwas führen wir nicht.« Es klang fast entrüstet. Dabei war mir nicht einmal aufgefallen, dass er gerüstet gewesen wäre. Aber ich fühlte mich beruhigt, dass ich in diesem wir nicht mehr enthalten war.
»Ach wissen Sie«, sagte ich. »wenn ich mich hier umschaue, glaube ich sehr wohl, dass Sie dergleichen führen.«
Es hätte wenig Sinn, seinen Gesichtsausdruck zu beschreiben, dennoch unterlasse ich es.
»Sie haben es nicht zufällig bei sich?« sagte er.
»Von Zufall kann gar keine Rede sein«, erwiderte ich. »Ich habe es selbstverständlich immer bei mir. Ich kann es nur nicht so zeigen. – Und außerdem würden Sie ohnehin nichts erkennen; es ist ziemlich düster.«
»Also, dann weiß ich nicht, wie ich Ihnen helfen soll.«
»Machen Sie sich nichts draus. Kein Grund, sich zu entleiben.«
»Vielleicht sehen Sie sich doch am besten selber um und wählen einfach, was Ihnen gefällt.«
»Sie haben recht«, sagte ich. »Allerdings werde ich eher bevorzugen, was mir nicht gefällt. Da ist ja auch das Sortiment viel größer.«
Nun entfernte er sich fast ebensoschnell, wie er gekommen war. Ich fühlte mich wie von einer Geschwulst befreit.
Es herrschte Ordnung in der Rahmenhandlung. Rechtecke wohin man schaute, nebeneinander, hintereinander, zur Auflockerung hier und dort etwas Eiförmiges. Es wurde der Eindruck vermittelt, nichts könne jemals irgendwo herausfallen. Sogar die Zwischenräume wirkten wie gerahmt durch die Außenseiten der Rahmen. Hinter dem Verkaufstresen gab es eine geöffnete Tür. Sofort glaubte ich, eine leicht geschürzte Weiblichkeit würde in ihrem Rahmen erscheinen, auf dass die Erotik hier nicht zu kurz komme; aber auch dieser Glaube konnte der Wirklichkeit nicht lange standhalten. Immerhin: der Gelackte war durch diese Tür gegangen; wo etwas Garstiges entschwand, ist fast schon Schönheit; völlig unwahrscheinlich war es also nicht, dass im Wechselrahmen der Tür nach Hässlichkeit und Leere etwas erfreulich Erfräuliches sich manifestieren werde. War mein Bild etwa doch nicht so düster, wie ich gedacht hatte?
Ich konnte mich nicht entscheiden. Weder Stil, noch Form, weder Farbe, noch Verarbeitung, weder Muster, noch Größe passten zu meinem Bild. Und ich wusste plötzlich nicht einmal mehr, warum ich den Laden überhaupt betreten hatte. Bestimmt nicht wegen der Beispielbilder im Schaufenster. Dort wurde allzu tumb gegrient. Kein Zahn war vergilbt. Keine Pore atmete. In den Augen war Platz für ganz viel Nichts. Und das heiratete sich dann. Zumindest zum Schein. Ich hatte mich in der Glasscheibe gespiegelt, und schon meine Reflexion passte nicht ins Bild.
Es wurde Zeit in die Glocke zu schauen. Die Maus mit der Murmel zu grüßen und ihr Glück zu wünschen. An sie wollte ich glauben. Viele Geschichten gibt es. Ohne mich. Zyklen von Erzählungen. Ohne mich. Doch ich war in der Rahmenhandlung. Man sollte nicht zu viel von mir erwarten.
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Rahmenhandlung
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Der hustende Igel – oder: Die Logik der Einsamkeit
»Warum hörst du mir eigentlich zu? Ich bin besoffen«, sagte er.
»Weil ich nüchtern bin«, sagte ich.
Später Abend. Stille. Vodka. Tee. Lampenlicht. Mein Wohnzimmer.
»Selber schuld«, sagte er.
»Ja, an allem.«
»Soweit würde ich nicht gehen. Aber auf jeden Fall an meinem Zustand.«
»Tja, der Schnaps muss halt weg. Ich habe zuviel davon.«
»Du meinst: du hattest zuviel davon.« Er grinste. Schluckte Klares. Freute sich über die Mehrdeutigkeit seiner Bemerkung. Oder hatte nur ich sie bemerkt?
Er sagte: »Egal. Wo waren wir grade? Äh, ach ja – beim Sex.«
Jetzt grinste ich. »Moment mal.«
»Hä? – Äh, ja, sehr lustig. Egal. Also, worauf ich hinaus wollte: ich mag doch eigentlich nur Frauen…..«
Ich sagte nichts. Ich wusste nicht, ob ich hören mochte, worauf er hinaus wollte. Ein Tisch voller Bücher stand zwischen uns. Die Vodkaflasche zwischen den Gedichten. Die Teekanne neben den Bildbänden. Augen aus Glas sahen mich an, rötlich zerfließend.
»Also, ich hab das noch nie jemandem erzählt. Wie gesagt: ich mag nur Frauen – aber: ich hatte öfter Sex mit Männern als mit Frauen.«
Dramatische Pause. Ein Geräusch von der Straße wäre jetzt richtig gewesen. Ein bellender Hund vielleicht, oder ein Hupen; gerne etwas Symbolträchtiges, das wie erdacht gewirkt hätte – aber man kann es sich halt nicht aussuchen; und so blieb es still.
Ich suchte nach einer intelligenten Erwiderung.
»Puh, das hatte ich jetzt allerdings nicht erwartet.« (Manchmal findet man eben nicht, was man sucht.)
»Na ja, nicht richtig«, sagte er. »Also, ficken würde ich nie. Auch nicht küssen. Oder kuscheln. Brrr.« Er schüttelte sich kurz. »Aber Wichsen & Blasen ist okay.«
»Warum erzählst du mir das?«
»Haha, keine Sorge, nur so. Weil ich besoffen bin & das mal raus will. Und – weil du dich mit Einsamkeit auskennst. Das ist nämlich der springende Punkt – die Einsamkeit. Das versteht nicht jeder. Und dass ich nur Frauen mag.«
»Ich glaube, jetzt wird’s kompliziert. Ich kann dir wohl nicht ganz folgen.«
»Na, ist doch klar. Ich war zu lange allein. Gewesen. Damals. Ist ja alles schon länger her. Allein, einsam – was auch immer; und je länger es dauert, desto höher wird dieses ganze Mauerzeugs um einen rum; und irgendwann kommt man an das, was man will, nicht mehr ran. Oder traut sich nicht mehr ran. Oder so. Na, ist doch klar, oder?«
»Klar.«
»Tja – aber Sex will man trotzdem.«
Ich starrte ins Teelicht. Es bewegte sich nicht.
»`ne Frau natürlich. Will man. Eigentlich. Aber mit so nem Kopf, so’m einsamen Kopf, der Angst hat, funktioniert das nicht. Selbst wenn’s in Wirklichkeit ganz einfach wäre. Und die Angst hat man ja nur, weil man zu lange allein war, und deshalb bleibt man noch länger allein. Und hat dann noch mehr Angst. Ach, scheiße. Kompliziert. Ja, hast recht: ist wirklich kompliziert….. Also, Frage: Was ist dagegen einfach? – Antwort: Was einem nichts bedeutet. Oder nicht viel, zumindest. Und was ist am allerallereinfachsten? – Notgeile Typen im Internet finden.«
Er lachte. Und trank. Trank. Und lachte. Und nur das Trinken überzeugte mich.
»Du erzählst das doch keinem?«
»`türlich nicht.«
»Gut. Eigentlich isses ja egal – aber, ach, was weiß denn ich…. Jedenfalls kann sich’s bestimmt keiner vorstellen…. bezah…. beziehungsweise, es würde keiner erwarten.«
»Wie gesagt«, sagte ich, »ich hatte es nicht erwartet.«
Er grinste. »Ich könnt´ dir Geschichten erzählen….. haha, echt lustig.«
»Ganz ehrlich: ich weiß nicht, ob ich die würde hören wollen.«
»Schade. Da war zum Beispiel n Bulle, der mich 3 oder 4 Mal besucht hat. In voller Montur. Uniform & Knarre, haha. Früh morgens, vor Dienstantritt. Der meinte, ich würde besser blasen als seine Frau.«
»Scheiße, das will ich jetzt wirklich nicht hören. Lass ma gut sein.«
»Leidenschaftlicher! Er hat gesagt, ich wär leidenschaftlicher bei der Sache.«
»Oh Mann, bitte. Das muss jetzt nicht sein.«
Da könnte man was draus machen, dachte ich. Schreiben! Ich sollte es ja nur niemandem erzählen. Niemandem, den er kannte.
»Warum nicht?« sagte er. »Ist doch spannend, haha. Übrigens hat er irgendwann ein schlechtes Gewissen bekommen. Hat er zumindest behauptet. Wegen seiner Frau. Die weniger gut als ich…. hahaha. Das war’s dann jedenfalls. Ach ja, hätt’ich fast vergessen: nebenher hatte er noch ne andere Frau; die wollte er irgendwann mal mitbringen – fürn Dreier. Aber dazu kam’s nicht mehr. Schade. Hätte die Liebe meines Lebens werden können. Also – die Frau. Wer weiß.«
Pause. Er schenkte nach. Trank. Schaute ins Glas.
»Er hat mich mit nem Gürtel verprügelt. Konnte man 2 Wochen später noch sehen.«
Wie ein Erdbeben. Ein Erdbeben, bei dem die Erde sich nicht auftut, um einen zu verschlingen. Da könnte man wirklich etwas draus machen.
»Übrigens waren die immer verheiratet. Also, so viele waren’s ja nicht. Aber immerhin: alle verheiratet. War mir auch lieber so. Und der Bulle war der Letzte. Und Interessanteste.«
»Verprügelt?«, sagte ich.
»Ja.« Grinsen. »In beiderseitigem Einvernehmen.«
Man kennt niemanden. Niemanden!
Der Tee schmeckte nicht mehr. Ich spiegelte mich darin. Zu lange hatte er über der Flamme gestanden. Es stimmte: ich kannte mich aus. Aus mit der Einsamkeit. Aus mit dem Alleinsein. Aber mit Menschen? Aus? Aus.
Er wird sich daran erinnern, es mir erzählt zu haben. Es wird ihm peinlich sein, es mir erzählt zu haben. Hauptsache, es ist ihm nicht peinlich, WAS er mir erzählt hat. – Darüber schreiben? Details! Man müsste die Details kennen, um darüber schreiben zu können. Denn sonst – alles nur Skizze…..
Ich sagte: »Wie alt?«
»Ungefähr unser Alter.«
»’Länger her’, hast du gesagt. Und – wie isses heute?«
»Hörst du das?« sagte er.
»Was?«
»Klingt wie’n hustender Igel in deinem Garten.«
»Stimmt«, sagte ich. »Die hört man hier öfters.«
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Der hässliche Mann & die Musik
Der hässliche Mann betrat das Café, das es bald nicht mehr geben würde. Das Türglöckchen erzitterte – 440 Hertz. Da er die Wahl hatte, setzte sich der Mann an den Tisch, an den er sich schon immer gesetzt hatte. Dass er die Wahl hatte, war der Grund für die bevorstehende Schließung des Cafés. Die endgültige Schließung. Auch heute war er der einzige Gast. Manchmal war er sich unsicher: Kam er hierher, weil er hier kaum auf Menschen traf, oder traf er hier kaum auf Menschen, weil er hierher kam? Er erinnerte sich kaum noch, wie es anfangs gewesen, er erinnerte sich nur daran, was ihm als erstes aufgefallen war – & was ihn bleiben ließ:
Es gab in diesem Café – keine Musik.
Runde Tische für jeweils 2 bis 3 Niemande. Kalte Beleuchtung. Trübe Fensterscheiben. Das Röcheln veralterter Kaffeemaschinen. Spuren von Nachlässigkeit auf dem Fußboden. Werbende Spiegel an den Wänden. Und keine Musik!
Er brauchte nichts zu bestellen; sobald er saß, brachte man ihm die erste Tasse. Die einzig verbliebene Bedienung – eine Frau, die immer müde aussah – war gleichgültig. Sie war ihm gleichgültig, er war ihr gleichgültig, ihr schien alles gleichgültig. Das gefiel ihm. Und sein Anblick löste nichts mehr aus. Kein Zucken, kein Zögern, kein betontes Wegschauen. Nichts.
Was den Mann so hässlich machte, war seine Haut. Ein Relief warzenähnlicher Erhebungen, die keine Warzen waren. Dicht an dicht. Wachsend. Und sie waren überall. Auf seinen Wangen, seinen Lippen, auf seinem kahlen Schädel, an jeder Stelle seines Körpers. Selbst auf seinen wimpernlosen Augenlidern, die immer schwerer wurden. Das ganze Ausmaß seiner Hässlichkeit konnten die Menschen nur erahnen. Die Menschen, die bloß sein Gesicht, seine Hände & – manchmal, im Sommer – seine Unterarme sahen.
Und die Fragen, die die Menschen nicht stellten, passten zu den Antworten, die der Mann niemals gegeben hätte.
Er trank seinen Kaffee, betrachtete die Tischplatte – & dachte beinahe ….. nichts.
Tagtäglich verließ er zu exakt derselben Zeit seine Wohnung, um hierher zu kommen; als hätte er eine Arbeit zu verrichten. Als hätte man ihm eine Arbeit gegeben. Ausgerechnet ihm! Er war froh, keine zu haben, und das Verlassen der Wohnung war nur eine Flucht, eine kurze Ausflucht, ein Ausgang aus dem Verließ. Fort aus der geordneten Umgebung seiner ungeordneten Süchte & Sehnsüchte.
Passanten passierten wie unbedeutende Missgeschicke, wenn er – den Blick auf die Fugen zwischen den Gehwegplatten gerichtet – Distanzen in der Außenwelt zurücklegte.
Die Innenwelt war seine Wohnung. Die Wohnung war seine Innenwelt. Die Erweiterung seines Kopfes, die Nebenhöhle seiner Gedanken, die Herzkammer seiner Empfindungen. Und fast nie war sie musiklos. Allenfalls wenn er schlief. Unruhig schlief, wie immer. Im Chaos der gespeicherten Töne, der Melodien, der Harmonien; im Chaos verkratzter Schellackplatten, dem knisternden Vinyl seiner Jugend, kreisrunder Tonbänder & rechteckiger Cassetten, im Chaos der kaltsilbrigen CDs seiner Gegenwart – & der leise summenden Festplatten mit ihren ungezählten Discographien.
Dabei liebte er die Stille. Die Stille, die er nicht ertragen konnte. Und die Gefühllosigkeit, die ihn gelegentlich überkam, wenn keine Musik da war. Die Sehnsucht nach dieser Gefühllosigkeit war es, was ihn in das Café trieb. Immer wieder – obgleich er wusste, dass er sie nicht jedes Mal dort finden konnte. Denn wenn ab & an eine unbekannte Frau an einem der Tische saß, hörte er in sich eine Notenfolge, die der Fremden zu entsprechen schien. Dann sah er sie wie in Töne gekleidet, und vorbei war es mit Ruhe & Gefühllosigkeit.
Symphonische Reizwäsche …… Kammermusikalische Dessous …… Jazzige Negligés …… Liederliche Korsagen …… Nocturnale Schleier …… – Doch am Ende bleibt: der Trauermarsch.
Er lachte. Oftmals. Über sich. Über sein Geschick, über sein Ungeschick. Über seinen Anblick, seinen Einblick, seinen Ausblick. Über seine Verzweiflung (die ihm oft zweifelhaft erschien). Über seine äußere Armut & seinen inneren Reichtum.
Seine Entstellung lebte im Jetzt. Alles was nicht entstellt werden konnte, lebte außerhalb der Zeit.
Erinnerungen.
Die Nachmittage der Kindheit. Als seine Haut noch makellos war. Er hatte Freunde. Freunde, die irgendwo draußen spielten, während er drinnen vorm Plattenspieler saß. Stundenlang. In den kürzesten Stunden seines Lebens. Er setzte die Nadel an. Wie ein Süchtiger. Alles drehte sich. Die Welt drehte sich. Schwarz. Ein Loch in der Mitte. Die Welt als Rille & Phantasie. Ein Tonarm, der sich langsam dem Mittelpunkt näherte.
»Willst du nicht rausgehen?« fragte die Mutter. »Das Wetter ist so schön.«
Er verstand die Frage kaum. Und dass andere Menschen ein anderes Verständnis von Schönheit hatten, ahnte er schon damals. Was sie zum Beispiel ‚Schönes Wetter’ nannten, nannte er ‚Das Wetter der dunklen Brillen’.
»Nein«, sagte er. Obwohl er lieber geschwiegen hätte. Es war für ihn ein Verbrechen, in die Musik hineinzureden.
Manchmal dirigierte er. Mit einem Bleistift oder einer abgebrochenen Gardinenstange. Und bei Musikstücken, die ihm neu waren, glaubte er, die nächste Note immer schon zu kennen, bevor er sie hörte. Die Melodien schienen ihm natürlichen Gesetzen zu unterliegen, die transparent vor ihm lagen, während der Komponist sie vielleicht nur unbewusst befolgt hatte. So gewann er den Eindruck, dass er jede Tonfolge, die er jemals hörte, selber hätte komponieren können. Dieser Eindruck, der hauptsächlich eine Empfindung war, vermittelte ihm gleichzeitig ein Gefühl von Sicherheit & Macht; ein Gefühl, das ihn einerseits beglückte, andererseits jedoch maßlos verstörte, weil er außerhalb der Musik weder etwas Vergleichbares fand, noch empfinden konnte. Schon gar nicht dort draußen, wo die anderen spielten. Und wo er sich unsicher & machtlos fühlte. – Oder in der Schule, wo er ein Kind unter vielen war, ein Kind wie alle anderen zu sein schien; und wo Musik unterrichtet wurde – von Menschen, die nicht einmal ahnten, was er wusste. Oder zu wissen glaubte.
Die Nachmittage der Kindheit. Als seine Haut noch makellos war.
Es dauerte nicht lange. Es hielt nicht lange an. Weil nichts lange dauert, und nichts lange anhält. Es sei denn – nach menschlichem Ermessen.
Die Nachmittage des Heranwachsens. Als seine Haut nicht mehr makellos war – & er gerade deshalb nicht hervorstach aus der Masse seiner pubertierenden Altersgenossen. Seine Akne glich der aller anderen. Dennoch sonderte er sich weiter ab von ihnen. Aus Gründen, die er nicht benennen konnte – damals nicht benennen konnte. Kontakte brachen ab – zu den Variablen seines Lebens: den Menschen. Die Konstante in seinem Leben blieb: die Musik. Ab einem ungewissen Zeitpunkt jedoch – einem Zeitpunkt der Ungewissheit – ahnte er nicht mehr, welche Note die nächste sein würde. Weil ihm klar wurde, dass keine bestimmte Note die nächste sein musste. Die Gesetze der Musik waren nicht natürlich; sie waren menschengemacht. Das Durchschauen eines Naturgesetzes – ja, das Naturgesetz selber war nur Illusion gewesen. Eine Illusion der Kindheit. Eine von vielen. Und ein Schauder durchfuhr ihn.
Doch dieser Schauder hatte auch sein Gutes. Es war nicht nur ein Schauder des Unheimlichen, Befremdlichen, sondern auch – & vielleicht vor allem – ein Schauder der Überraschung. Seine Erkenntnis überraschte ihn, und die Melodien & Harmonien überraschten ihn. Bei so manchem Tonartwechsel, der ihn früher nicht im Innersten hätte erschüttern können – da er der Überzeugung gewesen wäre, ihn vorausgesehen zu haben -, bekam er nun eine Gänsehaut. Die wohlige Gänsehaut des Unbekannten. Und er hätte es nicht mehr gewagt – zu dirigieren.
Die Nachmittage des Erwachsenen. Einige wenige Narben; Erinnerungen an Eiterbeulen. Kleine Schlaglöcher in der ansonsten glatten Haut. Nachmittage, die nach & nach zu Nachmitnächten wurden. Verwandte waren verstorben, Freunde verzogen, Liebschaften vergangen. Der hässliche Mann, der noch nicht hässlich war, war allein. Blieb allein. Mit der Musik. Die Schule hatte er abgebrochen. Er arbeitete als Nachtwächter, mal hier mal dort. Er soff. Was der Musik – beziehungsweise seinem Empfinden & Durchdringen der Musik – neue Dimensionen hinzufügte. Mit der Ginflasche in der Hand begann er zu tanzen; es war eine andere Art der Konzentration; eine körperliche Art – die er bis dahin stets gemieden hatte. Alles drehte sich. Die Welt drehte sich. Schwarz. Ein Loch in der Mitte. Die Welt als Rille & Phantasie. Ein Tonarm, der sich langsam dem Mittelpunkt näherte.
Intermezzo – Er denkt:
Ich könnte schreiben. Wenn ich schreiben könnte. Über mich. Über dieses Leben, das ich war, das ich bin. Aber wie? Kurz, knapp, unsymphonisch. Telegrammatisch. Und doch voller Wiederholungen. Zeit raffend. Weglassend. Weg lassend. Eine Oper in 5 Minuten. Fragmente Fragmente Fragmente. Nur für mich. In der Dritten Person. Die Dritte Person, die ich bin. Die Ich ist. Und alle früheren beinhaltet. Morsen. Im perkussiven Alphabet, das ein Blinder verstehen kann. Ein Blinder, haha, das ist gut – Form & Inhalt werden eins. Wie in meinem Fall. Sie sind so schwer, meine Lider. So schwer. Wie lange werde ich meine Augen noch offenhalten können? Ach, egal. Ich kann hören. Kann blind tippen. Mit meinen genoppten Fingerkuppen. Und es muss nicht einmal einen Sinn ergeben. Für irgend jemanden. Nicht einmal für mich, für die Dritte Person. Ich könnte schreiben. Wenn ich schreiben könnte. Ohne Musik im Hintergrund. Ohne
Sehnsucht. Der Flaschengeist. Der Gin. Die körperliche Konzentration.
Als ihm die Haare ausfielen, war es ihm beinahe egal. Einzig die Art wie sie ihm ausfielen interessierte ihn. Das erkennbare Muster der Lücken; der Lichtungen. Kreisrunde Blößen. Es war zu der Zeit als er noch zu Ärzten ging. Also ging er zu einem Arzt. Der betrachtete die Stellen & setzte ein altertümlich anmutendes Gerät an, das mit raschen, gezielten Nadelstichen die Haarwurzeln anregen sollte. Dann hielt er ihm einen kurzen Vortrag über Autoimmunkrankheiten, machte ihm wenig Hoffnung & verschrieb eine Teertinktur zur äußerlichen Anwendung. Der hässliche Mann, der noch nicht hässlich war, fand das ‚Prinzip Autoimmunkrankheit’ faszinierend. Sich selber abstoßen. Sich selber bekämpfen. Als wohnte ein Anderer in einem selbst. Oder als ob das Selbst sich selber nicht erkennen würde. Dass der Arzt ihm wenig Hoffnung machte, war ihm gleichgültig. Die hatte er ohnehin. Außerdem würde er einem Menschen, der ihm mehr Hoffnung gemacht hätte, nicht geglaubt haben.
Und in der Tat: Es wurde nicht besser. Die kahlen Stellen wurden größer & zahlreicher; deshalb rasierte er sich den Schädel. Und als es ihm mit der Körperbehaarung ebenso erging, rasierte er sich von Kopf bis Fuß. Wie ein Mensch, der Wert auf sein Äußeres legt. (Bei diesem Gedanken musste er lächeln.)
Und die Fragen, die die Menschen nicht stellten, passten zu den Antworten, die der Mann niemals gegeben hätte.
Jener Abend….. Im Herbst…..
Stunden auf dem Sofa. Dem Sofa, das nach Staub riecht. Er ist betrunken. Der Kopfhörer pumpt Musik in seine Gehörgänge. Flutende Wellen aus Noten, Wein & Gin umwogen sein Gleichgewichtsorgan. Ein staubflirrender Abendsonnenstrahl fällt durch einen Spalt in der Jalousie; durchstreicht den Raum & das künstliche Licht der Lampen. Unschärfe liegt über allem. Der unfokussierte Blick des Mannes zittert über die Dinge, die ihn umgeben. Streift eine der Märchenplatten seiner Kindheit. Eine der wenigen, die ihm geblieben sind. Ihr Dasein erinnert ihn an den Verlust all der anderen. Eine kurze Trauer bricht auf. Trauer über die eigene Unachtsamkeit, die eigene Gleichgültigkeit & die Zufälle des Lebens. Die Zufälle mit ihrer Folgerichtigkeit. Rotkäppchen & der böse Wolf. Durchmesser: 17 – Upm: 33 ⅓. Eine Single mit der Geschwindigkeit einer LP. Ein Zwischending – nicht ganz das Eine, nicht ganz das Andere. Und er hört kaum mehr die Musik, die von außen kommt. Hört: die Musik in ihm; eine Erinnerung ….. Die einleitende Melodie des Märchens ….. Hört: den schaurigen Wandel von Dur zu Moll, den Wandel, der das Abweichen des Mädchens vom rechten Wege perfekt vertont. Das Kind auf verschlungenen Wegen – hin zum Tier – das es verschlingen wird. Und die Gänsehaut schlägt aus …. auf seinen Armen …. seinen Beinen …. seinem Oberkörper …. Ein Horror, den er glaubte vergessen zu haben, fließt wie ein geschwärzter Albtraum durch seine Blutgefäße …. Verlorenes, Niegehabtes & die Sehnsüchte danach …. Sehnsüchte, die nach den verbrannten Wunschzetteln eines Kindes riechen ….. Des Kindes, das er einst gewesen war …. Des Kindes, das die Herrschaft über die Musik besessen hatte ….
Und er schläft ein.
Kurz nur. So kam es ihm vor. Und so war es wohl auch. Die auf Zufall geschaltete Endlosschleife schien wie verknotet. Verheddert zwischen Synapsen. Als er sich aufrichtete, schmerzte sein Rücken. Er setzte die Kopfhörer ab; legte die Musik neben sich auf das Sofa, das nach Staub roch. Schwindel kreiste. Und ein Frösteln, das nichts mit Kälte zu tun hatte, war in ihm. Auf ihm. Auf seiner Haut. Dieser Haut, die …. Mit der linken Hand strich er über seinen rechten Unterarm. Gänsehaut. Die sinnlose Gänsehaut des Haarlosen. Gänsehaut als Selbstzweck. Evolutionsmüll. Entfremdet. Er rieb den Unterarm, um ihn zu wärmen – zu glätten. Und man weiß nie, dachte er, ist es Kälte …. oder Gefühl. Oder beides. Von außen betrachtet jedenfalls. Dieses Außen, wo die Anderen sind. Und wo ich bin, für die Anderen. Er rieb. Weiter. Fester. Spürte in seiner glatten Handfläche das Aufgerauhte seines Armes.
Dies war der Beginn gewesen. Der Beginn der Gänsehaut, die nicht mehr verschwand. Der Gänsehaut, die stehengeblieben war in einem Augenblick erinnerter Musik. In einer Erinnerung an Kindheit, Wandel & Verlust.
Es war leicht gewesen, sie zu verbergen – am Anfang. Er war zu Ärzten gegangen; die Ärzte hatten ihre Ratlosigkeit eingestehen müssen – am Ende. Nichts hatte geholfen. Nichts half. Er hasste die Ärzte für seine Krankheit. Und eine Krankheit war es doch. Sicherlich. Obwohl …. Manchmal hatte er seine Zweifel. Niemand kannte dieses Phänomen. Manchmal nannte er es – in seinem Innersten – seine Gesundheit. Und er lachte.
Der Verlauf war schleichend. Über viele Jahre hinweg. Die Gänsehaut wuchs; zunächst in die Höhe. Sie wuchs unter dem Einfluss der Musik. Unter dem Einfluss der Musik, von der er nicht lassen konnte. Er versuchte es immer wieder. Schaffte es vielleicht einige Tage ab & an; unter den Qualen der Stille. Der vermeintlichen Stille, die er liebte – & die er doch nicht ertragen konnte. Sie war vermeintlich, weil sie nicht in ihm war – vermeintlich, weil die Erinnerung an bestimmte Melodien & Harmonien ihn nie zur Ruhe kommen ließ – & die Erinnerung an die Musik den gleichen Klang & oft denselben Wert hatte wie die Musik selber.
Schließlich breitete die Gänsehaut sich aus. Bewucherte nach & nach seinen ganzen Körper. Bis hin zur Schädeldecke. Gesicht, Augenlider, Lippen, Genitalien – nichts blieb unentstellt. Partien, die im Normalfall nicht betroffen werden, wurden betroffen. Die Brauen fielen ihm aus; dann verlor er die Wimpern. Sein Bartwuchs, der immer schon spärlich gewesen war, hörte auf zu existieren.
Und da es möglich war, noch zurückgezogener zu leben als er es bereits getan hatte, lebte der Mann noch zurückgezogener. Der Alkohol, beziehungsweise der Zustand, in den dieser ihn versetzte, begann ihn zu langweilen; also beendete er die Sauferei von einem Tag auf den anderen.
Und die Fragen, die die Menschen nicht stellten, passten zu den Antworten, die der Mann niemals gegeben hätte.
Der hässliche Mann betrat das Café, das es bald nicht mehr geben würde. Sein Platz, den er – im Stillen – ‚mein Platz’ genannt haben würde, wenn er in solchen Begriffen gedacht hätte, war nicht frei. Eine Frau saß dort. Eine Unbekannte. Eine Fremde. Sie trug eine dunkle Brille. Ein Buch lag geschlossen neben ihrer Kaffeetasse; in einem neutralen Schutzumschlag, der wie von einem Kind gebastelt aussah. Der hässliche Mann setzte sich zwei Tische weiter auf einen Stuhl, von dem aus er die Frau hätte beobachten können. Sie waren die einzigen Gäste. Die gleichgültige Bedienung bediente ihn unaufgefordert. Er schüttete seine übliche Überdosis Zucker in den Kaffee & rührte um. Kreisende Bewegung …. Das KlingKling! des Löffels …. Und der Mann: in Gedanken.
So sieht das also aus, wenn jemand dort sitzt, wo ich sonst sitze. Von woanders aus betrachtet. Nur nicht so hässlich, haha. Seltsam, kann mich gar nicht erinnern, dass dort jemals jemand gesessen hätte…. Eine Frau. Nicht glotzen, bloß nicht. Gut, dass meine Lider so schwer sind. Wann hatte ich zuletzt? Nicht drüber nachdenken. Ja, klar, wenn man denkt ‚nicht drüber nachdenken’, ist es schon zu spät. Schon passiert. Aber es sind ja nur Zahlen …. Jahreszahlen …. Ziffern, in denen man Zeiträume mißt. Räume durchmessen …. durchschreiten …. Zeiträume, in denen man so einsam ist, dass man nur das Geräusch der eigenen Absätze hört. Musik, Takt – & ein Echo, das es ohne Mauern nicht geben würde. Bitter. Mehr Zucker. Die könnten die Maschine auch mal wieder reinigen. Na gut, lohnt sich vielleicht nicht mehr. Leise rühren. Sie trinkt auch nur Kaffee. Einfachen Kaffee, keinen modischen Schnickschnack. Scheint hübsch zu sein …. aber wie soll man sicher sein, wenn man die Augen nicht …. Wetter der dunklen Brillen …. Nein, nun wirklich nicht, weder hier noch draußen. Wolkenbezug im Himmelbett. Beziehungsweise Niederschlag. Das Blau ihres Rockes erinnert mich…. ich weiß nicht, woran. Der Saum – ein Traum. Fließend. Wie ein Übergang. Ein. Über. Gang. Wohin?
Waren dies die Gedanken des Mannes? Wahrscheinlich. Diese – oder ähnliche – oder ganz andere.
Der Regen klang nach rohen Erbsen in einem Sieb. Einem Sieb, das ein Unbekannter schüttelte. Sie saßen nur da & tranken ihren Kaffee. Der hässliche Mann & die Frau. Die ihr Buch nicht berührte. Er wartete auf die Melodie in seinem Kopf; die Notenfolge, die der Fremden zu entsprechen schien. Doch sie blieb aus. Wie in Stille gekleidet saß sie da; und vorbei war es mit Ruhe & Gefühllosigkeit. Einmal mehr. Und mehr als je zuvor.
Zeit verging. Wer würde zuerst gehen? Der Mann hätte sie gerne gehen gesehen. Gesehen, wie sie sich bewegte, wenn sie aufstand & ging. Den Fall ihres Rockes, die Bewegung ihrer Beine, den Schwung ihrer Waden. Den Sound ihrer Schuhe hätte er gerne gehört….. Und doch – er wollte nach Hause. Sofern er zuerst das Café verließe, wäre es ihm möglich, sich vorstellen, dass sie noch immer dort sein würde, wenn er zurückkäme. Am nächsten Tag – oder irgendwann. Er würde es nicht glauben, aber träumen. Das genügte. Ihm.
Also ging er.
Um wiederzukommen. Am nächsten Nachmittag. Über feuchte Gehwege hinweg, den Blick auf die glänzenden Fugen zwischen den Platten gerichtet. Es war ein weiterer Nachmittag, da sie an der Stelle saß, die er am Vortag eingenommen hatte. Am Vortag war es ebenso gewesen, obgleich es sich doch um unterschiedliche Plätze handelte. Dies dachte der Mann. Und lächelte, während er sich hinsetzte, wo sie gesessen hatte – auf seinen alteingesessenen Platz. Zwei weitere Gäste an anderen Tischen; Stammgäste wie er. Wieder lag ein geschlossenes Buch neben der Kaffeetasse der Frau; vielleicht dasselbe Buch, vielleicht ein anderes im selben Schutzumschlag. Derselbe Rock; dieselbe dunkle Brille. Dieselbe Sehnsucht, sie gehen zu sehen. Und der Wunsch, sie würde bleiben bis er wiederkäme.
Tag für Tag.
Nur Einsamkeit kann so an Fremden hängen.
Und nachts pumpten die Kopfhörer Musik in seine Gänsehaut. Und die Gänsehaut warf gezackte Schatten im künstlichen Licht – auf die Rauhfasertapete, deren Muster er auswendig zu kennen glaubte, da es unveränderlich war. Wieviele Nächte hatte er die Wände angestarrt….. Die Wände im papierenen Kostüm. Weiße Projektionsfläche seiner Phantasien. Innere Bilder auf immergleichem Muster. Und das Muster prägte sich ein; prägte sein Unterbewusstsein. Rauhe Oberflächen hinterlassen den tiefsten Eindruck – bei Berührung.
Welche Musik mag die Tapete gehört haben, bevor ich sie kaufte? Er lachte. Leise in sich hinein. Ich lache leise in mich hinein…. In wen auch sonst? Er dachte. An die Frau. Die Unbekannte. Die Fremde. Spielte mit ihr. In Gedanken. Stellte sie sich vor. Stellte sich ihr vor. In seiner Vorstellung. Fantasierte sich eine Realität zusammen, in der sie gemeinsam die sichtbare Welt belächelten.
Am folgenden Tag war sie nicht da. Und für ihn war ihre Abwesenheit bereits ein Fehlen. Er sagte nichts, fragte nichts, saß allein, rührte um, trank & kam sich albern vor. Seine Empfindungen, seine Gedanken kamen ihm albern vor.
Vielleicht hat sie sich nur verspätet. Vielleicht kommt sie noch. Und überhaupt – was heißt ‚verspätet’? Wer Termine hat, kann sich verspäten; wer feste Zeiten hat, kann sich verspäten – ich würde mich verspäten, wenn ich nicht Punkt 16 Uhr das Türglöckchen zum Bimmeln brächte…. Aber sie…. ist vielleicht frei. Kann kommen & gehen, wie es ihr beliebt….. Ich könnte das auch. Aber ich kann es eben nicht. Ich bin nicht frei. Ich folge Gesetzmäßigkeiten. Gesetzmäßigkeiten, die ich nicht durchschaue. Ein Sklave. Ein hässlicher Sklave, haha. Ja, vielleicht kommt sie noch. Und dann brauche ich nicht zu warten, bis sie geht, um zu sehen, wie sie geht. Bewegung, Schwung, Sound, der Swing des blauen Rocks……
Doch sie kam nicht. Und er ging. Bevor die Dunkelheit, die nun in ihm war, sich über die Straßen senkte.
Nächte, Nachmittage, Rituale, Fugen, Löcher, Tonarme, Geräusche, Klang, Melodien, Harmonie, Leere, Sehnsucht, Fremdheit, Schmerz, Humor, Gelächtertränen, Einsamkeit & Träume…..
Und die dritte Person, die in meiner Wohnung sitzt & lauscht, bin ich.
Morgen…..
Morgen wird sie wieder da sein.
Allein – das Einzige, das am folgenden Tag dort war – war ihre Abwesenheit. Und die Gefahr, dass er sich daran gewöhnen würde.
Jetzt hing ein Zettel an einer der trüben Fensterscheiben. Darauf ein Datum. Das Datum der Schließung. Es blieben ihm noch 2 Wochen. Die letzten Wochen eines alten Rituals. Er würde sich umschauen müssen nach einem anderen Café, das seinen Bedürfnissen entsprach. Er hasste den Gedanken daran; und er wusste, dass er es nicht tun würde, bevor ihm die Tür mit jener Klinke, die sich im Laufe der Jahre auf wundersame Weise seiner Hand angepasst zu haben schien, endgültig verschlossen blieb. Und beinahe ebenso sehr hasste er den Gedanken, sich von der Bedienung – der gleichgültigen Frau, die immer müde aussah – verabschieden zu sollen; ein peinlicher Moment, der ihm bevorstand, so wie es ihm meist peinlich war, wenn er sich gesellschaftlichen Gepflogenheiten glaubte beugen zu müssen.
Zwei Tage später saß sie wieder auf seinem Stammplatz. In einem roten Rock, der etwas kürzer war als der blaue. Das Glöckchen zitterte nach – 440 Hertz. Das Röcheln der veralteten Maschinen erinnerte mehr denn je an letzte Atemzüge. Ein staubflirrender Sonnenstrahl leuchtete auf einer weißen Bluse. Und die dunkle Brille schien endlich einen Sinn zu haben. Es war dieselbe Brille wie immer. (Wie immer! Das klingt, als wären Jahre vergangen. Als wären wir Alte Bekannte. Zumindest Alte Bekannte vom Sehen. Nun – wer weiß…. Ich habe die Zeit nie begriffen. Als existierte ich außerhalb ihrer Räume….) Ein Buch lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Neben der Kaffeetasse. Die Frau las darin. Ihre Fingerkuppen eilten über die Zeilen. Weiß & erhaben waren diese Zeilen, und die Haut der Frau erspürte deren Inhalt.
Der hässliche Mann setzte sich dorthin, wo er noch nie gesessen hatte, nur einen Tisch von der Frau entfernt. Er hatte sich vorgenommen, noch kurz vor dem Ende des Cafés alle Plätze darin auszuprobieren; eine Idee, die ihm bis dahin nie gekommen war. Er beobachtete die Frau – & war nicht überrascht. Natürlich nicht. Er war beinahe so wenig überrascht, wie er damals – in seiner Kindheit – von Melodien & Harmonien überrascht gewesen war. Damals – als er geglaubt hatte, Gesetzmäßigkeiten durchschauen zu können, die es gar nicht gab. – Er beobachtete die Frau nicht anders als zuvor. Ebenso zurückhaltend, ebenso unaufdringlich. Als hätte sie ihn sehen können.
Ich könnte schreiben. Wenn ich schreiben könnte. Über mich. Über dieses Leben, das ich war, das ich bin. Und sie könnte es lesen. Mit ihren Fingerspitzen. Spüren – mit ihrer Haut, die so glatt erscheint….. So glatt, wie Haut nur erscheinen kann, wenn man sie mit bloßem Auge betrachtet. Sie würde zwischen den Zeilen lesen, zwischen den Zeichen, würde die Räume zwischen den Erhabenheiten ertasten – die Zwischenräume, die ihr das Lesen erst ermöglichen. Wie schwer meine Lider sind! Ja, ich könnte schreiben. Wenn ich schreiben könnte. Ein Happy End könnte ich erfinden. Ein Ende, welches das Schreiben unnötig machte; und das Papier überflüssig. Sie würde – meine Haut lesen. Mein Innerstes im Äußeren. Mein Leben lesen. Meine Krankheit. Meine Gänsehaut – die Blindenschrift der Musik. Das Buch meiner Erinnerungen. Das Buch mit dem erfundenen Happy End – ich finde sie, sie findet mich, wir finden uns – erfinden uns – neu…… Und man müsste es glauben. Wie ein Kind. Dieses Ende. Dieses glückliche Ende…..
Dieses Ende, das ich
nicht
schreiben
kann.
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Die Verträumten
»Kaffee?« fragte der Mann mit dem Tiergesicht. (Bald erinnerte es an Ratte, bald an Katze, bald an Hund.)
»Nein«, sagte die Frau, »lieber nicht, sonst wacht ER womöglich noch auf.« Auch die Frau hatte ein Gesicht. Meistens. Aber nicht immer. Manchmal war es eine matte weiße Fläche, auf die sich alles projezieren ließ.
Der fensterlose Raum, in dem sie – & die vielen Anderen – sich befanden, war groß. Und unübersichtlich. Schummerte in warmgedämpftem Licht. Licht, das wie aus der Skala eines Röhrenradios kam. Vertikale schmale Streifen bildeten die Tapeten; rot & grau. Die Möbel waren verwirrend asymmetrisch gezimmert & schienen sich ständig von selbst zu verrücken; wer unachtsam war, stieß sich immer wieder an ihnen.
Stimmenmix & Cool Jazz.
Der Rattkatzhund sagte: »Denken Sie wirklich, ER könnte aufwachen, wenn wir zu munter werden?«
»Ich weiß nicht, was ich denke«, sagte die Frau. Ihr Gesicht war in diesem Moment eine verdrängte Erinnerung. Eine Erinnerung aus den rattigen Phasen des Mannes.
»Egal«, sagte er, »ich trinke jedenfalls einen – & ich werd mir etwas Asbach hineinkippen. Vielleicht schwindelt’s dann in seinem Kopf.«
Er grinste verkatert. Ihre Schultern zuckten.
»Wenn Sie meinen.«
Sie trug ein weinrotes Abendkleid. Auffällig viele Frauen trugen Abendkleider, auffällig viele Männer schwarze Anzüge, Smokings, Fracks. Wer etwas anderes trug, fiel besonders auf. Und am meisten fielen Diejenigen auf, die nichts trugen; doch nicht immer wurden sie beachtet.
Der Rattkatzhund blickte sich um; auf den Spiegeln seines Smokings lagen Schuppen. »Wo issn jetz die Bar schon wieder hin?«
»Na, da«, sagte die Frau. Ihr roter Zeigefingernagel wies ihm den Weg.
»Diese Möbel machen mich noch verrückt«, sagte er & ließ sie allein.
Rauch waberte zur Musik. Pfeifen, Zigarren, Zigaretten glühten. Asche fiel zu Boden. Paare tanzten. Tänze paarten sich mit der Musik.
Man sah keine Tür, doch ein Vorhang aus pantherschwarzem Samt schien einen Aus- oder Eingang zu verhüllen.
»Verdammt warm hier«, sagte jemand im Vorübergehen.
»Ich friere«, sagte ein anderer.
Ein blonde Frau in violetten Dessous lag bäuchlings auf einer Ottomane. Sie beobachtete die Tanzenden. Ein kleiner Junge im Matrosenanzug näherte sich ihr. Er lächelte.
»Du bist aber schön«, sagte er.
Sie blickte ernst. »Ach ja?«
»Ja. Wenn ich dich sehe, höre ich Cellomusik.«
»Sei nicht so altklug«, sagte sie mit scharfer Stimme.
»Ich höre Cellomusik, und ich sehe F-Löcher.«
»Verschwinde, du kleiner Perversling.«
Der Junge lachte ihr eine Gänsehaut, machte »Quak Quak« & versickerte im Parkett. Sie fing an zu weinen.
Ein dicker alter Mann blieb bei ihr stehen.
»Was ist?« fragte er.
»Nichts«, sagte sie.
»Das ist doch nichts Besonderes«, sagte er & ging weiter.
Einer aus der Masse hielt ihn an.
»Wissen Sie, wie spät es ist?«
»Das weiß Niemand nicht«, sagte der dicke alte Mann.
»Doch, ich nämlich«, sagte der Massenmensch.
»Na dann«, sagte der Alte, »lassen Sie mich doch in Ruhe.«
Und er ging weiter.
Der Massenmensch war verdutzt. Er blickte auf sein nacktes Handgelenk. Schwarze Haare tentakelten, aber er konnte sie nicht lesen.
»Was mache ich hier nur?« flüsterte er.
Am anderen Ende des Raumes stand eine Dame mit abstehenden Ohren am Buffet. Sie vernahm das Geflüster, wandte sich augenblicklich um & eilte auf den Massenmenschen zu. Einige Nudeln fielen dabei zu Boden, denn der Pastaberg auf dem Teller in ihrer Linken bebte.
Als sie den Massenmenschen erreicht hatte, deutete sie mit der Gabel auf ihn.
»Was Sie hier machen? Das kann ich Ihnen sagen.«
»Ach ja?«
»Ja«, sagte sie. »Sie machen hier dasselbe wie ich.«
»Und was machen Sie hier?«
»Nicht wissen, was ich hier mache.«
»Sie sind ja verrückt.«
»Ich bin nicht verrückt. Ich bin doch kein Möbelstück.«
»Zumindest ergibt das, was Sie sagen, keinerlei Sinn.«
»Na und?« sagte sie. »Es reicht doch, wenn ich mich ergebe.«
»Nun gut«, sagte er. »Dann können wir uns ja auch gemeinsam ergeben. In unser Schicksal.«
»Das haben Sie aber schön gesagt«, sagte sie.
Und eine weitere Nudel fiel zu Boden, während der Massenmensch eine Erektion bekam. Er mochte abstehende Ohren.
Sie stellte den Teller auf einem der Tische ab, behielt die Gabel in der Hand, und gemeinsam krabbelten sie unter einen anderen Tisch, wo bereits ein toter Igel lag.
»Hier ist es aber dunkel«, sagte sie. Doch schon spiegelte sich die Flamme eines Zippos in ihren Augen, und sie roch Benzin.
»Ist der tot?« sagte sie.
»Wahrscheinlich«, sagte er.
»Sei vorsichtig«, sagte sie, »nicht dass wir uns stechen.«
»Dann leg erstmal die Gabel weg.«
»Oh, die hatte ich ganz vergessen.«
Sie wurde rot. Sie legte die Gabel neben den Igel.
»Jetzt aber«, sagte sie.
»Wann sonst?« sagte er.
Schuhe, Hosenbeine & nackte Frauenwaden zogen an ihnen vorüber, während sie sich auszogen, um sich auszuziehen & sich später wieder anziehen zu können/dürfen/müssen.
Becken stießen aneinander. Zu schnell für Cool Jazz.
Uncool & hitzig.
Eine tiefe Stimme donnerte durch den Raum:
»Dadadas nimmst dududu sofofofort zurückkkkk, sonst stetetetech ich dich a-a-a-a-bbb!«
Nicht alle blickten sich um, aber Diejenigen, die es taten, langweilten sich schon vorher – wie in einer Endlosschleife.
Die Stimme gehörte einem schwarzen Kaninchen. Einem stotternden Kaninchen. Wutentbrannt schaute es aus einem weißen Zylinder; in seiner rechten Pfote blitzte ein Stilett.
Ein Mann, der aussah wie Bela Lugosi stand davor; er trug einen Dreiteiler. Noch hielt er seinen halbsteifen Schwanz in der Hand. Sein Sperma sickerte dem Kaninchen ins rechte Auge. Das sich rötete. Und zu tränen begann.
»Äntschuuldigunk«, sagte der Belaeske, »abärr ich kaahn das nicht zurrühcknäähmen.«
Das Kaninchen ärgerte sich. Vielleicht war es ursprünglich weiß gewesen. So wie der Saft auf seiner Stirn. Tropfende Blässe.
Der Rattkatzhund trank seinen Kaffee mit Asbach.
Wir werden alle sterben! dachte er. Wenn ER aufwacht.
Schuppen fielen von den Spiegeln seines Smokings.
Die Frau, die meistens ein Gesicht hatte, hatte gerade keins. Das einzige, was sie hatte, war Hoffnung. Die Hoffnung – zu überleben. Rote Blasen wie aus einer Lavalampe zeitlupten über die mattweiße Fläche. Heller als ihr Abendkleid.
Ein Mann mit einem Bleistift notierte sich Nichts auf eine Visitenkarte. Auf eine Visitenkarte eines Menschen, der niemals Besuch empfing & niemals jemanden besuchte. Der Bleistift war spitz & hatte einen Radiergummi, der sich nutzlos fühlte – wie der Spazierstock eines Querschnittsgelähmten; aber auch frisch & unverbraucht.
Über der Lehne eines braunen Stuhls hing: eine grüne Lederjacke. Auf der Sitzfläche lagen: ein Feldstecher …. eine schwarze Fliege, die man (mit Klebstoff) als Schnurrbart hätte missbrauchen können …. ein Monokel …. Gänsekiele, die aus (musikbedingten?) Gänsehäuten gerupft worden waren …. fallengelassene Gamaschen …. ein Kummerbund mit Ketchup-Flecken …. & eine ausgestopfte Möwe mit Rechtschreibschwäche.
Lachen ritt auf einer Kanonenkugel.
Ein einsamer Mann im Frack trank Rum. Seinem Frack fehlten die Schwänze. Die traurige Frau neben ihm trug eine Stoffschere in der Gesäßtasche ihrer löchrigen Jeans.
Trug: Schluss. In ihrem Herzen.
Er rauchte eine Zigarre.
Die Frau sagte:
»Das ist keine Pfeife.«
Er sagte:
»Ich weiß.«
Sie sagte:
»Aber du.«
Er sagte:
»Ich weiß.«
Und es graute ihm. Er war traurig. Und die Frau war einsam.
Eine Verflossene. Wie die Zeit. Schon jetzt. Eine schmelzende Uhr. Zu weich für die Gegenwart. Zu weich für die Realität. Doch – vielleicht – zu hart für einen Traum.
Ein toter Schmetterling lag auf einem Schachtisch ohne Figuren; sein Körper ruhte auf B7. Sehr langsam bewegte sich eine gelbschwarz-gestreifte Spinne auf ihn zu. Sie war etwa halb so groß gewesen wie der Schmetterling, als sie ihre Reise auf H1 begonnen hatte; nun, da sie E4 passierte, war sie bereits doppelt so groß wie er. Eine nackte Dame stand neben dem Tisch & beobachtete sie.
Was hat das nur zu bedeuten? dachte die Dame.
Was hat das nur zu bedeuten? dachte die Spinne.
Was hat das nur zu bedeuten? hätte der Schmetterling denken können, wenn er noch gelebt hätte.
»Oh ja, fick mich!«, rief die Frau mit den abstehenden Ohren. Unter dem mittlerweile verrückten Tisch.
Der Rattkatzhund trat neben die nackte Dame, tätschelte ihren Hintern & stellte seine leere Kaffeetasse mit Nachdruck auf C6. Die Spinne hielt inne.
»Warum haben Sie das getan?« fragte die Dame.
»Ihm war danach«, sagte der Rattkatzhund. Er lächelte hündisch.
»Ich verstehe«, sagte die Dame, »da kann man nichts machen.«
»So ist es.«
»Gefällt Ihnen mein Arsch?«
»Ich dachte, Sie meinten die Spinne.«
»Nein.«
»Ja. Er klingt gut. So mollig.«
»Nicht durig?«
»Nur wenn er glücklich ist. Denke ich mir.«
»Das ist traurig.«
»Finde ich nicht.«
»Dann suchen Sie.«
»Wir haben keine Zeit.«
»Ach ja ….. Das hätte ich beinah vergessen.«
»Bein … Ah!« sagte er.
Die Spinne dachte: So ein Arsch!
Sie hatte die Lust verloren. Die Lust auf den toten Schmetterling. Der Weg um die leere Tasse war ihr zu weit.
Jetzt tanzten die Paarungen zu Stan Getz.
Ein Mann in einem schwarzen Umhang saß in einem Ohrensessel. In einer düsteren Ecke des Raumes. Das Schwarz wirkte besonders schwarz – wie ein Vergessen von Farbe – wie das Schwarz des Tiefschlafs. Der Mann fiel auf. Schatten fiel auf – sein Gesicht. Viele fragten nach ihm, niemand hatte eine Antwort.
Eine Frau: »Wer ist das?«
Ein Mann: »Wer?«
Die Frau: »Der da. In der Ecke.«
Der Mann: »Keine Ahnung.«
Die Frau: »Er schweigt die ganze Zeit.«
Der Mann: »Vielleicht ist er stumm.«
Die Frau: »Wenn er stumm wäre, könnte er nicht schweigen.«
Der Mann: »Wie bitte?«
Die Frau: »Schweigen setzt die Fähigkeit zu sprechen voraus.«
Der Mann: »Moment. Darüber muss ich nachdenken.«
Die Frau: »Tun Sie das. Aber nicht zu laut, wenn ich bitten darf.«
Der Mann: »Ich denke grundsätzlich stumm.«
Die Frau: »Sie haben es noch nicht begriffen.«
Der Mann: »Mutter, bist du’s?«
Die Frau: »Ab ins Bett mit dir. Sonst sag ich’s deinem Vater, und dann setzt es was.«
Der helle Blitz im Schattengesicht war vermutlich ein Lächeln.
Der Belaeske verstaute seinen Schwanz; das Kaninchen verschwand im Zylinder; der Zylinder löste sich in Duft auf.
Auf einem roten Sofa saß eine Frau im Smoking. Schwarzer Bubikopf, grüne Augen, eine leere Zigarettenspitze im Mundwinkel. Zurückgelehnt & gelassen betrachtete sie die Tanzenden. Bewegungslos die Sichbewegenden. Und zwischen all dem Geschiebe & Gedrehe, zwischen all den lustig-lustvollen Illustrationen von Noten – erblickte sie: die Augen der Schere in der Tasche der traurigen Frau. Und dachte: Dieser Drang! Wo kommt dieser Drang her? Aus mir? Aus ihm?
Die traurige Frau spürte den Blick auf ihrer Gesäßtasche. Schaute sich um. Schaute ins Grün. Fühlte sich aus- & angezogen – und ging zu der Frau auf dem Sofa.
»Ja?« fragte sie. Obwohl Ja doch eigentlich eine Antwort ist.
»Leihst du mir deine Schere?« sagte die Frau im Smoking.
»Gerne«, sagte die traurige Frau. »Ich leihse dir. Aber nicht zu laut.«
Beide lächelten.
Die Bubiköpfige steckte Daumen & Mittelfinger durch die Augen der Schere & begann sich die Smokingbeine abzuschneiden. Weit oben. Ganz weit oben. So weit oben wie es gerade noch im Sitzen (mit angehobenen Beinen) ging.
»Ich weiß, warum du das tust«, sagte die traurige Frau.
»Ich ahne, was du weißt«, sagte die Frau mit der Schere.
»Er.«
»Ja, Er. Oder Alle.«
»Der freie Wille.«
»Der freie Wille«, wiederholte die Frau mit der Schere.
RitschRatsch.
Und sie lachten. Alle. Heftig.
Fast hysterisch.
»Wie heißt du eigentlich?« fragte die traurige Frau.
»Wenn ich das wüsste.«
»Das ist aber ein schöner Name.«
Sie konnten sich nicht vorstellen.
Die Schere wurde zurückgegeben; die appen Smokingbeine langsam von den Schenkeln gezogen. Über Herrenschuhe hinweg, in denen bare Frauenfüße steckten. Hot Smoking Pants! Sie legte den überflüssigen Stoff neben sich auf das Sofa & schlug die Beine übereinander. Und sofort wurde ihr warm. Von den Blicken, die sie spürte. Auf ihrer Schenkelhaut. Träumend, sehnsüchtig, neidisch, begehrlich.
Im Kopf eines alten Mannes: Sie sein! Einmal nur. Für einige fremde Augenblicke. Eine wie sie. Mit meinem Bewusstsein. Mich selber betrachtend. Meine Schönheit erkennend. Damit spielen. Alles fühlen. Mich bewegen, ganz leicht, jung & schön. Frei. – Frei? Nun ja.
Die traurige Frau verstaute die Schere & ging zurück zu ihrem Rumtrinker.
Ein Gemälde erschien aus dem Nichts; hing unversehens an der Wand hinter dem roten Sofa. Ein Galgen in Pastelltönen …. mehrere Erhängte in einer Reihe …. mit verwaschenen Gesichtern …. Jemand war im Begriff die Treppe hinaufzusteigen, mit einem Messer in der Hand …. Vielleicht um die Toten abzuschneiden, vielleicht um sie auszuweiden …. Nur wenige nahmen das Bild überhaupt wahr. Zu ablenkend war die Frau davor.
Und es roch nach Nagellackentferner & Brotpudding.
»Ich hätte Lust, die Loreley zu singen«, sagte Dr. Kottmann.
»Wenn Sie das tun, werde ich Sie heftig ohrfeigen«, sagte Franz & spuckte sich auf die Stulpenstiefel.
»Das ist absurd«, sagte Dr. Kottmann.
»Ist es nicht«, sagte Franz.
»Ist es doch«, sagte Dr. Kottmann.
»Ist es nicht«, sagte Franz.
»Woooohl!«
In diesem Moment bewegte sich der schwarze Vorhang – & Tina betrat den Raum. Sie trug einen knappen, hellblauen Bikini & ein automatisches Gewehr; um die Taille einen lockeren Patronengürtel. Blonde Zöpfe (Affenschaukel). Und sie begann, wahllos in die Menge zu schießen. Wahllos? Niemand schrie. Löcher wurden geboren. In Stoff & Fleisch. Blut spritzte. Hirn spritzte. Körper fielen zu Boden. Der alte Mann betrachtete ihren Popo, registrierte jede Bewegung, die dieser bei jedem Schuss, bei jedem Rückstoß machte. Dann drehte sie sich herum & schoss ihm zwischen die Augen. Er lächelte.
Der Rattkatzhund & die Gesichtslose, die tatsächlich mal wieder gesichtslos war, standen am Buffet.
Er sagte: »Und Sie hatten Angst, ein Kaffee könnte Ihn aufwecken.«
»Ja«, sagte sie mundlos, »das war einer meiner verrückten Gedanken.«
»Ach, so verrückt war der gar nicht. Eher verträumt, würde ich sagen.«
»Dann tun Sie’s doch.«
Tina lud nach. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sie daran zu hindern. Die Musik war sanft, und die Leichen häuften sich.
Die Gesichtslose erinnerte sich an ihr Gesicht, und plötzlich war es wieder da. Niemand erkannte sie.
Tina barfüßelte zu der dunklen Ecke, wo der Ohrensessel stand. Sie zielte in den Schatten. Sie drückte ab. Dies war der einzige Schuss, der lautlos war.
Dann sagte sie: »Entschuldigung. Ich habe mich vertan. Ich dachte, dies sei eine Rechenmaschine.«
»Endlich«, sagte der Mann im schwarzen Umhang.
Und es roch nach Blut, nach Hirn, nach Schatten, als die Decke des Raumes sich öffnete.
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Das Mädchen mit den Gedankenstrichen
Schneelose Winternacht. Dunkel wie das Innere einer leeren Mülltonne. Verhaltene Kälte. Trockene Straßen. Ein dünner Mann in langem, schwarzem Mantel humpelt durch eine enge Gasse. Er spricht zu sich – leise, unverständlich. Der Mond ist verschwunden. Wolken wie finstere Gedankenblasen aus einem Comic. Ein Comic, der auf einem Friedhof gezeichnet wurde. Der Mann trägt seinen Kopf voller Erinnerungen wie eine Bürde & eine Cognacflasche in der Manteltasche; es ist immer dieselbe, seit Jahren; niemals trinkt er aus ihr; sie ist seine Beruhigung – sonst nichts. Die Erinnerungen in seinem Kopf – sie sind keine Beruhigung; zu zahlreich sind sie, zertrümmert in viel zu viele winzige Splitter; ein Puzzle, das er nicht mehr zusammensetzen kann. Der Mann ist auf dem Weg nach Hause. Zählt die kaputten Laternen. Zählt die Finsternisse. Und spricht.
Und verstummt.
Plötzlich.
Und er horcht.
Hört ein Weinen.
Ein Weinen, das nach kleinem Mädchen klingt.
Er wendet den Kopf. Versucht, das Weinen zu orten. Düstere Häuserfronten. Mauern wie schmutzige Gedanken.
Das Weinen – es dringt durch ein verrostetes Geländer. Durch das Geländer einer Treppe, die zu einer Kellertür führt. Der Mann nähert sich dem Rost …..
Und er erblickt das Mädchen. Sitzend.
Auf der Treppe, die zu einer Kellertür führt.
Auf einer Treppe, die zu der Kellertür führt.
Er sieht den Rücken des Mädchens, zierlich, in einem dreieckigen Lichtfleck; ein Anorak aus Rot & Schwarz, eine Kapuze wie ein Zuckerhut. Leicht erschüttert vom Weinen.
„So schlimm?“ sagt der Mann.
Rotz, der hochgezogen wird.
„Mh“, ist die Antwort.
Ein Schütteln der Kapuze, wie das Schütteln eines Cocktailshakers.
„Hast du dich verlaufen?“ Fragende Linien auf der Stirn des Mannes.
„Nein.“
„Soll ich dich nach Hause bringen, oder wohnst du hier?“
„Ich will nicht nach Hause“, sagt das Mädchen.
„Aber hier kannst du doch auch nicht bleiben.“
„Egal.“ Das Mädchen nimmt ein Päckchen Papiertaschentücher aus der Anoraktasche, putzt sich die Nase, steckt das benutzte Tuch in die andere Tasche.
„Willst du erstmal mit zu mir kommen?“ sagt der Mann. „Dann können wir immer noch weitersehen.“
„Okay.“
Das Mädchen steht auf, dreht sich herum, faßt nach dem Geländer & steigt weiter ins Laternenlicht. Eine ernste, traurige Miene.
„Du brauchst keine Angst vor mir zu haben“, sagte der Mann.
„Hab ich nicht“, sagt das Mädchen.
„Gut. Es ist nicht weit, nur bis zur nächsten Querstraße.“
Das Mädchen geht, der Mann humpelt. Zieht das linke Bein nach. Keine Verbindung, kein Anderhandhalten. Die Straßen sind menschenleer.
„Was ist mit Ihrem Bein“, fragt das Mädchen.
„Ich weiß nicht. Ich gehe nie zum Arzt. Es schmerzt einfach.“
„Dann sollten Sie zum Arzt gehen.“
„Ja, sollte ich wohl.“
„Und warum gehen Sie nicht?“
„Aus Gewohnheit.“
„Versteh ich nicht.“
„Egal“, sagt der Mann. „Wie heißt du eigentlich?“
„Sina.“
„Schöner Name. Ich heiße Edward, und das ist ein blöder Name.“
„Find ich nicht.“
„Hmm, danke. Und wie alt bist Du?“
„11 ½.“
„Du wirst bestimmt längst vermisst. Deine Eltern werden sich Sorgen machen.“
„Nein. Die sind tot. Schon lange.“
„Tut mir leid. Aber irgend jemand wird sich Sorgen machen. Bei wem wohnst du denn?“
„Ich möchte nicht darüber sprechen. Nicht jetzt.“
„Okay“, sagt der Mann, „nicht jetzt. Aber später müssen wir darüber sprechen. Du kannst übrigens ruhig du zu mir sagen.“
Das Mädchen schweigt.
Die Wohnung lag im 2. Stock. Sie war klein, 2 Zimmer, Küche, Bad. Sie war unordentlich, voller Bücher & Staub. Bücher von toten Autoren; ausschließlich. Voll von Flaschen, die Wohnung. Viele alte Erinnerungen, wenig neue. Der Mann drehte die Heizung etwas höher & räumte Bücher & Zeitschriften von einem Sessel, damit das Mädchen sich setzen konnte. Anorak & Mantel lagen auf dem Sofa. Das Mädchen trug rote Jeans & ein schwarzes Sweatshirt. Es sah sich schweigend um, während der Mann damit beschäftigt war, Tee zuzubereiten. Seltsam & ungewohnt war es für ihn, jemanden in seiner Wohnung zu haben. Er hatte keine Tiere – abgesehen von denen, die vielleicht hinter den Bücherstapeln leben mochten. Seine Einsamkeit – er hätte sie als selbstgewählt bezeichnet, wenn er an den Freien Willen geglaubt hätte.
„Hast du Hunger?“ fragte er das Mädchen. „Ich hab hier noch Milchreis von heute Nachmittag.“
„Nein“, sagte das Mädchen. „Hab keinen Hunger.“
„Okay.“
Schließlich saßen sie sich gegenüber. Die Teekanne auf einem Stövchen zwischen sich. Das Mädchen nahm viel Zucker. Der Mann keinen. Das Mädchen pustete in die Tasse.
„Du hast viele Uhren“, sagte es.
„Ein kleiner Tick von mir“, sagte der Mann.
„Aber alle gehen falsch, oder?“
„Nein, eine geht richtig.“
„Warum?“
„Warum was? Warum geht eine richtig, oder warum gehen alle anderen falsch?“
„Warum gehen alle anderen falsch?“ sagte das Mädchen.
„Einfach so. Es reicht doch, wenn eine richtig geht.“
„Du bist komisch“, sagte das Mädchen – ernst.
„Manchmal“, sagte der Mann.
„Was arbeitest du?“ fragte das Mädchen.
„Ich bin arbeitslos“, sagte er.
„Und vorher?“
„Gelegenheitsjobs. Mal dies, mal das. Zuletzt in einer Tankstelle.“
Unter dem Tisch stand eine Rumflasche. Er kippte einen Schluck daraus in seinen Tee.
„Und warum arbeitest du da jetzt nicht mehr?“ fragte das Mädchen.
„Ich hab Schnaps geklaut“, sagte der Mann.
Pädagogischer Fehler, dachte er. Und grinste.
„Richtig geklaut?“
„Ja.“
„Dafür kommt man doch ins Gefängnis.“
Bin ich doch. Immer & immer & immer.
Er sagte: „Nicht für so ne Kleinigkeit. Eine Strafe gibt’s schon, aber kein Gefängnis.“
„Hmm.“ Das Mädchen schien zu grübeln.
Irgend etwas an ihm fand der Mann zutiefst merkwürdig. Befremdlich. Die Augen. Der Blick. Nichts in diesem Blick schien naiv oder kleinmädchenhaft zu sein. Und die Art, wie es sprach, passte nicht dazu; es war, als wollte es mit seiner Stimme & seinen Worten bewußt diese Befremdlichkeit ausgleichen -, und dadurch bewirkte es das genaue Gegenteil.- Dies waren nur verschwommene Gedanken, verschwommene Gefühle in ihm. Struppig wie die schulterlangen Haare des Mädchens. Beinahe verfilzt. Es war ihm egal.
Nicht kindlich, nicht kindisch, sondern – kinderesk.
Er trank die Tasse halb leer & füllte sie mit Rum auf. Er begann, sich gut zu fühlen. Die Gesellschaft gefiel ihm. Seltsam & ungewohnt, zu jemandem zu sprechen. Zu jemandem, der nicht er selber war.
„Du bist sehr alt“, sagte das Mädchen.
„Ja“, sagte er. „51.“
„Das ist wirklich sehr alt“, sagte das Mädchen.
Er lächelte.
Und immer wieder schaute Sina sich in dem Zimmer um, das nach Bücherstaub roch.
„Hast du keinen Fernseher?“ fragte sie.
„Nein“, sagte Edward.
„Echt nicht?“
„Echt nicht.“
„Und keinen Computer?“
„Nein. – Ich habe ein Radio, einen Plattenspieler & ein altes Tonbandgerät.“
Sie schaute sich um nach den Geräten.
„Sowas hast du wahrscheinlich noch nie gesehen“, sagte Edward.
„Doch, hab ich.“
Kurze Pause.
Dann fragte sie: „Und was machst du dann den ganzen Tag?“
„Entweder nichts – oder lesen & trinken & Musik hören.“
„Das könnte ich nicht“, sagte sie ernst.
Edward lachte. Sein linkes Auge juckte; er rieb über das Lid.
„Ist auch besser so“, sagte er.
Sina lächelte nicht.
Er fragt sie nicht.
Er fragt sie nicht.
Er fragt sie nicht.
Nicht jetzt.
Neugierig ist er. Ja. Aber er will nicht wissen, wo sie wohnt. Bei wem sie wohnt. Warum sie geweint. Warum sie auf der Treppe gesessen hat. Sobald er es erfahren würde, müsste er handeln.
Tätig werden.
Agieren.
Zuviel.
Es wäre zuviel für ihn.
Jetzt. In diesem Moment.
Und in dem nächsten wohl auch.
Einen weiteren Rum für ihn. Einen weiteren Tee für sie.
Und Sina niest. Es ist der Bücherstaub. Und sie verschüttet ein bisschen Tee dabei. Und es ist Edward egal.
Und zum ersten Mal lächelt sie.
Ein wenig.
Und wenn eines nie stimmt, ist es das Gefühl für die Zeit. Mein Gefühl für die Zeit. Wie in einer Kurzgeschichte, die nur als Roman funktionieren würde. Wie in einem Roman, der nur ein 2strophiges Gedicht sein dürfte. – Als würde ich mein Leben schreiben, und die Diskrepanz zwischen der Dauer des Schreibens & der Dauer des Lesens führte zu Verzerrungen …..
Edwards Wahrnehmung war verzerrt. Oder er nahm die verzerrte Wirklichkeit korrekt wahr. Er war sich nicht sicher. – Die Wirklichkeit war sich Edwards nicht sicher.
Sina schlief in Edwards Bett. In dem kleinen Schlafzimmer mit den gestapelten Büchern ringsum. Edward hatte das Bett frisch bezogen. Er selbst schlief auf dem freigeschaufelten Sofa. Halbnacht für Halbnacht. Und zu dem Schmerz im Bein gesellte der Schmerz im Rücken.
„Aber sag mal, was ist eigentlich mit der Schule? Dort wirst du doch bestimmt vermisst.“
„Vielleicht“, sagte sie. „Aber egal.“
Edward fühlte Vertrautheit mit Sinas Befremdlichkeit. Sina – ein Rätsel. Edward war an Lösungen nicht interessiert. Rätsel fand er schön, solange sie nicht gelöst waren.
Wurde sie vermisst? Irgendwo? Keine Meldung in den Radionachrichten. Er kaufte ihr eine Zahnbürste, hinkend, kaufte ihr etwas zum Anziehen – in Geschäften, wo man ihn nicht kannte (sie bestand auf rot & schwarz, auch bei Socken & Unterwäsche); er kaufte Tageszeitungen. Nichts. Nichts deutete auf ein Vermissen, nichts auf einen Verlust. Kein Zettel an der Korkwand im Supermarkt, wo er ihre Lieblingsschokolade kaufte. Außerdem kaufte er, zum ersten Mal seit vielen vielen Jahren, ein Frischluftspray fürs Klo – & war fast stolz auf sich, weil er daran gedacht hatte. Der Einkaufswagen war voller Schnapsflaschen & Dosenfutter & Tiefkühlkost.
Das Geld wurde knapp. Er schränkte sich ein. Noch mehr. Sina zuliebe.
Der Fernseher fehlte ihr nicht wirklich. Was fehlte ihr überhaupt? Edward wusste es nicht. Edward ahnte es nicht. Sie las in seinen verstaubten Büchern. In den Gedanken der Toten. In den Gedanken, die Edward vielleicht schon wieder vergessen hatte. Die meiste Zeit des Tages verbrachte sie so. Sie konnte es eben doch; so leben wie er. Mit Ausnahme des Trinkens. Aber sie sprachen niemals miteinander über die Bücher.
Tage vergehen wie Zeilen.
Zeilen vergehen wie Wochen.
Und längst wusste Sina, welche Uhr die richtige Zeit zeigte.
Meist gingen sie erst spät in der Nacht schlafen. Edward schlief schlecht. Er hatte immer schlecht geschlafen, aber auf dem Sofa noch schlechter. Und auch Sina sah manchmal, wenn sie gegen Mittag aufstanden, übernächtigt aus. Und blass. So blass manchmal. Blasser als er, wenn er verkatert war. Und das war er meistens.
Aus Gewöhnung wurde Gewohnheit, aus Gewohnheit Abhängigkeit, aus Abhängigkeit Verlustangst. Edward hing an Sina. Er bezweifelte, dass sie an ihm hing. Niemals berührten sie sich; eine Art schamhafte Zurückhaltung bestand zwischen ihnen. Sie sprachen sich niemals mit Namen an. Das einzige, was so etwas wie Nähe darstellte, war die Tatsache, dass Edward Sinas Anziehsachen in die Waschmaschine tat & anschließend aufhängte; auch ihre Höschen & Unterhemden. – Sina blieb immer in der Wohnung. Wenn er einkaufen ging oder sonst etwas zu erledigen hatte, tat er es allein. Und nie war er sich sicher, ob sie noch da sein würde, wenn er zurückkam.
Später Abend. Leise Musik. Mahlers Zehnte. Sina blättert in Zeitschriften. Im Schneidersitz auf dem Sessel. Ohne Schuhe, wie immer; und immer trägt sie eine rote & eine schwarze Socke. Edward trinkt Absinth, den er sich eigentlich nicht leisten kann. Lauscht der Musik. Betrachtet Sina.
Sie blickt auf.
„Warst du immer schon allein?“
„Nicht immer, aber meistens.“
„Und seit wann bist du’s diesmal?“
„Lange. Sehr lange. – So lange, dass ich es fast nicht mehr weiß.“
„Aber das musst du doch wissen“, sagt sie.
„Na ja, ich weiß es natürlich schon; aber ich möchte es lieber nicht sagen.“
„Hmm. Verstehe.“
Versteht sie? Versteht sie wirklich? Noch bevor sie geboren wurde, war ich wieder allein. – Wie soll sie das verstehen.
„Der schreckliche Mann, bei dem ich wohne, ist auch allein.“
Endlich. Endlich spricht sie.
„Du wohnst bei einem Mann? Wer ist er, und warum ist er schrecklich?“
„Der Bruder meines Vaters“, sagt Sina. „Er ist alt, sehr alt, und er trinkt viel, und dann wird er manchmal böse, und er vergisst alles; er weiß dann gar nicht mehr, was er gemacht hat & dass er böse gewesen ist.“
„Was tut er denn?“
Sie zögert.
„Ach, alles möglich halt.“
„Sag doch.“
„Nein, ich möchte nicht.“
„Okay“, sagt Edward. „Wenn du nicht möchtest.“
Er trinkt einen großen Schluck Absinth.
Dann sagt er: „Er trinkt also. Und er ist alt. Das heißt also, er ist wie ich.“
Sinas Mund lächelt leicht, ihre Augen lächeln nicht.
„Ja, fast wie du“, sagt sie. „Aber nur fast. Du bist ja nicht böse.“
„Stimmt, normalerweise nicht.“
„Bist du’s manchmal?“
„Manchmal. Ja.“
Sie sieht ihn forschend an.
„Und was passiert dann?“
„Was soll schon passieren? Ich trinke einfach etwas mehr, und dann beruhige ich mich wieder.“
Immer noch liegt die aufgeschlagene Zeitschrift auf Sinas Schoß. Eine Filmzeitschrift aus einer Zeit, als es Sina noch nicht gab.
„Und vergisst du dann auch, was du gemacht hast?“
Edward lächelt. „Ich glaube nicht.“
„Du weißt es nicht?“
„Es könnte doch sein, dass ich etwas so sehr vergesse, dass ich nicht mal weiß, dass ich es vergessen habe.“
„Das ist doch Quatsch“, sagt Sina, „das gibt’s doch nicht.“
„Na ja“, sagt Edward, „ein bisschen Quatsch ist es schon. – Aber wer weiß….“
„Hmm… Ich vergesse nie was. Glaub ich.“
„Manchmal isses ganz gut, wenn man was vergisst.“
Sina schaut wieder in die Zeitschrift, blättert weiter.
Mahler klingt aus, Absinth wird nachgegossen.
Ist Selbstzerstörung unvernünftig, oder ist sie nicht vielmehr ein Akt der Vernunft? – Oder ist sie ein Akt des Verstandes?
Der Tonarm des Plattenspielers bewegt sich zurück in die Ausgangsposition.
Und jetzt? Faurés Requiem oder Coltrane?
Er entscheidet sich für Coltrane, steht auf, humpelt, wechselt die Platte. Humpelt zurück. Lässt sich wieder aufs Sofa plumpsen. Sina blättert um & sagt, ohne aufzublicken:
„Trane.“
„Ich fass es nicht“, sagt Edward.
„Der schreckliche Mann hört das auch oft“, sagt Sina.
„Ich sollte ihn mal kennenlernen“, sagt Edward.
Sie schaut auf, schaut in seine Augen. „Lieber nicht“, sagt sie.
„Na gut. Ich lerne sowieso nicht gerne neue Leute kennen.“
„Wieso?“
„Weiß nicht. Vielleicht weil sie mich irritieren, irgendwie.“
„Wieso?“
„Keine Ahnung.“
„Irritiere ich dich?“
Edward grinst. „Irgendwie schon. Aber anders.“
„Wieso anders?“
„Einfach so.“
Pause. Sina scheint über Edwards Worte nachzudenken. Zumindest kommt es Edward so vor.
„Übrigens“, sagt sie, „ich würde morgen gerne mal baden statt zu duschen.“
Netter Themenwechsel.
„Okay. Kein Problem.“
„Aber erst abends“, sagt Sina.
„Gut. Aber nicht zu spät, wegen der Nachbarn.“
Nacht. Stille. Der Mann wälzt sich auf dem Sofa. Hin. Und. Her. Schmerz im Rücken. Absinth im Kopf. Bewusstsein & Halbträume enden in Albträumen. Das Mädchen schläft in seinem Bett. Im Bett des Mannes mit den Schmerzen. Der schreckliche Mann – wer ist der schreckliche Mann? Wo ist er? Was tut er? Was vergisst er? Der Raum ist finster. Der Mund des Mannes ausgetrocknet vom Absinth. Die Kehle brennt. Der Mann hustet. Halbwach. Sinkt zurück in den Schlaf. Wacht wieder auf.
Was für ein seltsames Mädchen …. Was für ein seltsames Kind …. Kein Kind könnte so seine Tage verbringen, herumsitzen in einer engen Wohnung, in der Wohnung eines Fremden …. Bücher lesen …. & was für Bücher, was für Bücher …. Musik hören … & was für Musik …. & vor sich hin starren ….. Vor sich hin starren wie ich …. wie ein alter Mann …. Was hat sie erlebt? Was zur Hölle hat sie erlebt? …..
Der nächste Tag brachte den ersten Schnee. Sina interessierte sich nicht für Schnee. Sie warf einen kurzen Blick aus dem Fenster; das war alles. Dann machte sie das Frühstück, weil Edward zu verkatert war. Als sie am Tisch saßen, sagte sie:
„Und, erinnerst du dich an alles?“
Edward konnte nichts essen.
„Was meinst du?“
„Du hast doch so viel getrunken. Wenn du dich jetzt noch an alles erinnern kannst, dann war das doch wirklich Quatsch, was du gestern gesagt hast.“
Er grinste. Mühsam. „Ja. Ich glaub schon, dass ich mich an alles erinnern kann.“
Sina biss in ihr Marmeladenbrot.
„Siehste.“
Edward trank Grünen Tee.
Der Tag rieselte so dahin. Schneeschieber kratzten über die Gehwege. Edward erholte sich. Wie immer. Gemeinsam bezogen sie das Bett neu, damit Sina es nach dem Bad besonders angenehm haben würde.
Am Abend dann Faurés Requiem.
„Soll ich jetzt das Badewasser einlassen?“ fragte Edward.
„Ja bitte“, sagte Sina.
„Viel Schaum?“
Sie lächelte. Auch ihre Augen lächelten. „Ja.“
Er humpelte ins Bad, drehte den Warmwasserhahn auf, wartete, bis das Wasser richtig heiß war, und tat den Stöpsel in den Abfluss. Dann kippte er eine ordentliche Menge Badezusatz in die Wanne. Der Schaum dämpfte das Rauschen.
„Wie heiß magst du’s?“ rief er.
„Ziemlich heiß.“
Er nahm ein Badetuch & einen Waschlappen aus dem Schränkchen neben der Wanne. Legte beides oben darauf. Er zündete einige Kerzen & Teelichte an, die daneben standen, schaltete die Deckenbeleuchtung aus & eine kleine bunte Lampe ein, eine Art Laterne, die durch verschiedenfarbige Glasfensterchen das Zimmer in verschiedenfarbige Abschnitte unterteilte. Kitschiger Idiot, dachte er & ging zurück.
„Dauert ne Weile“, sagte er. „Der Wasserdruck ist hier manchmal ein bisschen schwach. Und ausgerechnet heute isses so.“
„Okay“, sagte sie, „macht ja nichts.“
Sie las in einer Anthologie expressionistischer Gedichte. Einleitung von Gottfried Benn.
Allmählich breitete sich der Geruch des Schaumbades in der Wohnung aus. – –
Schließlich tat Sina das Buch beiseite; aufgeschlagen.
„Hast du ein Gummiband für meine Haare?“ fragte sie.
„In der Küche; in der Schublade mit dem Besteck.“
Sina stand auf, holte sich ein Gummiband aus der Küche & verschwand dann im Bad. Die Tür ließ sie ein Stückchen offen, da es dort kein Fenster gab & die Lüftung für den Dampf nicht ausreichte.
Edward trank Rotwein, gemischt mit Weinbrand, Wodka & einem Spritzer Angostura. Er hörte Fauré, hörte, wie das Wasser abgedreht wurde. Hörte schließlich, wie Sina „Heiß heiß“ sagte & wieder Wasser zu rauschen begann. Er lächelte. Betrachtete den Dampf, der aus dem Türspalt direkt gegenüber dem Sofa schlierte. Er liebte diese Musik, liebte dieses Getränk, liebte diesen Geruch, liebte diese seltsame Zweisamkeit. Diese Zweisamkeit auf Distanz.
Als die Musik zuende war, lauschte er nur noch dem Plätschern, das aus der Wanne kam. In Intervallen. Er mixte sich einen weiteren Drink.
Vergessen Vergessen Ja wenn ich vergessen könnte Verdrängen Das Ende Das Nichtandauern Das Immergleiche Einfach mal geniessen könnte wie es ist Jetzt Jetzt gerade Ohne zu denken Ohne zu wissen Wer ist sie Was bin ich für sie Sie will doch gar nicht gehen Sie will doch hierbleiben Adoption Ach Quatsch Ich und Adoption Mir würde man jemanden anvertrauen Ja klar Ausgerechnet Arbeitsloser Säufer Dieb und wer weiß was noch alles Träumereien Immer diese Träumereien Aber sie sind das einzige Das einzige was ich immer habe Egal Seltsames Kind Seltsames Kind Seltsames Mädchen Und nirgends vermisst Ich hatte sie vermisst Wahrscheinlich Na klar Kitschiger Idiot Kitschiger alter Idiot Kitschiger sehr alter Idiot Das Buch Ha aufgeschlagen bei August Stramm ‚Welten schweigen aus mir raus’ Seltsames Kind Die Eltern tot Ich sollte sie danach fragen Endlich mal danach fragen Aber wenn sie nicht von sich aus Dann hats ja wohl keinen Sinn Sie wirds schon erzählen irgendwann Nicht mehr viel Wodka Verdammt Müsste einkaufen morgen Macht sie irgend etwas anderes wenn ich nicht da bin Liest sie wirklich nur Ich will nicht einkaufen Dieses verdammte Rausgehen Unter Menschen Und dann komm ich zurück und sie ist vielleicht wirklich nicht mehr da Das würde ich nicht Wie sollte ich das ertragen Aber wo sollte sie hin Zu dem schrecklichen Mann Schrecklicher Mann Wer weiß ob das alles stimmt Sie hat Fantasie Viel Fantasie Das Plätschern Wie süß Das kleine Mädchen in der Wanne Spielt mit dem Schaum wahrscheinlich Kleines zierliches Wesen Im warmen Wasser Ich könnte ihr den Rücken schrubben Na klar alter Idiot Sonst nochwas Ich sollte auch mal wieder baden Heiss ganz heiss Und mir dabei einen runterholen Und vergessen Das war doch ein guter Satz den ich ihr gesagt habe Mit dem Vergessen Nonsense Aber nicht nur Wie lang isses denn nun wirklich Das Alleinsein Egal Wenn ich nachrechnen würde wüßt ichs Aber warum sollte ich Es ist egal Egal
Er schloss die Augen. Ein rotes Karussell. Ein leichtes Schwindelgefühl war die Folge. Er öffnete sie wieder.
„Alles okay bei dir?“ fragte er.
„Yep“, kam die Antwort durch den Dampf.
Er lächelte. Wunderte sich, wie oft er doch lächeln musste. Überlegte kurz, ob er eine andere Platte auflegen sollte – verwarf den Gedanken, weil Musik das Plätschern übertönt hätte. Er fragte sich, ob die Nachbarn Sinas Stimme hörten. Wenn ja, was würden sie denken? Was vermuten? Er, der menschenscheue Sonderling – & aus seiner Wohnung dringt eine Kinderstimme…… Die Stimme eines kleinen Mädchens….. Sie waren nur Selbstgespräche gewohnt. Falls sie überhaupt etwas hörten. Er selber hörte fast nie etwas von ihnen.
„Du?“ rief Sina.
„Ja?“
„Kannst du mir ne Cola bringen?“
„Kommt sofort.“
Sein Herz pochte ein wenig schneller. Sein seltsames Herz. Er stand auf, etwas wacklig, und humpelte in die Küche. Füllte ein großes Glas. Humpelte zur Badezimmertür. Schob die Tür in den Dampf. Die Flämmchen tanzten. – Der kleine Kopf, gerötet & nass, ragte aus dem buntbeleuchteten Schaumpanzer. Kleine ….. Schildkröte. Die Gummibandfrisur stand ihr gut, halb Zöpfchen, halb Dutt. Sina lächelte. Zufrieden.
„Gemütlich, was?“ sagte Edward.
„Oh ja.“
Er trat an die Wanne & reichte ihr das Glas in die beschäumte Hand.
„Danke“, sagte Sina.
„Bitte. Aber trink nicht zu schnell; die ist sehr kalt.“
„Und ich bin heiss, ich weiss“, sagte sie & kicherte.
Edward grinste & wandte sich wieder um. Vor einem dunstblinden Spiegel. Hitze & Feuchtigkeit auf seiner Haut. Der Spiegel hing über dem Waschbecken, in das er so lange seine einsame Geilheit gewichst hatte. Er hob Sinas Klamotten auf, die sie auf den Boden geworfen hatte, und tat alles bis auf die Jeans in den Korb mit der Schmutzwäsche.
„Kannst die Tür offen lassen“, sagte sie, „ich ersticke sonst noch.“
„Okay. Bleib nicht zu lange drin. Nicht, dass du total verschrumpelst.“
„Ich verschrumpel gern“, sagte sie.
Er hinkte ins Schlafzimmer, legte die Hose ordentlich zusammen & ging zurück zum Sofa. Ließ sich fallen, trank einen kräftigen Schluck. Dann dachte er:
Jetzt, wo ich sie sehen kann, ist das Plätschern nicht mehr so wichtig. Also -: Musik.
Die Frage war, welche. Was passte zu dem Anblick, was zu der Stimmung? Einzelne Sätze hätten gepasst: der 4. aus Mahlers Fünfter Symphonie; das Air aus Bachs Suite Nr. 3 …. Aber die anderen Sätze hätten nicht gepasst. So ist es ja immer. – Er erinnerte sich an ein Tonband, das er vor Jahren, vor wievielen Jahren?, zusammengestellt hatte …. ‚Kerzenmusik’ hatte er es genannt & die Hülle so beschriftet. ‚Bademusik’ hätte er es ebenso gut nennen können. Er hatte vergessen, was alles darauf war, aber er wußte, alles war beruhigend & entspannend. Er hatte nicht allzuviele Bänder, also musste er auch nicht lange suchen. Er fädelte es ein, drückte auf die Starttaste & setze sich wieder.
Erik Satie, Gymnopedie No. 1 …. Als die Musik einsetzte, schaute Sina über den Wannenrand herüber. Nur ganz kurz. Dann spielte sie wieder mit dem Schaum. Kurz. Und schloss die Augen. Entspannt.
Kitschiger alter Idiot, dachte Edward.
Und trank.
Und trank.
Wenn ich jetzt pissen müsste ….. ungünstig ….. Müsste die Spüle benutzen …..
Grinsen.
Aber er musste nicht.
Die Mutter ruft:
„Eddie, Robert, Hände waschen! Essen ist soweit!“
„Wer zuerst fertig ist“, sagt Robert & springt vom Boden auf, wo das große Puzzle liegt; halbfertig. Ein Comic-Motiv. Donald Duck. Und seine Neffen. Wieviele Teile? Eddie glaubt, 1000. Robert glaubt, 500. Es gibt keine Verpackung mehr, wo man nachsehen könnte. Und sie wissen nicht, ob es noch vollständig ist.
„Hey, warte“, ruft Eddie, „das ist unfair!“
Er braucht etwas länger, um aufzustehen; läuft Robert hinterher. Ins Bad.
Wo das Wasser schon rauscht.
„Erster“, sagt Robert.
„Du hast geschummelt. Du schummelst ja immer. Wir hätten gleichzeitig starten müssen.“
„Du bist halt ne lahme Schildkröte. Du hättest sowieso nicht gewonnen.“
„Stimmt ja gar nicht.“
„Wohl.“
Die Mutter ruft:
„Wird’s bald?!“
Die beiden rufen, fast unisono:
„Wir kommen schon!“
Eddie ist 11, Robert 13.
Es gibt Reisbrei mit Zimt & Zucker. Ein Essen, das Eddie hasst. Und das er lieben wird, wenn er erwachsen ist.
„Robert“, sagt die Mutter, „nach dem Essen bringst du den Müll runter.“
Robert zieht eine Fresse. Eddie grinst.
Ninna Nanna in Blu, Ennio Morricone.
Wie seltsam …. Ich war immer derjenige, der gesagt hat, dass er heiraten will, viele Kinder will …. und er …. ‚Niemals’ hat er gesagt …. Und dann …. Aber so isses ja immer …. Oder war’s umgekehrt? …. Gott, bin ich besoffen …. Soviel Dampf, schlecht für die Bücher … Na und? Scheiß drauf! ….
Der Dampf hatte sich verteilt. Die Sicht im Badezimmer war wieder klar. Der Blick auf das genießende Köpfchen am Wannenrand. Und der Schaum wurde weniger. Nur Edwards Blick war verschwommen.
Und die Zeit verging in Musik.
Schließlich schaute Sina zu ihm herüber.
„Machst du bitte mal die Tür zu? Ich will jetzt raus.“
„Na klar.“
Er stand auf, ging zur Tür. (Irgend etwas von Angelo Badalamenti.) Er sah, dass der Schaum weg war, sah Sinas Schultern ….. Schwarze Striche darauf, auch unterhalb des Halses ….
„Was zur Hölle ist das?“
Sie sah ihn ernst an. Die überhitzte Röte war aus ihrem Gesicht gewichen.
Edward sagte: „Das da, an deinen Schultern – was ist das? Sieht aus wie Schnitte.“
Er wollte nähertreten.
„Nicht!“ sagt Sina & versucht, sich hinter ihren dünnen Ärmchen zu verstecken.
Er hält inne.
„Okay okay. Ich komm nicht näher. Aber nun sag schon, verdammt noch mal.“
„Ja. – Ja, es sind Schnitte.“ Ihre Stimme zittertert ein wenig.
„Oh mein Gott“, sagt Edward. „Wie …. Wer …. War das der Mann? Der schreckliche Mann?“
„Ja.“
Er hält sich an der Türklinke fest. Etwas in ihm krampft sich zusammen.
„Arme Kleine“, sagt er. „Du musst mir jetzt seinen Namen sagen & seine Adresse, unbedingt, ich geh zur Polizei, ich zeig das Schwein an.“
„Kommt er dann ins Gefängnis?“
„Mit Sicherheit. Dafür gehört er in den Knast.“
„Und er kriegt nicht nur so ne andere Strafe? So wie du?“
„Aber nein. Natürlich nicht. Oh mein Gott, sieh dich doch an. Dieses Schwein. Dieses verdammte Schwein. – Wo hast du noch überall… ich meine, wie weit runter gehen die Schnitte?“
„Ein bisschen am Bauch. Und ein bisschen an den Beinen.“
Edward ist kurz davor zu weinen; er hält sich zurück.
„Brennt das nicht im Badewasser?“
„Nein.“
„Also, sag schon, wer ist er?“
„Ich möchte nicht.“
„Sina bitte.“ Zum ersten mal spricht er sie mit Namen an. „Du musst es mir sagen. So jemand darf doch nicht frei rumlaufen.“
„Nein bitte“, sagt sie. „Vielleicht später. Aber nicht jetzt.“
„Immer später später später, und immer vielleicht. Du brauchst keine Angst zu haben.“
„Ich hab keine Angst. Und jetzt bin ich ja bei dir. Es ist doch alles okay so.“
Ein Grund. Dies ist ein Grund, sie erst recht hier zu behalten. Sie nicht mehr zurück zu lassen. Zurück zu diesem schrecklichen Mann.
Jetzt oder nie.
„Wie sind deine Eltern gestorben?“
Die Frage scheint ihr nichts auszumachen.
„Autounfall.“
„Wann?“
„Da war ich 2.“
„Und du bist sofort zu diesem … diesem Onkel gekommen?“
„Ja. – Bitte“, sagt sie, „ich möchte jetzt raus. Ich friere.“
„Ja. Ja natürlich. Sorry. Ich geh schon.“
Er macht die Tür zu.
Herzrasen & Schwindel. Gedankenchaos. Widerstreitende Gefühle. Und immer wieder Dieses Schwein! Dieses Schwein! Dieses Schwein! Diese Bestie! – Bilder von einem Besoffenen, der nicht mehr weiß, was er tut, der das kleine, hilflose, nackte Mädchen mit einem Messer… oder womit auch immer …..
Edward setzt sich. Nimmt einen tiefen Schluck. Steht wieder auf, humpelt zum Tonbandgerät, schaltet es aus. Setzt sich wieder.
Wahnsinn …. Alles Wahnsinn …. Aber ich darf sie nicht drängen …. Wenn ich sie dränge, sagt sie gar nichts …. Geduld, ich brauche Geduld ….. Und sie muss hier bleiben, sie muss hier bleiben …. Sie kann nicht zurück …. Aber ich würde zur Polizei gehen …. Ich würde mich überwinden, ich würde zur Polizei gehen …. Bestimmt …. Auch wenn ich nicht wüsste, wie ich alles erklären sollte, wie sie zu mir gekommen ist, und wann sie zu mir gekommen ist, und alles andere …. Ich würde gehen …. Warum zur Hölle ….
Die Badezimmertür geht auf. Sina kommt heraus, eingehüllt in das große weiße Badetuch, das ihr so bis unter die Knie reicht. Hinter ihr rauscht das Wasser in den Abfluss. Die Schnitte an den Schultern & unter dem Hals. Unwillkürlich schaut Edward auf ihre Schienbeine, auf ihre Füße, um nach weiteren Spuren zu suchen – nichts.
„Rubbelst du mir ein bisschen den Rücken?“ sagt Sina. Zurückhaltend.
„Äh ja, klar, komm her.“
Sie tapst heran. Dreht sich vor ihm herum. Sie riecht gut.
Edward sagt: „Auf dem Rücken hast du nichts? Irgendwas, wo ich dir weh tun könnte?“
„Nein“, sagt sie, „da ist nichts.“
„Okay.“
Er beginnt, vorsichtig mit beiden Händen über den Frotteestoff zu streichen. Kommt sich ungeschickt vor. Unbeholfen.
„Fester“, sagt Sina.
Er gehorcht. Sie fängt an zu kichern.
„Ja, so is gut. Weiter.“
Ungewohnte Nähe. Kontakt. Etwas, das aus seiner Erinnerung fast schon verschwunden gewesen war. Fast. Und der kleine Hinterkopf, und das Haar halb Zopf, halb Dutt; der Haaransatz, der schmale Nacken; die Waden (ohne Schnitte), die kleinen nackten Füße …..
Es könnte ewig so weitergehen …. Ewig, haha, ich werde nicht schlau aus ihr … Egal, warum auch …. Ewig ….
„So“, sagt Sina, „reicht. Danke.“
Sie geht zum Sessel, setzt sich, zieht die Beine auf die Sitzfläche.
„Nicht dass du dich erkältest“, sagt Edward, „du solltest dir wenigstens Socken anziehen.“
„Jetzt nicht“, sagt sie.
„Wir müssten mit den Schnitten etwas machen.“
„Nein, die sind schon fast abgeheilt. Sind ja älter.“
„Wie lange ist….“
„Ich möchte nicht darüber reden, okay?“
„Okay. Sorry.“
„Warum hast du die Musik ausgemacht?“
„Sie hat mich gestört plötzlich.“
„Hmm. Mach sie doch wieder an, oder warte, ich mach das.“
Sie steht auf, geht zum Tonbandgerät, drückt auf die Starttaste.
Badalamenti geht zu Ende; das Ave Maria folgt.
„Das ist schön“, sagt Sina & setzt sich wieder.
Das letzte Wasser vergluckert im Abfluss.
Und in der Nacht wälzt sich der Mann in Schmerz & Traum …. Messer Messer Messer …. zarte Haut …. eine Kindheit aus Gedankenstrichen, geritzt in einen kleinen Körper …. Schreie & Hilflosigkeit …. Das Ausgeliefertsein …. Die Tränen …. Das Blut …. Blut, das dunkel trocknet …. Ein Friedhof im schneeigen Licht des Mondes …. Das Doppelgrab der Eltern …. Die Einsamkeit des Hinterbleibens …..
Weitere Tage kamen. Weiterer Schnee. Weitere Beseitigung des Schnees.
Die Tage nach dem Badetag waren wie die Tage vor dem Badetag. Die Distanz dieselbe. Das Thema Tabu.
Und sein Bein schmerzte ihn immer mehr.
„Du solltest mal an die frische Luft“, sagte Edward.
Sina blickte nicht auf von dem Buch, von welchem auch immer.
„Ich brauch keine frische Luft“, sagte sie.
Edward schwieg.
Und immer, wenn er von Einkäufen & Erledigungen zurückkam, war sie noch da – hatte sie kaum ihre Position verändert. Er hatte ihr ein rotschwarz-gestreiftes Gummi für ihre Haare gekauft, weil er das halbe Zöpfchen, den halben Dutt so mochte; und ihr gefiel dieses Gummi, und es störte sie nicht, ihm eine Freude zu machen.
Einmal, als er nach Hause kam, lag ein altes Fotoalbum auf ihrem Schoß.
„Bist du das“, fragte sie & deutete auf einen kleinen Jungen.
Er stellte sich neben ihren Sessel – mittlerweile war es ihr Sessel.
„Nein. Das ist mein Bruder.“
„Du hast einen Bruder?“
„Ich hatte einen. Er ist tot. Lange her.“
„Verstehe.“
Versteht sie? Versteht sie wirklich?
„Ich dachte, das bist du“, sagte sie. „Sieht aus wie du. Ich meine, sieht so aus wie du als kleiner Junge, irgendwie.“
„Wir waren uns sehr ähnlich“, sagte Edward.
„Hmm. War er jünger oder älter.“
„Älter. 2 Jahre.“
„ROBERT!!!“
„Ja?“
„KOMM HER, SOFORT!“
Die Mutter steht da – mit ihrem schweren stabilen Holzlineal. 1 Meter.
Robert zittert. Eddie zittert mit ihm.
„Was habe ich gesagt?“ fragt die Mutter.
„Ich sollte…“
„Ja, genau, du solltest! – Los, komm her! Dahin!“
Und das Holzlineal …..
Sina lächelte.
„Dann bist du also der da.“
„Ja. Sorry.“ Edward lächelte auch.
„Süß“, sagte Sina. Sie trug schwarze Jeans & ein rotes Sweatshirt. Eine rote & eine schwarze Socke.
„Süß ist gut“, sagte Edward, „so hat mich damals, glaub ich, niemand genannt.“
„Ist das da deine Mutter?“
„Ja. – Was willst du heute essen?“
Sina sagte: „Pizza.“
Der Schnee verschwand.
Und dann –
irgendwann –
war sie da –
diese
Nacht …… :
Der Mann erwacht. Er weiß nicht, aus welchem Traum. Aber er glaubt, ein geträumtes Geräusch habe ihn geweckt. Dunkelheit & Rückenschmerz. Er greift nach dem Lichtschalter einer kleinen Lampe neben dem Sofa. Klick. 15 Watt in einem roten Schirm. Vorsichtig richtet er sich auf. Da ist noch ein Rest Wodka in der Flasche auf dem Tisch. Er schüttet diesen Rest in die leergetrunkene Teetasse des Mädchens. Trinkt, indem er seine Lippen dort ansetzt, wo die Lippen des Mädchens gewesen sein müssen. Fast kann er sie fühlen. Es ist ein billiger Wodka. Der Mann blickt auf die Uhr, die richtig geht. 3:53 Uhr. Und er sieht, dass die Schlafzimmertür einen schwarzen Spaltbreit geöffnet ist. Zum ersten Mal. Er befürchtet, sein Licht könnte das Mädchen wecken. Doch er hört ein Geräusch. Hört verschiedene Geräusche. Rascheln von Bettzeug …. Etwas wie ein Zischen, das aus einem kleinen Mund kommt …. Dann leises, ganz leises Kichern …. Und die Geräusche wiederholen sich; nur das Bettzeug raschelt nicht mehr …. Er steht auf, in T-Shirt & Shorts. Humpelt zum Türspalt. Horcht. Zischen. Kichern. Dann tippt er die Tür an ……
Langsam schwingt sie ins Innere des Zimmers. Der schwache rote Schein der Lampe reicht nicht weit. Und doch…..
Das Mädchen sitzt aufgerichtet im Bett, kaum mehr als eine Silhouette im fernen Licht … Die Decke zurückgeschlagen … Helle Haut des Oberkörpers, helle Haut der Beine, die dunkle Stelle, wo das Höschen ist … Das Mädchen hält etwas in der Hand … Ein dreieckiger Lichtreflex blitzt kurz auf, als es sich damit kurz über den Bauch fährt … Wieder das Zischen, das aus dem Mund des Mädchens kommt … Dann Kichern … Der Mann tastet nach dem Lichtschalter neben dem Türrahmen … Blendung …
„Sina!“ ruft er. Oder schreit er es?
Das Mädchen beachtet ihn kaum. Er ist wie ein kleines Nebengeräusch, das man überhört. Nur kurz blinzelt es in seine Richtung. Lächelnd. Das Messer ist ein langgezogenes Dreieck; zweischneidig, mit winzigen Flecken, die an Rost erinnern; der Mann hat es noch nie zuvor gesehen. Frische kleine Schnitte auf Bauch, Brust & Oberschenkeln des Mädchens. Rote Striche. Kleine Blutpunkte. Feine Rinnsale. Zwischen den schwarzen Strichen der Vergangenheit. Das Kichern ist beängstigender als das Zischen. Der Mann hinkt so schnell, so schnell zum Bett.
„Sina, nicht, komm, gib mir das Messer, bitte.“
Das Mädchen schaut ihm in die Augen, schneidet sich dabei, kurz oberhalb des Bauchnabels; zarte Haut wird zerteilt. Der Mann beugt sich über das Bett, streckt dem Mädchen die Hand entgegen ….
„Komm, gib es mir.“
Und so schnell, so schnell bewegt sich der dünne Arm des Mädchens. Und das Messer fährt in den Hals des Mannes. Ein verhaltener Schrei – mehr der Überraschung als des Schmerzes. Er greift nach der Stelle, aus der das Blut fließt. Die Schlagader. Er richtet sich kurz auf, stolpert dann vorwärts, fällt halb auf das Bett; das Mädchen zieht schnell die Beine weg, damit er nicht darauf fällt. Sein Blut trifft das Mädchen. Es nimmt den Griff des Messers in beide Hände. Dann sticht es in das linke Bein des Mannes. Mehrmals. Es ist anstrengend, es kostet Kraft. Der Mann zuckt. Der Mann windet sich. Tastet umher mit blutigen Händen. Berührt die Füße des Mädchens. Nur kurz. Hinterlässt Spuren. Aus zerfetzten Gefäßen pumpt es. Blut auf dem Laken, Blut auf dem Boden. Alkoholisiertes Blut. Das Mädchen kichert leise. Die Augen unbeteiligt. Noch einmal sticht es in das Bein. Lässt das Messer stecken. Bewegung fließt aus dem Mann. So lange, bis nur noch Ruhe zurückbleibt. Die Erinnerungen – enden.
Das Mädchen lehnt sich an das Kopfteil des Bettes, betrachtet den Rücken der Leiche. Das Gesicht der Leiche ist abgewandt. Das Mädchen ist ruhig. Es spürt die eigenen Schnitte nicht. Blutrot ist das Höschen, das es trägt.
Schneelose Winternacht. Dunkel wie das Innere eines Menschen. Verhaltene Kälte. Trockene Straßen. Ein Mädchen, zierlich, in rotschwarzem Anorak geht durch enge Gassen. Ganz still. Es sucht nach einer Treppe. Nach irgendeiner Treppe, die vor irgendeinem Haus zu irgendeinem Keller hinabführt.
Und es findet eine solche Treppe. Das Mädchen geht ein paar Stufen hinab. Es setzt sich.
Und S fängt an zu weinen.
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Das alte Kino
Schon schwindet die Erinnerung.
In den Hörsturz. In das Ohrensausen. Bevor ich den Rest auch noch vergesse, versuche ich aufzuschreiben, was ich noch weiss. (Oder habe ich es gar nicht vergessen, sondern niemals gewusst ?)
Dunkelheit & später Abend. Einsame Straßen. Ein kleiner Ort. Ziellosigkeit, oder? Wie war ich hierher gekommen? Und warum? Vergessen. Ich ging an der Hauptstraße entlang, kleine Läden mit dunklen Schaufenstern. Wenige Laternen. Sommerliche Wärme.
Ein schmaler abschüssiger Weg führte vom Bürgersteig hinab zu einem Kino. Man bemerkte es kaum als solches. Keine Leuchtreklame; der Schaukasten war ebenfalls dunkel, ich erinnere mich nicht mehr an die Plakate, nicht mehr an die Aushangfotos. Aber es gab welche. Im Inneren des großen, alten Gebäudes brannte schwaches Licht; es war Zeit für die Spätvorstellung. Dachte ich, schätzte ich. Endlich irgendwo hinsetzen; ich ging hinein.
Alles sah nach den 50er oder frühen 60er Jahren aus; nichts schien jemals renoviert worden zu sein. Es roch alt. Und nach Staub. Und man sah niemanden. Die Kasse war unbesetzt. Auch hörte man nichts. Die Beleuchtung war ungemütlich. Der linke Flügel der Tür zum Kinosaal stand offen. Gleichmäßiges Flackern in der Öffnung; kein Ton. Ich bewegte mich darauf zu …
Der Saal (riesig – & hoch) war völlig leer – zumindest so weit ich ihn überschauen konnte, in dem schwachen Geflacker, das von der Leinwand & aus dem Vorführraum kam. Es lief: ein Countdown. Weisse Zahlen in einem weissen Kreis vor schwarzem Hintergrund. 983 …. 982 …. Nicht einmal eine Notbeleuchtung gab es.
(War das wirklich alles so – oder erinnere ich mich nur falsch? -)
Ich ließ die Tür hinter mir zufallen; sie machte keinerlei Geräusch. Ich ging ein paar Schritte den Mittelgang hinunter, suchte mir einen zentralen Platz. Unbequeme, cordbezogene Klappstühle aus dunklem Holz. Ich setzte mich. 874 …. 873 …. Ganz leise hörte ich nun doch das Surren des Projektors. Drehte mich um, schaute auf das kleine Fenster, durch das der Countdown geworfen wurde. Der Vorführraum war völlig abgedunkelt – so als gäbe es keinen Vorführer.
Und ich schaute wieder auf die Leinwand. 849 …. 848 ….
Was zur Hölle mache ich hier? All diese hochgeklappten Sitzflächen …. Die dunklen Ecken …. Ist dort vielleicht doch jemand? Und beobachtet mich? …. Aber ich spüre keinen Blick auf mir …. Habe ich sie noch in der Jackentasche? – Ja …. sie ist noch da …. & sie ist schwer …. & beruhigend ….
Die Zahlen hatten etwas Hypnotisches.
Bei 662 erschien eine Gestalt rechts in meinem Blickfeld. Zierlich. Lautlos. Soweit erkennbar, in Grau gekleidet; den Kopf in einer Kapuze verborgen, schritt sie den Seitengang hinab. Setzte sich mehrere Reihen unterhalb der meinen in den nächsten Sitzblock. Kopf in Richtung Leinwand.
Auch ich folgte weiter dem Heruntergezähle. Was, wenn der Countdown der eigentliche Film ist? Auf den nichts weiter folgt?…. Nichts als Dunkelheit…..
556 …. 555 ….
Zuhause wartete die Leere auf mich. Verhangene Fenster, Bücher, Filme, Musik. Wie weit war dieses Zuhause entfernt? Vergessen.
445 …. … …. … …. 442 ….
444 & 443 fehlten, stattdessen: 2 Sekunden absolute Finsternis. Und -: Die Gestalt saß woanders! – Zwar noch im selben Block, aber jetzt auf der gleichen Höhe wie ich. Wie kann sie in diesen 2 Sekunden der Finsternis…… Eine junge Frau, die auf die Leinwand blickte. Sie musste bemerken, dass ich sie beobachtete, aber sie schaute nicht zu mir herüber. Ein zartes Gesicht im Geflacker der Zahlen.
Ich wandte mich wieder dem Countdown zu. Ob sie jetzt zu mir herüber….? Habe nicht das Gefühl …. obwohl …. Würde ich es spüren?
Ich war hellwach. Merkwürdigerweise. Der einschläfernden Atmosphäre zum Trotz. SurrenSurrenSurrenSurren. Real. Reell. Reel. Surreal. 220 …. 219 …. SurrenSurrenSurren.
Blick nach oben: ein gewaltiger Kronleuchter. Erloschen.
14 & 13 fehlten.
Bei 12 saß sie direkt vor mir. Die Kapuze ragte in den Countdown. Ich erschrak nicht. Ich wunderte mich nicht. Ich neigte mich etwas vor, um sie vielleicht riechen zu können……
Die Null kam. Das hohle Ei im Kreis.
Dann:
Finsternis.
Lange. Lange.
Dann:
-13 ….
Sie saß links neben mir. Schaute mich an. Verletzliche Augen. Verletzte Augen. Geschichten. Gedichte. Ein vorsichtiges Lächeln. Flackern. Schüchternheit.
Plötzlich wurde es heller.
Wir schauten zur Leinwand. Der Film begann. Ohne Vorspann. Schwarzweiss.
Close up. Ein Mann (verwirrend ähnlich sah er mir) sitzt in einer Bar. (Nein, es war nicht ‚Casablanca’, aber es erinnerte daran…) Vor sich eine halbleervolle Flasche Whiskey, das gefüllte, auf dem Tisch stehende Glas mit beiden Händen umfassend. Er blickt in die Kamera. Blickt auf uns. Lange. Schweigend. Dann nimmt er einen Schluck. Klopft mit dem Glas 3 Mal auf die Tischplatte. Starrt weiter in den Kinosaal. Nichts ist zu hören. Die Bar scheint leer zu sein. Dann: zündet er sich eine Zigarre an, Ministreichholzexplosion, sein Gesicht hinterm Rauchvorhang. Er schüttelt das Flämmchen aus. Eine Stimme beginnt zu sprechen. Es muss seine sein, auch wenn er die Lippen nicht bewegt. –
„All diese Jahre. Oder waren es Jahrzehnte? Die Einsamkeit. Die unfassbare Einsamkeit. Die Selbstzerstörung. Die Betäubung. Die Taubheit.“
– – – Ein weiterer Schluck, ein weiterer Zug. – – –
„Und ich wette. Ich wette, ich wette, ich wette – sobald das Glück, oder wie immer man das nennen soll – an meiner Tür geklingelt hat, werde ich am Krebs verrecken. Oder an sonstwas. Ich werde verrecken an all dem, was die Einsamkeit mich tun lies.“ –
Er grinst in die Kamera.
Und eine Frauenstimme aus dem Off ruft: „Cut!“
Kurze Finsternis.
Dann:
-66 …. -67 ….
Wir schauten uns in die Augen. Stumm. Ängstlich. Lächelnd.
Nur kurz – & der Film begann von vorne.
„All diese Jahre …..“ – – – –
„Cut!“
Danach: keine Pause mehr. Der Film lief als Endlosschleife. Wir schauten nicht mehr hin.
Wie oft hörten wir die Sätze? Vergessen. Wir taten nichts außer uns anzusehen. Und Geschichten zu lesen.
Schließlich griff ich in meine Jackentasche. Schwer & beruhigend; der Revolver war ein Erbstück. Er hatte meinem Vater gehört. Ich wandte mich um, fixierte den linken Ellenbogen auf der harten Rückenlehne, spannte den Hahn, unterstützte mit der linken Hand die rechte, die den Revolver hielt. Sie schob ihre Hände in die Kapuze, um sich die Ohren zuzuhalten. Ich zielte. Auf das Fensterchen. Auf die Linse dahinter, aus welcher der Lichtkegel fiel. Staub tanzte im Geflacker.
Ich drückte ab.
Der Rückstoß, ich spürte ihn im Handgelenk. Der Knall, er schmerzte in meinen Ohren. Der Geruch des Schusses. Das Splittern des Glases. Die augenblickliche Finsternis. Der Projektor surrte weiter, aber ich hörte ihn nur noch dumpf – obwohl er nicht mehr durch die Glasscheibe gedämpft wurde. Pfeifen in meinen Ohren. Meine Stimme klang seltsam, als ich fragte:
„Alles ok?“
Keine Antwort.
Ich tastete in die Dunkelheit…… Nichts. Sie saß nicht mehr dort.
„Bist du noch da?!“ Ich sagte es laut. Vielleicht rief ich es sogar.
Keine Antwort.
Ich lehnte mich wieder an. Steckte den Revolver zurück in die Jackentasche. Spürte seine Wärme.
„Bist du noch da?“ Ich sagte es noch einige Male, während die Zeit ungezählt in der Finsternis verging.
Das ist es, was ich noch weiss. Es ist wenig. Der Revolver liegt neben mir auf dem Tisch. Zwischen der Whiskeyflasche & dem Aschenbecher. Meine Ohren pfeifen ohne Pause. Alle Musik klingt dumpf. Wenn jemand an der Tür klingeln würde – – würde ich es hören? Sicherlich.
Aber es klingelt ja niemand.
Und wenn, hätte ich wahrscheinlich Krebs.
Cut.
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21.10.2011
Ich komme nicht mehr raus aus diesem Gebäude … Die Tür … sie ist nicht mehr da … Die Fenster … sie sind verschwunden … Es ist fast dunkel … Ein paar nackte Glühbirnen hängen verstaubt auf den Etagen … So viele Stockwerke … Wieviele? Ich habe es vergessen … Die Treppen sind schmutzig, die Stufen ausgetreten … Geländerteile fehlen … So viele Räume … Ich sitze im Erdgeschoss, in einem Zimmer, wo es nur 1 Stuhl & 1 Tisch gibt … Papier & 1 letzter Bleistiftstummel … Es ist völlig sinnlos, etwas zu schreiben – deshalb tue ich es … noch … Überall Dreck … Spinnweben, manche Fäden sind dick wie Seile … Ich weiß, was das bedeutet … Aber ich will es nicht … wahr? haben? … Ich kann mich erinnern, wie es hier früher war … Die offene Tür, die offenen Fenster, Luft, Licht, Leben, Lachen, Lust … Nichts davon ist übriggeblieben … Mir zittern die Hände … Meine Handschrift ist fast unleserlich, na und? Wer sollte sie entziffern wollen? Einer von Denen? … Denen in den oberen Stockwerken? … Manchmal höre ich ihre Geräusche, sie sind noch da … Ich könnte nachschauen, wie sie jetzt aussehen, könnte die Treppen hinaufsteigen … Vielleicht werde ich es tun … Irgendwann … Bald … Vielleicht schon nachher … Vielleicht schon gleich … Ist es Tag? Ist es Nacht? … Egal … Die Vorräte im Keller gehen zu Ende … In Kürze ist ohnehin alles vorbei … Ein paar Flaschen Schnaps sind noch da, billiger Fusel … abgefüllte Betäubung … Es wird schön sein, nicht mehr zu denken … Es wird schön sein, wenn der Bleistift am Ende ist … Wann war ich zuletzt dort oben? … Mein Zeitgefühl sagt irgendwas, aber es wird eine Lüge sein … Ich war dort oben, und wenn ich jemanden sah, habe ich ihn nicht wiedererkannt … Und dabei kannte ich sie doch irgendwann einmal alle … Diese seltsamen Wesen! … Menschen! … Menschen aus der Vergangenheit … Menschen, die wie Spinnen sind … Ich irrte dort oben durch den Staub, durch das Gespinst, und immer wieder sah ich in dem Trüben Licht ihre Hüllen am Boden liegen … Hässlich & vertrocknet & eingefallen … Aber ich erkannte immerhin einige von diesen Überbleibseln … Was aus diesen Hüllen, diesen Hülsen gekrochen war, war dann jedesmal ein wenig verändert, immer noch Mensch, aber schon ein wenig entstellt … Wie werden sie jetzt aussehen? … Nach so vielen weiteren Häutungen … Wieviele Hülsen werden dort wohl herumliegen? … Verdammte Neugier! … Die Neugier des Verdammten … Ob SIE wohl noch dort ist? … Doch, sie muss dort sein … Aber ich würde sie vermutlich nicht wiedererkennen; auch ihre Stimmen verändern sich … Aber SIE würde MICH erkennen! … & vielleicht SICH zu erkennen geben … Aber jede andere könnte das auch … könnte sich für SIE ausgeben … Zumindest am Anfang würde ich es nicht bemerken … & sie stecken doch alle unter einer Decke … Sie werden sich alle Alles erzählt haben im Laufe der Jahre … Alle kennen alle Geschichten aller anderen … (Plötzlicher Gedanke: Was, wenn ich wahnsinnig bin!?! Mir das alles nur einbilde … Aber nein, es ist wie es ist … & es ist wahr!) … „Warum liebst du mich nicht mehr?“ hat sie mal gefragt … & in der Ecke des Schlafzimmers lagen 2 ihrer Hülsen … Dieser Anblick … Ich sagte gar nichts, und sie warf mir mein Schweigen vor … Sie hätte dankbar sein sollen für mein Schweigen … Ich ging, und sie schrie mir irgendwas hinterher … Beinahe wäre ich über ihre Fäden gestolpert … Nur beinah … Egal … Es sind noch ganz andere dort oben … Vergessene sogar … vermute ich … Die würde ich nicht mal wiedererkennen, wenn sie die alten geblieben wären … Manche der Spinnfäden sind so stark – ich könnte mich an ihnen erhängen … Vielleicht sollte ich es tun … Aber nicht, bevor der Schnaps
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Eine Lesenacht
2:00 Uhr Nachts. Wahllos nahm ich irgendein Buch aus irgendeinem Stapel & legte mich damit aufs Sofa. Ein altes Sofa im Licht alter Lampen. Ich begann zu lesen. Worte. Alte Worte, die jemand neu kombiniert hatte.
Ein paar Seiten vergingen.
Dann, plötzlich: eine Bewegung am Rande meines Blickfeldes. Fliegenähnlich, nur langsamer. Manchmal, wenn ich zuviel getrunken habe, tauchen für Sekundenbruchteile kleine schwarze Punkte oder die Ahnung eines sich bewegenden Schattens genau so auf; ich nehme das nicht ernst, beachte es nicht mehr. Doch gerade wollte ich den nächsten Satz lesen, da flog Sie von oben herab auf die Buchseite. Ich schrie laut auf & warf das Buch so weit von mir wie möglich. Eine schwarze, beinahe handtellergroße Spinne! Und diese Spinne hatte Flügel, durchsichtig, von zarten roten Äderchen durchlaufen. Ich sprang auf. Das Buch war gegen eine Wand geprallt & lag nun, mit dem Rücken nach oben, einige Meter von mir entfernt auf dem Boden. Die Spinne kam darunter hervor. Sie war unverletzt. Sie bewegte sich langsam. Die Flügel waren angelegt. Angelegt auf ihrem fetten, unbehaarten Körper. Langsam, sie nicht aus den Augen lassend, ging ich zur Tür. Rückwärts. Ich fühlte, dass ihr Blick mir folgte; ergriff die Türklinke ….. Da bewegten sich die Flügel; wurden aufgestellt …. Ich drückte die Klinke nach unten … Die Spinne hob ab, im Flug bewegte sie die Beine … Als würde sie auf der Luft laufen … Ich riss die Tür auf …. Wollte sie hinter mir zuwerfen, meine Hand rutschte ab, die Tür bekam nicht genügend Schwung, ging nicht ganz zu … Ich rannte über den Flur, der Flur war dunkel bis auf das wenige Licht aus dem Wohnzimmer, ich spürte die Verfolgung der Spinne … Ich bin schneller als sie, sie kann mich nicht einholen, bitte, sie darf mich nicht einholen! Der Flur schien länger zu sein, als ich ihn kannte. Schließlich riss ich die Schlafzimmertür auf, und diesmal schaffte ich es, die Tür rechtzeitig zuzuknallen. Finsternis. Ich machte Licht.
Ja, die Spinne war draußen geblieben. Selbst meine Panik war außer Atem. Etwas boxte von Innen gegen meine Rippen. Ich legte mich aufs Bett. Sie ist da draußen. Sie wartet. Ich werde sie töten. Ich kann sie töten – warum stelle ich mich dermaßen an? Eine Spinne, eine blöde kleine Spinne. Sie kann fliegen, na schön. Aber sie kann auch sterben, wenn ich das will. Vielleicht ist sie die einzige ihrer Art, dann rotte ich mit ihr gleichzeitig ihre Art aus. Das wäre doch wunderbar. Das wäre Macht. – Aber was, wenn es Millionen davon gäbe? Eine neue Art, die sich längst ausgebreitet hat …. Meine Fantasie fing an zu spinnen. Netze aus Peitschen. Rasende Bilder, aufgepeitschte Vorstellungen.
Beruhige dich …. beruhige dich …. nur eine Spinne …. nur 1 Spinne ….
Langsam, ganz langsam, so langsam wie die fliegende Spinne – beruhigte ich mich. Ruhe. Ruhe.
Und dann hörte ich ein Geräusch. Ein Geräusch & noch ein Geräusch. Als stieße unter dem Bett etwas gegen das Lattenrost. Panik. Ich wagte es nicht, aufzustehen. Setzte mich dicht ans Kopfteil des Bettes. Du spinnst! Du bildest dir etwas ein! Du
Doch. Das Geräusch war da. Keine Einbildung.
Ich wartete. Wartete. – Ich musste nicht lange warten.
2 dicke schwarze Beine waren das erste, was ich von ihr erblickte. Und ich meine wirklich: DICK. Dann folgte: der Kopf – – –
Eine weitere Spinne. Und sie war schnell, so schnell. Nachdem ihre ersten Bewegungen noch tastend-langsam gewesen waren, huschte sie nun unter dem Bett hervor. Groß wie 2 Pizzateller. Sie drehte sich herum, wandte sich mir zu. Und sie hatte den haarlosen Kopf einer Frau. Einen kleinen Glatzkopf, der zwischen ihren Vorderbeinen, vorne an ihrem dickrunden, behaarten Körper saß. Und sie schaute mich an, und ich erkannte ihr Gesicht. Zitternd. Ein Gesicht aus der Vergangenheit. Ein Gesicht, das schöne Augen gehabt hatte. Damals. Heute waren die Augen schwarz & böse. Und sie erbrachen einen Blick, der zu lange mit dem Wahnsinn geflirtet hatte. Ihre Lippen bewegten sich, als spreche sie. Doch ich hörte nichts. Ich musste sie nicht hören, um zu wissen, dass ihre Worte wüteten. Wüteten gegen mich. Ich glaubte ihren Körper zu riechen; und er roch schlecht in meinem Glauben.
„VERSCHWINDE!“ schrie ich.
Da grinste sie sarkastisch.
Wie kann ich sie töten? Wie kann ich DIESE töten? So groß. So schnell. Und das Gesicht…… Ein Messer. Ein Küchenmesser. In den behaarten Leib…..
Ein Geräusch an der Tür. Ein lautes Kratzen von Außen. Das konnte die fliegende Spinne nicht sein.
Die Hölle! Ich werde in die Hölle blicken….
Die schwarzen bösen Augen der Glatzköpfigen (der Schein der alten Nachttischlampe spiegelte sich in ihnen) blickten wissend. Sie schien zu wissen, wer das Geräusch verursachte.
Sie grinste. Und ihre 8 langen Beine spannten sich an. Spannten sich an. Spannten sich an, als setze sie an – – – zu einem Sprung……..
Ich wartete auf das Springen meiner Rippen. Die Schläge von Innen waren hart. K.O. oder Tod …..
Nie wieder würde ich ein Buch in die Hand nehmen.
Sie setzte zum Sprung an.
Und die Türklinke wurde heruntergedrückt.
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Die Knotin
Ich glaube, er hieß Keller & ging ins Badezimmer, und die Morgensonne verschwand hinter einer fetten Wolke. Zufall, kein kausaler Zusammenhang. Er war nackt. Er pisste, sitzend; ließ die Spülung rauschen, stellte sich vor das Waschbecken & schaute in den Spiegel. Desinteressiert, denn er kannte sich zu gut. Er griff zum Rasierapparat; der Scherkopf fraß Stoppeln. Geräuschvoll. Und gerade als er ihn über den Adamsapfel mähen ließ, sah er sie – – – die Erhebung, die Ausbuchtung über seiner linken Brustwarze. Wie eine Haselnusshälfte unter der Haut. Angstpuls. Er schaltete den Apparat aus, legte ihn beiseite. Betrachtete den Knoten zunächst im Spiegel & dann direkt von oben herab. Krebs, dachte er. Vorsichtig, ganz vorsichtig drückte er die Zeigefingerspitze auf den…..
„Aua“, – – sagte ein zartes, hohes Stimmchen.
Panik schlug sein Herz, in seinem Kopf rief es Wahnsinn! Wahnsinn! Es ist soweit, du bist wahnsinnig geworden!
Er blickte in den Spiegel. In sein Gesicht. In seine Augen. Sieht so der Wahnsinn aus?
Noch ein Versuch, ängstlich ….. Wieder tippte er mit der Zeigefingerspitze……
„Lass das, du Idiot“, sagte das Stimmchen. Leicht ungehalten. „Du hast dir nicht mal die Hände gewaschen.“
Die Stimme war ihm nah; sie kam definitiv aus dem Knoten. Eine weibliche Stimme (falls eine solche Definition an dieser Stelle zulässig war). Er selber spürte nichts.
Ich muss zum Arzt, dachte er.
„Du wirst nicht zum Arzt gehen“, sagte sie. „Du wüßtest ja nicht mal, zu was für einem Arzt; Internist, Psychiater.“ Sie kicherte.
In Filmen wachen sie irgendwann auf. In Romanen wachen sie irgendwann auf. Und dann ist da wieder die Realität. Aber dies hier, DIES HIER ist die REALITÄT!
„Denk nicht soviel“, sagte sie, „mach dich lieber fertig, du musst zur Arbeit.“
Ach ja, Arbeit, Menschen, Kollegen, normale Realität – wie lächerlich war das alles. Jetzt. Plötzlich. Er hätte sich krankmelden können; aber vielleicht würde ja die Ablenkung helfen.
Er rasierte sich weiter. Immer wieder zog Sie seinen Blick auf sich. Und darunter tobte sein Herz. Die Mechanik der Morgenroutine lief nebenher. Er duschte. Sparte Sie dabei aus. Sie sagte nichts. Er wusch sich die Haare. Und so weiter, und so weiter. Mechanik, Routine, Automatismus. Und über allem das schreiende Chaos in seinem Schädel. Schließlich verließ er das Bad, und die fette Wolke gab die Sonne frei. Zufall, kein kausaler Zusammenhang.
Das Frühstück ließ er heute aus. Er hätte nichts essen können; außerdem war er ohnehin spät dran. Er zog sich an. Knotete die Krawatte.
„Hat dir schon mal jemand gesagt, wie bescheuert du mit Anzug & Krawatte aussiehst?“ sagte sie. Die Stimme gedämpft durch die Kleidung.
„Ja“, sagte er (es war das erste, was er laut zu ihr sagte), „und zwar ich mir selber.“
„Dann ist es ja gut“, sagte sie.
Selbstgespräche, dachte er. Jetzt kommen die Selbstgespräche. Es sind doch Selbstgespräche – ?
„Sind es nicht“, sagte sie, „das wirst du schon noch merken.“
Als er aus der Haustür in die Sonne trat, fühlte er einen leichten Schwindel. Normale Menschen waren unterwegs. Jedenfalls äußerlich normal. Es verstörte ihn. Hatten auch sie etwas Verborgenes? Er setzte sich ins Auto & fuhr los. Ihm graute es vor dem Büro. Was, wenn sie dort plötzlich losplapperte? – Sie sagte nichts zu diesem Gedanken. Überhaupt sagte sie während der ganzen Fahrt nichts. Er versuchte sich auf den Berufsverkehr zu konzentrieren. Der übliche Stau an der üblichen Stelle. Jetzt hätte sie eigentlich etwas sagen können, um ihn zu unterhalten.
Im Büro. Man grüßte. Ein normaler Tag für alle. Wahrscheinlich. Aber man konnte ja nie ganz sicher sein. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, einer von 5. Und er tat all die Dinge, die er immer tat. Dumme, öde kleine Dinge; so hatte er es schon immer empfunden, aber heute empfand er es besonders stark.
Sag nichts, dachte er.
Sie schwieg.
Ein Kollege sprach ihn an. „Sag mal, Keller, geht’s dir gut? Siehst heute ein bisschen mitgenommen aus.“
Und schon schauten auch die anderen zu ihm herüber.
Er bastelte ein Lächeln. „Ja, alles prima. Bin letzte Nacht ein bisschen versackt; aber alles im Grünen Bereich.“
Eine Kollegin grinste. „Tz tz tz, mitten in der Woche versacken….“
Der Kollege sagte: „So ist das eben, wenn man keine Frau hat. – Stimmt’s Keller?“
Er antwortete nicht, beugte sich wieder über seine Papiere.
„Lass ihn in Ruhe“, sagte die Kollegin.
„Schon gut“, sagte der Kollege.
Die anderen sagten nichts.
Und alle arbeiteten weiter. –
Nach 1 Stunde hielt Keller es nicht mehr aus. Er musste nachschauen. Sich vergewissern. Musste – sie wiedersehen.
Er ging zur Toilette, schloss sich in eine Kabine ein. Öffnete sein Hemd (bei solchem Wetter trug er nichts darunter).
– – – ? ? – – ! : Der Knoten war verschwunden. Sie, die Knotin, war verschwunden. Er betastete die Stelle, wo sie gewesen war; drückte tief hinein. Nichts. Ein kurzer, ein vorübergehender Anflug von Realitätsverlust? Eine Überreizung? Eine harmlose Psychose? War es das gewesen? Nichts. Nichts. Nichts. Da war nichts. Nichts mehr. Oder vielleicht war dort niemals etwas gewesen …. Ein Stein fiel lachend von seinem…..
„Hier bin ich“, sagte sie. Sie klang leiser; noch gedämpfter.
Wo, dachte er sie an.
„Auf dem Rücken, knapp über deinem Arsch“, sagte sie. „Ich musste mir mal etwas Bewegung verschaffen.“
Er hatte nichts davon gespürt.
Er tastete nicht nach ihr. Wozu auch. Sie war da; das war sicher. Er knöpfte das Hemd wieder zu, ordnete die Krawatte.
Willkommen in der Hölle, dachte er für sich.
Aber ihr war es egal, ob er für sich oder sie dachte. Wenn sie meinte etwas sagen zu müssen, sagte sie etwas.
„Wieso Hölle? Du wirst sehen: das hat mit Hölle nichts zu tun. Du bist nicht mehr allein; das ist doch nicht die Hölle. Wir können viel Spaß miteinander haben.“
Ob auch andere sie hören konnten? Oder nur er? Ob überhaupt….. Was für Fragen, die er stellte; sich; ihr; Fragen ohne Antworten. Fragen, die voraussetzten, dass er Sie, die Knotin, bereits als Realität akzeptiert hatte. Wessen oder was für eine Realität das auch immer sein mochte.
Er ging zurück an seine Arbeit.
„Mann, du bist echt blaß heute“, sagte der Kollege.
Blöder Fettsack, dachte Keller.
Die anderen schwiegen.
Keller hasste den Geruch des Büros. Immer schon. Aber heute ganz besonders.
Kannst du mich andenken? dachte er sie an. Aber es kam keine Antwort.
Irgendwie brachte er die Bürostunden herum. Unkonzentriert; aber er musste sich ohnehin nicht besonders konzentrieren, um seine öde dumme Arbeit zu erledigen. Er hatte es sogar geschafft, während der Mittagspause eine Kleinigkeit zu essen.
Hin & wieder ging er aufs Klo, dachte & sprach sie an, aber es kam keine Antwort.
Vielleicht schläft sie. Vielleicht schläft sie tagsüber.
Dann: Feierabend. Man verabschiedete sich.
„Und trink nicht soviel“, sagte der Fettsack.
Keller reagierte nicht darauf. Stieg in sein Auto & fuhr in den Feierabendverkehr, die rote Sonne im Rückspiegel.
Zuhause ging er sofort ins Schlafzimmer & zog sich aus. Komplett. Warf alles aufs Bett. Scheiss auf die Bügelfalten.
„Verdammt“, sagt er. Sie saß in seinem linken Oberschenkel.
„Wassn?“ sagte sie.
„Schon wieder gewandert.“
„Na und? Meinst du es ist so spannend, den halben Tag hindurch kurz über deinem Arsch zu sitzen?“
Beinahe hätte er gelacht, aber er befürchtete, dass es bereits wie das Lachen eines Wahnsinnigen hätte klingen können. – Er zog sich T-Shirt & Shorts an & ging in die Küche. Zum Kühlschrank. Der Beefeater lag im Eisfach. Er nahm ein Wasserglas. Schenkte es randvoll. Trank. Eisig.
„Du solltest nicht so viel trinken“, sagte sie.
Er setzte ab. „Jetzt fängst du auch noch an. Mit dem Refrain meines Lebens.“
„War ein Scherz“, sagte sie. „Du wirst meinen Humor schon noch kennenlernen.“
„Das befürchte ich auch.“ Er ersetzte die Schlucke, die er getrunken hatte, tat die Flasche zurück ins Eisfach & ging ins Wohnzimmer. Setzte sich aufs Sofa & schaltete den Fernseher ein. Zappte. Dreck, dachte er, alles Dreck.
„Dreck“, sagte sie, „alles Dreck.“
„Prost“, sagte er, „du hast recht.“
„Prost“, sagte sie, „ich weiß.“
Er schaltete den Ton aus. Buntflackernde Bildkulisse. Grinsende Fratzen. Das Glas war kalt & feucht in seiner Hand.
„Langweilig, was?“ sagte sie.
„Nein“, sagte er, „mir ist nie langweilig; außer im Büro natürlich.“
Sie sagte: „Ich meinte das übrigens nicht so, als ich dich Idiot nannte.“
„Schon okay, ich bin einer. Wie soll ich dich nennen – Krebs?“
„Sehr lustig.“
„Du wirst meinen Humor schon noch kennenlernen.“
„Das befürchte ich auch“, sagte sie.
Langsam schwand das rote Sonnenlicht. Er trank. Irgendein Nachbar hatte unerwartet guten Musikgeschmack. Tom Waits.
Keller sagte: „Aus was für einer Zelle bist du eigentlich entsprungen?“
Sie kicherte. „Wahrscheinlich aus derselben wie du.“
„Bist du betrunken?“ fragte er.
„Ja. Und du?“
„Etwas.“
„Ich könnte in deinen Schwanz wandern; vielleicht würdest du etwas spüren & Spaß haben.“
„Untersteh dich“, sagte er. „Ich hab Spaß genug. Außerdem spüre ich dich sowieso nicht.“
„Schade“, sagte sie.
Irgendwann war der Fernseher die einzige Lichtquelle. Keller wurde erinnert, dass man noch dümmer grinsen kann, als es die Menschen im Büro konnten. Die Ginflasche hatte Zimmertemperatur; quadratische Ränder auf dem Tisch.
„Wo bist du jetzt?“ fragte er.
„In deinem Bauchnabel.“
Er hob das T-Shirt an. Sie passte perfekt. Fast sah es aus, als habe er keinen Bauchnabel. Belly without blemish, fiel ihm ein.
Und sanft fuhr er mit dem Mittelfinger darüber, fast fühlte es sich glatt an (g-l-a-t-t), und sie kicherte.
Und sie kicherte.
Tage vergingen.
Und er grinste.
Wochen vergingen.
Und sie kicherte.
Und sie kicherte.
Und er grinste.
Und Kollegen grinsten.
Und Kolleginnen kicherten.
Tuscheln in der Kantine. „Hat Keller ne Frau?“ fragte einer.
Der Fettsack sagte: „Könnte fast sein, so gut wie der im Moment drauf ist.“
„Also, ich weiß nicht“, sagte eine Kollegin.
„Was weißt du nicht?“ sagte der Fettsack.
„Naja, kann ich mir bei ihm einfach kaum vorstellen.“
„Ach Quatsch“, sagte ein anderer. „Also, ich bin mir sicher, dass er ne Frau hat. Und ich gönn’s ihm auch.“
Kollegen kicherten.
Keller grinste..
Sie kicherte.
Doch es ist ja so -: Kichern vergeht. Grinsen vergeht. Irgend. Etwas. Besteht.
„Lass mich in Frieden“, sagte Keller.
„IN FRIEDEN!“ schrillte sie. – „Hahaha! In Frieden ruhen vielleicht.“ Sie hatte kein Stimmchen mehr. Nicht mehr zart. Und weniger hoch.
Zufällige Wolken. Unkausale Zusammenhänge.
Keller bekam nur noch wenig Schlaf. Sie redete auf ihn ein, wenn er im Bett lag. Oder, kaum war er eingeschlafen, fing sie an zu singen.
„Halts Maul“, sagte er, „oder ich steche dich ab.“
„Das wäre ein Fehler“, sagte sie. „Du würdest verbluten.“
„Das glaube ich dir nicht.“
„Versuchs doch“, sagte sie.
„Bitte bitte“, sagte er, „halt doch einfach dein Maul.“
Sie lachte & sang einen Schlager.
Manchmal fragte er sich, ob sie, wenn er denn doch einmal schlief, ihm vielleicht etwas zuflüsterte….
Das Kollegium bemerkte Veränderungen. Der Fettsack wagte nicht mehr, zu witzeln.
Keller wurde finster.
„Herr Keller“, sagte der Fettsack.
„WAS?!“
„Ich glaube, da ist Ihnen ein Fehler, ein kleiner, unbedeutender Fehler unterlau“
„Gib her!“ Keller riss ihm das Formular aus der Hand. „Ich guck mir die SCHEISSE noch mal an.“
Alle beugten sich über ihre Papiere.
Kellers Wohnung: ein schreiendes Chaos. Er soff, er brüllte & Nachbarn klopften. Dann schwieg er. Doch Sie schwieg nie. Und er wurde leise. Mit der Zeit. Leise. Noch leiser. Wochen vergingen. Er wurde unauffällig. So unauffällig, dass jedermann im Hause ihn wieder vergaß. Keller? Ein Nachbar? Ach ja, Keller. Nun ja…..
„Also, mir ist er ja nie so aufgefallen …. Nur eine Zeitlang … Ganz kurz …. Eigentlich war er nett …. Unauffällig ….. Grüßte immer so freundlich … Ich glaube, es ging ihm nicht immer so gut …. Aber in der letzten Zeit hatte er sich gefangen …. Er hatte ein nettes Lächeln …..“ :
TV. Eine Fratze, die versuchte Betroffenheit zu mimen. Oder war sie : betroffen ? Der Fernseher: die vielleicht einzige Beleuchtung in Millionen Wohnzimmern. Leere Bauchnabel allenthalben. Schlaglöcher. Unebenheiten.
Lokalpresse: Harzer Panorama Extra vom 30.08.2005
AMOKLAUF IN BAD HARZBURGER BEHÖRDE
>Edward K. (51), alleinstehend, betrat das Bürogebäude […] , in dem er seit 22 Jahren arbeitete. Zunächst schoss er mit einem alten Armeerevolver seinen Kollegen und Kolleginnen in die Beine, dann schlug er mit einer Axt auf sie ein. Niemand überlebte. […] „Es bot sich ein Bild des Grauens“, sagt der Polizeibeamte, Oberkommissar Jochen Nipkow. „Überall Leichenteile. So etwas habe ich in meinem über dreißigjährigen Berufsleben noch nicht gesehen. Eine beispiellose Tat.“ […] Nach dem Massaker begab K. sich auf das Dach des achtstöckigen Gebäudes und sprang in die Tiefe. Er war sofort tot. Über die Hintergründe der Tat ist bislang nichts bekannt. Nachbarn […]<
Die Sonne schien. Das Blut hatte man entfernt. Das Gehirn hatte man entfernt. Der Gehweg vor dem Bürogebäude war sauber. Keller war in der Pathologie gelandet. Seine Leber war nicht in bestem Zustand. Doch er war nüchtern gewesen. Keine Drogen. Keine Anomalien.
Frisch rasiert war er gewesen.
Die Sonne schien, und es gab keine Wolken. Zufall, glaube ich.
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Die Zigarre
Der Mann war seltsam, keine Frage.
Er stand vor mir, an der Hotelrezeption & textete mich zu mit Banalitäten. Ich war das gewohnt. Die seltsamsten Menschen kamen Nacht für Nacht vom Hauptbahnhof herüber, nur um zu quatschen. Für sie ist der Nachtportier ein Psychiater oder Beichtvater. Sie laden ab, was sie abzuladen haben. Meistens Müll. Müll, der sie belastet. Und wehe, sie merken, dass sie ein Ohr vor sich haben. Dann finden sie kaum ein Ende. Und ich bin ganz Ohr.
Was dieser Mann erzählte, es war unwichtig. Für mich. Für ihn war es: die Welt. Er hielt mich von der Arbeit ab. Und ich mag es, von der Arbeit abgehalten zu werden. Ich hörte ihm zu, und als er alles abgeladen hatte, was er hatte abladen wollen, fragte er:
„Rauchen Sie Zigarren?“
„Ja“, sagte ich.
„Gut“, sagte er, „ich habe gerade eine geschenkt bekommen. Von einem Freund, der Vater geworden ist. Aber ich rauche nicht. Dafür, dass sie so nett zugehört haben, werde ich sie Ihnen geben.“
Ich habe keine Skrupel, ich nehme an, was ich kriegen kann; und ich sah es auch so: er hatte mir eine Menge Dreck erzählt – ich verdiente es, dafür belohnt zu werden.
Er reichte mir das Metallröhrchen. Tiefschwarz mit goldener Schrift. Ich nahm es an. Grinste. Freundlich.
„Danke.“ (Nein, ‚Das wäre doch nicht nötig gewesen’, sagte ich nicht, denn es war nötig gewesen.)
Er ging. Und als er auf der anderen Seite der Straße angekommen war, konnte ich mich schon nicht mehr an sein Gesicht erinnern.
Ich brachte den Rest der Nachtschicht herum.
Fuhr nach Hause, aß Kuchen, trank Milch & legte mich schlafen. Verschlief den Tag. Wie immer.
Das schwarze Röhrchen mit goldener Schrift lag im Wohnzimmer.
Endlich. 4 Tage später hatte ich frei. Die Arbeitsnächte hatten mich abgefüllt mit Sinnlosigkeit, Dummheit & einer weiteren Schicht Routine.
Frei! Frei!
Im Bett liegen. Gin trinken. Lesen. Träumen. Dunkelheit genießen. Fantasie trinken. Und den Sinn des Nichtstuns erneut entdecken.
Irgendwann stand ich auf; in der Nacht. Hungrig. Gierig nach Olivenöl, Knoblauch & Zwiebeln. Zwiebeln finden meine Freudentränen & locken sie hervor. Ich kochte Spiralnudeln. Ließ sie im Sieb abtropfen. Warf sie in die Pfanne, in den aufzischenden Olivenölsee. Bewarf sie mit Knoblauch & Zwiebeln, Oregano obendrauf & Pfeffer in allen Farben. Roch, was zu riechen war. Zusammengebrutzeltes Glücksempfinden.
Ich aß. Aß. Aß. Roter Wein als kurzes Intervall. Spiralen. Ölig glänzend. Die 3 Kerzen auf dem Eßtisch.
Satt. Dann war ich satt. Was fehlte? Eine Zigarre. Die Zigarre zum Rotwein, zum Cognac, zur Sättigung.
Das schwarze Röhrchen.
Die goldene Schrift.
Ich dreht den Verschluss ab. Die Zigarre war in Zellufan eingeschweißt. Ich befreite sie. Schob sie unter meiner Nase vorbei. Sie roch GUT. Wie irgendein (fast) vergessenes SpeiseEis meiner Kindheit.
Sie war zu schön & zu gut für ein Feuerzeug. Also nahm ich ein Streichholz. Goldblaues Geflacker. Glut. Rauch. Graue Schlieren.
RAUCHEN!
Das Rauchen malt den Atem. Ein graues Gemälde.
Ich trank. Ich rauchte. Blies den Rauch in die Kerzenflammen. Beleuchteter Qualm.
Anheimelnd & gemütlich.
RAUCHEN!
Dann: wurde der Rauch – plötzlich – ungemütlich. Und unheimlich.
Über den goldblauen Flammen nahm er Formen an. Formen…… Ein Gesicht…. Ein graues, breites Gesicht, mit Augen. Augen, die sich vor Bosheit schlitzten. Vor Hinterhältigkeit. Und Gemeinheit. Darunter: eine wabernde Nase. Ein dunstiger Mund.
Und der Mund sprach. Im Licht der Kerzen.
Er sprach Worte, die ich vergaß. Ich weiß nur noch: sie waren boshaft; sie waren niederschlagend; sie waren düster; sie waren schwarz. Sie waren häßlich; so schauderhaft, dass ich fror.
Ich rauchte weiter. Weiter, während das Gesicht seine Form verlor & sich im Raum verteilte. Bei jedem Zug fragte ich mich, welches Grauen ich diesmal ausatmen würde. Ich zitterte & konnte es doch nicht lassen; ich musste sie aufrauchen. Nichts passierte. Ihren winzigglühenden Rest warf ich in den Aschenbecher. Aus der letzten, sterbenden Glut stieg der letzte Qualm, dünn wie ein Faden. Aber dieser Faden wurde das dicke Seil, das sich um meinen Hals legte. Um meinen Hals, der verstummte. Und keine Luft mehr bekam. Zu wenig Atem für einen Schrei.
Die Zigarre war seltsam. Keine Frage.
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Der Mann auf dem Stuhl
Ich schlief. Ich schlief gut. Ich schlief fest. Traumlos, wie man so sagt, obgleich es traumlosen Schlaf nicht gibt. Dann erwachte ich in meine selbstgebastelte Finsternis. Das Schlafzimmerfenster: mehrschichtig beklebt mit schwarzer Folie; ich muss tagsüber schlafen, ich will tagsüber schlafen, und das geringste bisschen Licht stört mich.
Ich lag also in der Lichtlosigkeit, gut erholt, und fühlte mich trotzdem seltsam. Irgend etwas war anders als sonst. Nur ein Gefühl. Eine Unstimmigkeit. Es war Abend, ich hatte frei.
Liegen bleiben. In die Schwärze starren. Schwitzen. Stille (nur hin & wieder ein Auto) Gedanken bebildern. Leichter Rückenschmerz.
¼ Stunde. ½ Stunde. Schließlich tippte ich einmal auf den Fuß der Nachttischlampe, damit sie auf der untersten Dimmstufe……..
Das Erschrecken war Blitz & Donner zugleich; der Herzschlag ein Trommelgewitter. Ein Mann saß auf dem Stuhl mir gegenüber & sah mich an. Ich richtete mich auf.
„Was soll das … Wer … Was machen Sie hier? Raus, oder ich …“
„Nur die Ruhe“, sagte er. Seine Stimme war dunkel. Er lächelte.
Ein älterer Herr, kurzgeschorene Haare, Stoppelbart, die Kleidung komplett weiss. Dass er in der Finsternis gesessen & ich plötzlich das Licht angemacht hatte, schien keinerlei Einfluss auf seine Augen gehabt zu haben; er blinzelte nicht; es war, als hätte er mich schon die ganze Zeit über beobachtet, in einem anderen, seinem eigenen Licht. Ich tippte nochmals auf die Lampe, es wurde heller.
„Wer zum Teufel sind sie“, fragte ich.
„Du verdankst mir dein Leben“, sagte er.
„Was soll der Scheiss? Wie sind Sie hier reingekommen?“
„Kein Scheiss“, sagte er. „Aber vielleicht hätte ich es besser Existenz nennen sollen. Allerdings in fetten Anführungszeichen.“
„Ah, verstehe, Sie sind der“ (& jetzt ein besonders verächtlicher Tonfall:) „Liebe Gott.“
„Blödsinn. Den gibt’s nicht. Aber mich gibt’s. Und ich bin nur ein ganz normaler Mensch.“
„Na, herzlichen Glückwunsch“, sagte ich, „jedenfalls verschwinden Sie jetzt ganz schnell, sonst rufe ich die Polizei.“
Er grinste (ebenso verächtlich). „Ach ja …. die Polizei ….. kenne ich. Das bringt nicht viel. Ich würde mich an deiner Stelle nicht zu sehr auf die verlassen.“
Ganz entspannt saß er da. Er hatte sich einfach auf meine Klamotten gesetzt, die ich immer auf diesen Stuhl warf.
„Also“, sagte ich, „was wollen Sie?“
„Nichts. Ich wollte nur mal vorbeischauen. Allerdings könntest du hier mal wieder lüften.“
Ein Wahnsinniger …. Bewaffnet? … Nichts zu sehen … Oder bin ich der Wahnsinnige? … Oder der Schlaf ist noch nicht zu Ende? …. Quatsch, sowas gibt’s nur in schlechter Literatur …
„Okay“, sagte ich, „nun haben Sie vorbeigeschaut. Auf Wiedersehen.“
„Ach weißt du, ich komme & gehe, wie es mir passt. Das ist so meine Art.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust.
T-Shirt & Shorts klebten mir am Körper.
„Wollen Sie Geld?“
Er lachte. Laut & ein wenig aufgesetzt.
„Das brauche ich am allerwenigsten“, sagte er.
„Na toll, dann können Sie ja mich finanziell unterstützen.“
„Das könnte ich; aber du brauchst das nicht. Wirklich nicht.“
„Sie meinen, das können Sie beurteilen?“
„Selbstverständlich.“
verrückt verrückt verrückt wahnsinnig
Das Gesicht …. kam es mir bekannt vor? … Es war so ein Allerweltsgesicht, eine Erinnerung an andere Gesichter … ein Gesicht in der Masse … irgendwie vertraut … & doch fremd …
„Ich geh jetzt pissen“, sagte ich.
„Nur zu“, sagte er. Er blieb ruhig sitzen, schaute sich im Zimmer um.
Ich kletterte aus dem Bett & ging über den Flur ins Bad. Ließ die Tür offen; es war mir egal. Mein Schädel war ein Labyrinth; Gedanken- & Gefühlsfäden, heillos durcheinander, führten weder ins Zentrum, noch zum Ausgang.
Wenn ich zurückgehe, wird er weg sein … Zuviel Suff in letzter Zeit … ne Art Delirium wahrscheinlich … Ich will nicht eingewiesen werden! Ich will nicht wahnsinnig sein! …. Nein, ER ist wahnsinnig … falls er noch da ist ….
Die Spülung rauschte. Ich warf einen Blick in den Spiegel (ohne mir die Hände zu waschen) … Ich suchte nach dem wahnsinnigen Blick. Und fand ihn nicht. Dann ging ich rasch die Wohnungstür checken; sie war geschlossen, unbeschädigt. Die Fenster -?: ebenso.
Er wird weg sein….
Ich überlegte, ob ich ein Messer aus der Küche holen sollte. Es erschien mir sinnlos.
Ganz langsam, zögerlich, ging ich über den Flur zurück.
Er wird weg sein …. Er wird weg sein … Und das heißt dann, dass ICH wahnsinnig bin …
Ich näherte mich dem Türrahmen. Der Stuhl, noch sah ich ihn nicht, stand rechts um die Ecke. Ich war leise; barfuß. Das Schlafzimmer erschien im Rahmen … noch nicht der Stuhl … weiter, noch einen Schritt … noch nicht der Stuhl, noch … ich schaute um die Ecke ….
Sein Blick ruhte direkt auf meinem. Kein Zucken der Augen. Er hatte genau gewußt, wo mein Blick erscheinen würde. Meine verschwitzte Haut fror.
„Verdammt, was wollen Sie?“ sagte ich.
„Da ist ein Pissfleck in deinen Shorts.“
Seine Augen: Saugnäpfe auf meinen Augen. Natürlich war da ein Fleck.
„Soll ich deine Verwirrung auflösen? Entwirren?“
Ich ging ins Zimmer. Setzte mich aufs Bett.
„Also?“ sagte ich.
„Es ist sehr einfach“, sagte er. „Ich stelle dich mir vor.“
„Sie meinen, Sie stellen sich mir vor.“
„Nein.“
„Sie sind wahnsinnig.“
Er lächelte. Verständnisvoll.
„Es gibt dich nicht wirklich“, sagte er. „Ich stelle dich vor.“
wahnsinnig wahnsinnig wahnsinnig
„Wahrscheinlich ist es umgekehrt“, sagte ich.
„Nein, ist es nicht. Und dass du real bist, kannst du nicht beweisen.“
„Natürlich könnte ich das; Sie würden es nur nicht mehr mitbekommen. Ich könnte Sie töten, und ich wäre immer noch da.“
„Weil mein Tod nur ein vorgestellter wäre. Du bist ja gar nicht in der Lage, mich zu töten. Weil du nicht bist.“
Ich sagte: „Vielleicht stelle ich mir Sie vor, und stelle mir vor, dass Sie sich vorstellen…..“
„Schon gut, schon gut. Verstehe. 2 Spiegel, die sich gegenüber stehen. Ein Duell. Bilder, die sich gegenseitig bewerfen, abgebildete Bilder, die sich zurückwerfen.“
Ich wusste doch, dass ich so enden würde … In einer Zelle mit mir selbst …
„Du musst glauben, was ich mir vorstelle. Und das kann auch dein Unglaube sein. Alles ist meine Vorstellung.“
„Kenne ich“, sagte ich, „Solipsismus. Ist doch Blödsinn.“
„Meinst du? Ich habe ihn erfunden.“
„Sie sind einfach krank. Die Vergangenheit gibt es also nicht? Die Geschichte ist ihre Erfindung? Die Quantenphysik & schlechte Fernsehserien?“
„Ich mag deinen Humor“, sagte er; „geh kurz raus, für eine Sekunde nur, und dann komm zurück.“
Ich bekam es mit der Angst zu tun. Zögerte.
Er grinste.
Beweise? Ich will keine Beweise …. & ich wüsste nicht mal, was sie beweisen würden …
„Warum nicht?“ sagte ich, als würde es nichts bedeuten.
Stand auf.
Ging raus.
21 … 22 …
Ging zurück.
Er war fort.
Ich zitterte.
Setzte mich.
Zitterte weiter.
Meine Klamotten auf dem Stuhl waren plattgesessen.
Das Ende! Das ist das Ende! Das Ende meines Verstandes! Oder das Ende der Welt, die niemals war.
Es war der Anfang.
Der Anfang einer neuen Zeitrechnung. Für mich.
Sicherungen sind rausgesprungen. Entweder existiere ich nicht, oder ich bin wahnsinnig. Ich mache weiter wie bisher. Aber ich bin nicht mehr derselbe. Denkt er mich jetzt anders?
Menschen. Überall sind Menschen. Tiere. Dinge. Sind sie?
Ab & zu sehe ich ihn wieder. Aber ich spreche nicht mehr mit ihm. Er läuft weg vor mir. Und grinst dabei; höhnisch. Im Supermarkt; auf der Straße; er steht in einiger Entfernung, in seiner weissen Kleidung; die anderen Menschen sehen ihn ebenfalls; er schaut zu mir herüber, und wenn ich auf ihn zugehe, macht er kehrt; verschwindet hinter irgendeiner Ecke. Als hätte er eine Ecke nötig, um zu verschwinden.
Ich muss lernen, dies alles als Freiheit zu begreifen. Entweder Wahnsinn als Freiheit – oder Nichtexistenz als Freiheit. Letztendlich könnte es egal sein …..
Wer hat dies geschrieben?
Wer schreibt hier?
Und wo ist das Ende?
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Der hohle Baum
Nacht. Wald. Windstille. Mondlicht, das durch Baumkronen splitterte. Meine Schritte, mal knisternd, mal dumpf. In der einen Hand hielt ich eine Taschenlampe, in der anderen einen Zettel. Ich hatte diesen Zettel gestohlen, aber der, dem er gehörte, vermisste ihn wahrscheinlich gar nicht; wusste vielleicht nicht einmal etwas von dessen Existenz. Egal. Die Wegbeschreibung hatte mich fasziniert. Kritzelei. Geheimnis. Vielleicht etwas Unbekanntes, das man finden konnte. Irgendwo am Ende. Endlich etwas suchen. Das man nicht verloren hatte.
Es war noch angenehm warm. Waldluft, Geraschel von Tieren … Was hätte ich Besseres tun können, als mitten in der Nacht hier umher zu laufen? Das Taschenlicht auf den Zettel gerichtet, kam ich nur langsam voran; die Zeichnung & die dazugehörigen Worte waren alles andere als eindeutig. Mögliche Mißverständnisse schienen absichtlich eingebaut, sollten in die Irre führen. Das reizte meine Neugier nur noch mehr. Wie lange ich schon unterwegs war, keine Ahnung; ich habe nie eine Uhr bei mir. Dort, wo man manchmal wissen muss, wie spät es ist, gibt es immer jemanden, der es einem sagen kann; an allen anderen Orten muss man es nicht wissen.
Irgendwann also. Irgendwann stand ich vor dem gewaltigen Baum. Das musste er sein. Dicker als alle andern. Im Lichtfleck der Taschenlampe wirkte seine Oberfläche krank. Pilze umstanden ihn wie kleine Schachfiguren. Den Mond wehrte er ab. Man musste etwas Bestimmtes tun; es stand auf dem Zettel.
[…]
Warmes Licht strahlte blaß durch die schmale mannshohe Öffnung des Baumes. Es kam von unten. Rötlich-orange, ein Rechteck, schwach auf den Waldboden reflektiert. Fast blendend nach all der Dunkelheit. Ich trat näher. Schaute durch die Öffnung. Eine steile Treppe mit Geländer führte hinab zu einem Holzfußboden. Essensduft stieg nach oben. Wie eine Kindheitserinnerung.
Ich bin recht dünn. Zwängte mich seitlich durch den Spalt. Leicht nach hinten geneigt, Hand am Geländer, Stufe um Stufe hinab. Viele Stufen, viele Meter. Hinter mir schloss sich der Baum, knarrend. Der beengte Abstieg endete …..
….. endete in einem großen Gewölbe voll feurigem Licht; Kerzen & Kamine leuchteten. Alles war mit dunklem Holz ausgeschlagen. Möbel aus dunklem Holz. Asymetrisch angeordnet; keine rechten Winkel. Wärme, Hitze. Schatten wie Scherenschnitte. Leuchtende Schleier aus Tabakqualm. Und überall Bücher & Zettel. Papierene Welten. Bleistifte. Staub & Spinnennetze.
Die junge Frau stand mit dem Rücken zu mir an einem altertümlichen Herd. Rührte. Lange schwarze Haare. Schlank. Sie trug einen dunklen Pullover, der ihre Oberschenkel zu einem Drittel bedeckte. Sonst nichts. Barfuß. Ich blieb an der Treppe stehen.
Sie wandte ihren Kopf, blickte mich über die Schulter hinweg an. Zögerliches Lächeln.
„Hey“, sagte sie.
„Hey“, sagte ich.
„Wieder mal einer, der den Weg gefunden hat.“
Traurige Augen. Die sie dann wieder auf den Topf richtete.
„Ja, ich habe die Karte gefunden“, sagte ich.
„Gefunden?“ (Ihre Stimme!)
„Mehr oder weniger.“
„Wenn du sie gefunden hättest, wärst du nicht hier.“
Weg von der Treppe, ein paar Schritte wenigstens. Ich sah, was die Flammen mit ihren Schenkeln machten.
„Wieso?“ fragte ich ihren Hinterkopf.
„Nur wer sie stiehlt, findet hierher. Und das waren bisher nicht viele.“
„Tja, Scheisse, ich bin ein verfickter Dieb, ich gebe es zu.“
„Genet“, sagte sie.
„Genau. Genet.“
„Setz dich.“
Sitzgelegenheiten noch & noch. Ich legte Lampe & Zettel auf den nächstbesten Tisch & wählte ein Sofa, zu dem ein Grammophon gepasst hätte; eine Kissen-Oase.
Sie drehte sich herum. „So, Köcheln ist angesagt.“ Es war ein Rollkragenpullover. Grobe Maschen. „Was zu trinken?“
„Alles, was die 40%-Hürde schafft, ist willkommen.“
„Absinth“, sagte sie.
„Grün wie die Hoffnung“, sagte ich.
Verdammt, da stand ja tatsächlich ein Grammophon. Vor einem Regal mit ausgestopften Vögeln; ganz oben ein starrender Uhu.
Sie tappste zu einer Kommode voller Flaschen & Gläser.. Reflexionen. Zuckerwürfel, die sie in Brand setzte; Zischen & Rühren & Löschen mit Wasser.
Dann trat sie mir nah. Beine, Pullover, Schatten unter den Augen. Sie reichte mir das Glas. Fingerspitzen, die sich berührten.
Sie setzte sich zu mir.
„Was gibt’s zu essen?“ fragte ich.
„Hackbraten mit Pilzen. Als Nachtisch Feigenkompott.“
Falscher Hase, dachte ich, Alice im Wunderland …. Wo ist der echte Hase? Wo die Uhr?
Es gab eine Standuhr, aber die zeigte eine Zeit an, die nicht stimmen konnte. Das Pendel bewegte sich; lautlos. Lautlos?
Ihre Schenkel so nah. Angewinkelt. Haut, so blass. So glatt. Duft.
Wir nippten gleichzeitig getrübten Anis.
„Verrückt“, sagte ich.
„Verrückt“, sagte sie. Bei ihr klang es so anders. Ein Wort, das man streicheln musste. Ihre Nase war eine Sprungschanze, ihr Mund das Kissen für die Landung. Sommersprossen. Kerzenflämmchen tanzten in ihren Pupillen.
„Was mach ich hier eigentlich?“ sagte ich.
„Tja, was? Vielleicht – mich retten?“
„Wovor?“
„Vor all dem.“ Eine ausladende Geste.
„Ich finde es sehr schön hier.“
„Nur wenn man es zum ersten Mal sieht. Für mich ist es der Schädel eines Wahnsinnigen, in dem ich lebe.“
„Wieso lebst Du dann hier?“
Sie nahm einen großen Schluck.
„Lass uns über was anderes reden“, sagte sie.
„Wie du willst.“
Ich stellte mein Glas auf einen Tisch voller Bücher. Zwischen Joyce, Proust & Huysmans.
„Du hast ein Grammophon.“
Sie lächelte. Eine winzige Zahnlücke zwischen ihren oberen Schneidezähnen.
„Ja, manchmal lege ich eine uralte Platte auf & tanze dazu. Nachts. Allein.“
„Das würde ich gerne sehen.“
„Du spinnst.“
„Nur manchmal“, sagte ich. „Bist du denn immer allein?“
„Ja, immer. Ich weiß nicht mal, wo das Essen herkommt. Oder alles andere, was man so braucht. Es ist einfach da.“
Sie kippte den milchigen Rest & stellte das Glas neben meins.
„Ich habe längst aufgehört, mir Fragen zu stellen“, sagte sie, „oder nach der Realität in all dem hier zu suchen. Logik ist mir scheissegal inzwischen. Es gibt sie nicht. Nicht hier. Die meiste Zeit bin ich ohnehin verwirrt.“
„Aber du schreibst.“
„Ja, ich schreibe. Was soll ich auch sonst tun?“
Sie rückte etwas näher. Ihr Knie berührte mich. Leicht.
(Schwere in meinem Schwanz.
Schnell, so schnell. Vielleicht. Aber auch die Zeit hatte hier etwas Seltsames, Unbekanntes. Eine Mixtur aus -Raffer & -Lupe.)
„Ich bin so einsam“, flüsterte sie.
„Ich auch“, flüsterte ich.
„Aber nicht so.“
Die Flämmchen glitzerten näher.
„Wie heißt du?“, fragte ich.
„Das ist unwichtig“, atmete sie in mein Gesicht. „Und du?“
„Das ist noch unwichtiger.“
Sie legte ihr Bein über meine Oberschenkel. Weich.
Dann: Hände … Haut … Lippen … Zungen … Gerüche … Nässe zwischen ihren Beinen … Glitschige Finger …
Sie erhob sich vom Sofa. Durchquerte den Raum. Hinüber zu dem großen schweren Bett zwischen roten Lampenschirmen. Im Gehen zog sie den Pullover über ihren Kopf. Mein Schwanz beobachtete sie. Die schwarzen Haare, die über den hellen Rücken fielen. Ihren Arsch, wie sie ins Bett kletterte. Jede Schwingung. Ihre Fußsohlen. Feuerlicht auf ihrer Haut. Sie legte sich auf die Decke, bäuchlings, mir zugewandt. Augen. Blick. Blick. Augen. Ich ging zu ihr.
Die Zeit …. Seltsam … Unbekannt … 2 Einsamkeiten, die sich ficken … Sehnsüchte … Etwas Vergessenes, das wieder einfällt & in ein anderes Vergessen führt … Saufen, was aus Körpern dringt … Schläge in & außer Takt … Schreie … Worte … peitschende Beschimpfungen … Atem & Atemlosigkeit … schwitzende Fantasien … Schmerzen … Tränen Sperma Fotzensaft … zitternde Suche … ziellose Gier …
Schwitzend auf dem Bett. Sie drehte sich eine Zigarette; schnell, geschickt. Spitzzunge. Das Zipp-Clock! eines Zippos. Sie inhalierte tief.
„Das Essen kannste wohl wegschmeissen“, sagte ich.
„Nö, das geht schon noch, irgendwie. Ausserdem hab ich einen Mordshunger.“
Die meisten Kerzen waren erloschen. Kamingeflacker. Sie blies Rauchringe ins Licht der Nachttischlampen. Wir drückten unsere nassen Häute aneinander.
„Wie bist du hierher gekommen?“ fragte ich.
„Genauso wie du. Ich hab einen Zettel geklaut. Ist Jahre her.“
„Wieviele von diesen Zetteln mag es wohl geben? Oder ist es immer derselbe?“
„Nein“, sagte sie, „allein hier unten liegen bereits 16 Stück.“
„Hmm. – Und, lebte damals jemand hier?“
„Ja, es lebt immer jemand hier. Damals war’s ein etwas seltsamer älterer Mann. Ich glaube, die meisten Bücher hier sind von ihm. Bin mir aber nicht sicher.“
„Hast du ihn auch gefickt?“
„Ja.“
„Und er hat dich allein gelassen?“
„Auf Dauer kann immer nur einer hier leben“ sagte sie. „Das ist einfach so.“
Ich streichelte ihren Oberschenkel.
„Wieso, was passiert denn sonst?“
„Einer von beiden verändert sich. Nach einiger Zeit. Es ist wie eine Art Krankheit.“
„Krankheit?“
„Ja. Einfach widerlich. Ich will da nicht drüber reden.“
„Okay“, sagte ich, „aber warum ist dann er gegangen, und nicht du, wo du’s doch hier so grauenhaft findest?“
„Anfangs fand ich’s ja nicht grauenhaft. Außerdem war er schneller.“
„Versteh ich nicht.“
Sie lächelte. „Du musst ja auch nicht alles auf einmal verstehen. Das ist ein bisschen viel fürs erste.“
„Fuck“, sagte ich.
„Ja, genau, Fuck. Ich kümmer mich mal ums Essen.“
Mit der Zigarette im Mundwinkel stand sie auf. Ging zum Herd. Po-Swing! Blaßrötliche Landkarte meiner Schläge. Um die sie gebettelt hatte.
„Tja“, sagte sie, „Pilze zerkocht, Kartoffeln püreeähnlich, und das Gehackte ist sicher furztrocken.“
„Egal“, sagte ich.
„Genau, egal, der Hunger treibts rein. Kannst schon mal den Tisch decken; da drüben ist alles.“
Vorher ging sie noch pissen. Auch das Klo stand offen; es gab einfach keine Wände. Sie saß da & plätscherte, lächelte mich an, warf den Zigarettenstummel zwischen ihre Beine; Zisch. Sie wusch sich nicht die Hände anschließend; das gefiel mir.
Dann saßen wir nackt am Tisch. Teller & Töpfe zwischen Büchern; frische Kerzen. Die die Schatten unter ihren Augen beleuchteten.
„Wußt ich’s doch, dass es trotzdem super schmeckt“, sagte ich. „Eine Zauberkünstlerin der Gewürze.“
„Ich bins gar nicht mehr gewohnt, nicht allein zu essen. Irgendwie seltsam. Aber irgendwie auch schön.“
Titten sind mir nicht besonders wichtig, aber ihre gefielen mir. So als Garnierung des Essens.
Eine Spinne huschte über den Boden, als hätte sie eilige Geschäfte.
Sie finden nicht hierher. Sie finden nicht den Zettel. Sie würden den Zettel niemals stehlen, wenn sie ihn fänden. Sie hätten kein Interesse. Menschen, die funktionieren. Menschen, die mitten im Leben stehen; in einem Leben, das als normal bezeichnet wird. Menschen wie Zahnräder in einer Uhr. Ihre Zacken greifen ineinander, treiben die Zeit voran; sinnlos, leer. Zeitvertreib folgt auf Zeitvertreib. Bis dass der Tod sie scheidet ….. Sie ist kaputt, ich bin kaputt. Vergangenheiten, die uns die Zacken abgeschlagen haben. Fremdkörper in der Uhr. Schmerz, Neugier, Selbstzerstörung. Absonderung. Selbsthass & Egozentrik. Hungrig auf Alles & doch oft unfähig zu schlucken.
Tage? Oder Wochen?
Keine Ahnung. Ich verstand die Zeit nicht mehr. Und sie konnte mir die Zeit auch nicht erklären; sie wusste noch weniger darüber als ich. Und ihre Standuhr war verrückt.
Es lohnte sich nicht, Klamotten anzuziehen. Bett, Essen, Trinken; Trinken, Essen, Bett & Badewanne. Schaumblasen, die zwischen uns platzten. Nur hin & wieder zog sie etwas an, das mir besonders gefiel; etwas, das ihre Beine betonte. Ich lernte die kleine Narbe auf ihrer Zungenspitze kennen. Gespräche & Gespräche & Gespräche. Gegen das, was sie erlebt hatte, kam mir mein Leben nahezu geschmeidig vor. Es erklärte ihre Augen; es erklärte ihre Schatten. Es erklärte ihre Ängste. Ich las vieles von dem, was sie geschrieben hatte. In all diesen unterirdischen Jahren. Wenn es Jahre gewesen waren. Worte, die einen eigenen Ton hatten, einen eigenen Geruch, einen eigenen Puls. Und sie war so jung. Ich: 30 Jahre älter.
Wir tanzten zum Grammophon. Knisternde Orchestermusik; eine unbekannte Melodie. Die Hände auf dem Arsch des andern. Ab & zu gab die aufgezogene Feder einen aufschreckenden Knall von sich; manchmal zuckten wir leicht zusammen. Gekicher. Grinsen.
„Du machst mich so glücklich“, flüsterte sie.
Schweigen.
Tanzen.
Schweigen.
„Was meinst du, wann die Veränderungen einsetzen werden“, sagte ich.
„Ich weiss es nicht. Vielleicht schon bald. Und ich weiss auch nicht, wen es treffen wird.“
„Sieht man es?“
„Oh ja, man sieht es. Aber ich vermute, es verschwindet wieder, sobald man sich trennt.“
„Du bist nicht sicher?“
„Wie kann ich das?“, sagte sie. „Man sieht sich ja nicht mehr wieder.“
Wir tanzten. Die Nadel kratzte über die Schellackplatte. Mein Schwanz klemmte zwischen unseren Bäuchen.
„Ich fühle mich wie eine Irre“, sagte sie.
„Wie die Irre, in die ich geführt werden sollte“, sagte ich.
Wie oft wir diese Platte hörten …. Und immer kamen neue Kratzer hinzu.
Leben. Zeit. Abnutzung.
Schatten werden größer.
Spinnen werden schneller.
Essen wird nicht mehr zerkocht.
Wörter wechseln die Temperatur.
Und dann kauerte sie unter dem Bett. Nackt wie ein Tier. Geduckt wie ein Tier. Umschattet. Ich zitterte. Sie zitterte. Ihre Augen: Angst, die Angst machte. Verzweiflung, die verzweifeln ließ. Schmerz der Einsamkeit. (Mordgier im Hintergrund? Möglich.) Die Pupillen so weit, dass die Iris verschwunden war. Ihre Haut war zu einer Landkarte geworden; schwarze Linien, schwarze Flecken überall. Ihr Gesicht: eingefallen bis zur Hässlichkeit. Haare waren ihr büschelweise ausgefallen. Gesprungene Lippen.
Ich saß am Tisch & beobachtete sie. Nur wenige Kerzen brannten. Ich hatte mich angezogen. Es war alles schnell gegangen. Glaube ich. Die ersten Veränderungen noch beinahe unmerklich, zunächst in ihrem Wesen, dann auf ihrer Haut. Ich wußte, was es bedeutete; sie wußte es schon nicht mehr. Anfangs fickten wir noch, aber es war anders. Etwas seltsam Verbissenes war dabei. Andere Flammen tanzten in ihrem Blick …..
Wir starrten uns an. Hielten uns in Schach. So lange. So lange. Vielleicht. Schließlich schaute ich woanders hin. Sie sollte sich beruhigen. Schau ihr nicht in die Augen; sie ist Tier, sie ist Furcht.
Irgendwann. Sie kroch unter dem Bett hervor. Leise. Zaghaft. Ich schaute nicht hin; sah es nur am Rande. Sie lief zur Treppe, dumpf das Geräusch ihrer Füße. Vor der untersten Stufe blieb sie stehen, drehte sich zu mir herum. Sie atmete schwer. Grauen in der Schwärze ihres Blicks. Nackt, so nackt … und doch, ihre Haut tätowiert vom Schrecken. Kahle Stellen auf ihrem Schädel. Ich wandte mich von ihr ab, stand ganz langsam auf & ging hinüber zu dem Stuhl, auf dem ihr Pullover lag. Ich nahm ihn, er roch nach kaltem Rauch, drehte mich, noch langsamer, in ihre Richtung, und warf ihn ihr zu. Sie fing ihn; es war nur ein Reflex.
Dann rannte sie die Treppe hinauf, den Pullover in der einen, das Geländer in der andern Hand, ich hörte das Knarren des Baumes, rannte selber zur Treppe, schaute nach oben, sie zwängte sich durch die Öffnung, ihre Titten machten es ihr schwer, sie schaffte es, war draußen, blickte noch einmal durch die Öffnung, hinunter zu mir, es war Nacht, ihr Gesicht so dunkel.
Dann ….
Schloss sich der Baum.
Schreiben & Lesen. Lesen, was sie geschrieben hat. Schreiben, was sie niemals lesen wird. Ich versuche mir vorzustellen, wie sie lebt. Dort oben. Jetzt. Ich esse, trinke, existiere, schlafe, wichse, träume. Begreife nichts. Keine Verbindung zur Außenwelt. Innen. Welt. Ich langweile mich nicht, weil ich mich nicht langweilen kann. Sie lebt & erinnert sich an nichts. Vermute ich. Sie wird wieder schön sein, inzwischen. Ich hoffe es. Für sie.
Es ist merkwürdig mit dieser Treppe. Ich stehe manchmal vor der untersten Stufe, und ich kann meinen Fuß nicht darauf setzen; mein Bein bleibt unbeweglich, in dieser Richtung, wenn ich dort stehe. Fast noch merkwürdiger ist es, dass ich als junger Mensch – vielleicht so jung, wie sie es gerade ist – einmal eine Story geschrieben habe, die von einer Treppe handelte, die lediglich abwärts führte, von einer Treppe, die niemand hinaufgehen konnte. Als hätte ich es schon damals geahnt. Als hätte ich mein Leben schon im vorhinein überblickt.
Hin & wieder lasse ich das Grammophon laufen. Und wenn genug Absinth in mir ist, tanze ich dazu. Es gibt noch weitere Platten, aber ich höre immer nur die eine. Die kaum noch zu hören ist. Oftmals bleibt die Nadel hängen. Und ich tanze dennoch weiter.
Ich fühle mich nicht wie im Schädel eines Wahnsinnigen. Ich fühle mich wie in meinem eigenen Schädel. Aber vielleicht ist das ja das Gleiche.
Gibt es noch weitere Zettel? Irgendwo? Gibt es noch jemanden, der sie stehlen würde? Fast ist es mir egal. Nur zum Spaß mache ich gelegentlich den Stufentest. Im Grunde habe ich dort oben nichts zu suchen. Nicht mehr.
Ich habe dort oben nichts mehr zu suchen, weil ich dort oben nichts mehr verloren habe.
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Die Geschriebene
Der See blendete. Die Sonne: weißgoldenes Stanniol auf seiner Oberfläche. Frische Luft hatte ich schon lange nicht mehr geatmet. Die Bank war hart, fast hätte ich mir einen fetten Arsch gewünscht. Sitzen, Atmen, Schauen, Riechen, Hören … das sollte eigentlich reichen; Geschäftigkeit ist mir ein Gräuel. Es waren nicht allzu viele Menschen unterwegs. Sie hatten zu tun. Ich hatte zu leben. Unter Bäumen. Beobachtete die Ameisen, die zwischen den Lichtsplittern über den Gehweg krabbelten. Blätter überquerten. Entfernt sah ich eine spazierende Frau. Das erste Signal: ein sehr kurzer Rock. Das zweite Signal: lange dunkle Haare. (Nicht starren jetzt … auch mal in die andere Richtung gucken) Jemand ruderte über den See, lautlos. Ein Käfer landete auf meinem Hosenbein. (So, jetzt mal wieder, wie zufällig….) Sie näherte sich langsam. Ziellos, in Gedanken. Ziellosigkeit finde ich attraktiv, Gedanken finde ich attraktiv. Und je näher sie kam, desto jünger schien sie zu werden; normalerweise war das umgekehrt. (Den Käfer beobachten, wie er auf meinem Bein spazieren geht) Allmählich waren ihre Schritte zu hören. Flache Schuhe. Auf der andern Seite steuerte ein Mann mit Rollator eine Bank an. (Flache Schuhe zu kurzen Röcken, jawohl, Krieg dem HighHeels-Wahn!) Ich näherte meinen Zeigefinger dem Käfer. Zeit verging.
„Entschuldigung, können Sie mir sagen, wie spät es ist?“
Weg war der Käfer, ich schaute zu ihr auf.
„Ich hab selber keine Uhr“, sagte ich. (Wie? Kein Handy? Keine Uhr? in dem Alter? Gibt’s doch gar… na, vielleicht ist der Akku leer)
„Ist ja auch egal“, sagte sie & lächelte. „Ist der Platz noch frei?“
Ich nickte, sie setzte sich; ihre Handtasche zwischen uns.
(Nicht starren …. nackte glatte Beine … Sonnenlicht, leichte Bräune … flache Schuhe, geschlossen … Duft: frisch gewaschene Haare…. hoffentlich stinke ich nicht … nach Schnaps & kaltem Rauch)
Wie alt & hässlich mußte ich ihr erscheinen. Selbst meinem Badezimmerspiegel erschien ich so.
Sie sagte: „Hab den Vormittag frei, da dachte ich mir, bei dem schönen Wetter, lauf ich doch mal’n bißchen rum. Wird bestimmt heiß heute.“
Ich durchwühlte die verstaubte Gedächtnistruhe nach Small-Talk; irgendwo ganz unten mußte es noch etwas geben.
Wir schauten auf den See. Wenn ich sicher war, dass sie auf den See schaute, schaute ich auf ihre Beine. Der Ruderer näherte sich dem Ufer auf der andern Seite. Für meine Verhältnisse lief das Geplauder ganz gut.
Dann sagte sie unvermittelt: „Ich weiß, dass Ihr Vorname Wolf ist.“
Ich schaute sie an. „Woher?“
Sie wandte mir ihr Gesicht zu. „Wir kennen uns. Sie wissen auch, wie ich heiße.“
Ihre Augen: bekannt. Ihre Nase: bekannt. Ihr Mund: bekannt. – Und doch … das Gesicht: ich erkannte es nicht.
„Sagen Sie mir, wie ich heiße.“
Ich starrte sie an, jetzt durfte ich wohl starren, und ich überlegte krampfhaft.
„Äh…. im Moment …. also ehrlich gesagt…“
„Sagen Sie’s einfach. Sie wissen es.“ Es lächelte aus ihr.
Ich sagte, was mir als erstes in den Sinn kam. „Jenny?“
„Sehen Sie, ich hab doch gesagt, Sie wissen es.“
Ich bekam eine Gänsehaut. Ich wünschte mir den Käfer zurück. (Sonne in ihrem Haar … Lächelaugen … weiße Zähne … duftender Atem)
– – Jenny läuft durch den Sand … der bunteste Bikini in der Einsamkeit … Das Meer spielt Meer, die Haare wehen … Swing in allem … Salz & Rausch … ich stehle ihr den Sand von den Füßen bis sie giggelt … Sie krault den Hund zwischen den Ohren – –
„Wollen wir zu Ihnen nach Hause gehen“, fragte sie.
„Und dann?“ (Was für eine blöde Frage, du Idiot)
„Dann machen wir’s uns gemütlich. Legen uns ins Bett. Lecken uns stundenlang. Und dann quatschen wir die ganze Nacht. Wir lachen, wir riechen uns, wir trinken Sekt, Wein & Natur, und vielleicht hört die Nacht gar nicht mehr auf. Im Dunkeln kichern wir unter der Decke wie Kinder.“
Ich stand auf. Wahrscheinlich zertrat ich Ameisen dabei.
„Dann lass uns gehen“, sagte ich.
Wir gingen. Der Mann mit dem Rollator saß drei Bänke weiter & sah uns. Er schien auf ihre Beine zu starren. Es war nicht weit bis zu meiner Wohnung.
Wir betraten den Hausflur.
„Ist im ersten Stock“, sagte ich, „kein Aufzug.“
Sie lächelte. „Soll ich vorgehen?“
„Bitte.“
Als sie auf der 4. Stufe war, folgte ich ihr. Ich wußte, dass sie nichts unter dem Rock trug. Jetzt durfte ich wohl starren.
Ich schloß die Wohnungstür auf. Ließ Jenny vorgehen.
Als ich die Tür zumachte, war alles wie immer. Hier gab es keine Sonne. Ich ging rüber zum Schreibtisch. Verstreute Blätter. Beschrieben & unbeschrieben. Ich überflog ein paar Zeilen.
Wahrscheinlich würde ich wieder alles zerreißen. In den Zeilen stand – immer wieder – Jenny.
Die Wohnung war menschenleer.
Und ich wußte, ich würde mich betäuben müssen.
Ein Kommentar | Schlagwörter: Erotik, Kultur, Stories | Veröffentlicht inAlles, Stories
Gigi, oder die Maus auf dem Rennrad
Wäre der Sarg nicht vom Sockel gerutscht, Thomas hätte niemals die Maus auf Katjas Slip gesehen. Er hätte Katja nicht bemerkt und nie erfahren, in welche Gegend es sie mittlerweile verschlagen hatte. Sie wäre eine seiner Erinnerungen geblieben.
Es war heiß, die Tür zum Geschäft stand offen. Er hatte den Eingang gerade passiert, da krachte, da schepperte es im Innern, und eine Frauenstimme rief „Aua!“, rief „Scheiße!, rief „Verdammt!“
Sonnenlicht verspiegelte das Schaufenster, so dass er nicht hindurchsehen konnte. Er sah nur sich selber mit einem Kruzifix im Gesicht. Über seinem Kopf der Namenszug des Beerdigungsinstituts. Passanten im Hintergrund. Er ging die paar Schritte zurück. Drinnen flitterte Staub in der Luft. Die Frau saß, mit dem Rücken zum Eingang, auf dem Boden und schob gerade den Sargdeckel von ihrem linken Fuß herunter. Ihr kurzes Sommerkleid war etwas verrutscht. Thomas sah das graue Mäuschen auf ihrer rechten Pobacke; es saß auf einem Rennrad. Ganz kurz nur sah er das Bild; schon die nächste Bewegung der Schenkel ließ es wieder hinterm Blümchenmuster verschwinden.
„Ist der Knöchel noch ganz?“, fragte er, als er in die stickige Hitze des Ausstellungsraumes trat.
An der Schnelligkeit, mit der sie sich umwandte, erkannte er, dass er sie erschreckt hatte.
Er sagte: „Jetzt sind wir quitt, jeder ist durch den andern an den Rand des Herstillstands gebracht worden.“
Sie lächelte. „Peinlich, peinlich. Wird aber nur blaue Flecken geben.“
Sie hielt den Saum ihres Kleides fest und stand auf.
„Ist doch wirklich zu blöde“, sagte sie. „Ich muss beim Staubwischen über irgendwas gestolpert sein. – Nur dass es hier gar nichts gibt, worüber man stolpern kann.“ Sie sah ihm in die Augen, Selbstironie bewegte ihre linke Braue aufwärts. „Ein Geist muss mir ein Bein gestellt haben.“
„Ist der richtige Ort dafür“, sagte Thomas.
Sie lächelte. „Bitte nichts verraten – in diesem Aufzug habe ich im Verkaufsraum eigentlich nichts zu suchen.“
„Alles klar.“ (Warum war sie dann alleine…. hier….?)
Er beobachtete sie genau, während sie die Lackierung auf Kratzer untersuchte. Sie hockte sich hin (Lichtreflexe auf ihren Beinen), sie stand auf, sie ging um den Deckel herum, ging um den Sarg herum (Lichtreflexe auf ihren Armen, ihren Schultern); sie wischte mit einer Fingerspitze, die sie zuvor mit der Zunge befeuchtet hatte, über die ein oder andere kritische Stelle – – er beobachtete sie genau. Der Staublappen lag auf dem Boden.
Gemeinsam brachten sie den Deckel wieder an seinen Platz. Sie sagte: „Sie sind doch hoffentlich kein Kunde?“
„Im Moment noch nicht. Mich hat nur der Paukenschlag hergeführt.“
Ihre Augen funkelten. „Muss das bescheuert ausgesehen haben.“
„Ich hab’s leider nicht gesehen“, sagte er.
Sie lachte leise, kicherte. Keine Kratzer am Sarg.
Die funkelnden Augen … das Lachen … die makabre Umgebung … nicht lange, und sie schlossen sich in Thomas´ Vorstellung wie die Einzelteile eines Stromkreises zusammen …
Er zögerte.
Erst dachte er: Katie?
Dann sagte er es.
Auch Katjas Onkel hatte ein Beerdigungsinstitut gehabt. Vor einigen Jahren war er, wie Thomas jetzt erfuhr, sein eigener Kunde geworden. Das mochte am vielen Rotwein gelegen haben. Onkel Krause liebte große leere Rotweinflaschen, je größer, desto lieber. Er kaufte sie (solange sie noch voll waren), dann leerte er sie (in seine Kehle) und fügte sie seiner gewaltigen Sammlung hinzu, die sich in einem Schuppen hinter dem Haus befand; den Schuppen, der für nichts anderes mehr Platz bot, nannte er augenzwinkernd „mein Gehirn“. Er behauptete immer, die Flaschen mehr zu lieben als den Wein, und die Kinder, die oft rot wurden, wenn sie logen, waren sich nicht sicher, ob der Onkel log, denn dessen Gesicht war stets dunkelrot. Sonntags war er meist vollends benebelt. Da hatte er auch nichts dagegen, wenn die Kinder die beiden Ausstellungsräume mit den Särgen in ihr Spiel miteinbezogen. Tom bekam deshalb manchmal Albträume. In der Anfangszeit hätte er Katie niemals davon erzählt, aber irgendwann war ihre Freundschaft soweit, dass er es ihr gegenüber zugeben konnte, und ihre Freundschaft war soweit, dass Katie sich nicht über ihn lustig machte. Sie lachten nur miteinander.
Einmal aber wollte Tom sie vom Lachen abhalten. Sie spielten mit einigen anderen Kindern zusammen Verstecken, und obwohl es natürlich weder neu, noch besonders originell war, denn hier würde jeder doch zuerst suchen, hatten die beiden sich gemeinsam in einen Sarg gelegt. Es handelte sich um einen Sarg mit zweiteiligem Klappdeckel, so ließ er sich nicht allzu schwer öffnen und schließen. Sie liegen nebeneinander. Es ist derart eng darin, dass sie sich einfach umarmen müssen. sie atmen sich gegenseitig an, sie riechen sich gegenseitig (dem penetranten Geruch des neuen Sarges zum Trotz), und sie lauschen. Tom spürt, wie sein linker Arm einzuschlafen beginnt; er versucht ihn zu bewegen.
„Hey, was machst du?“ flüstert Katie. Er kann die Worte auf seiner Haut, auf seinem Gesicht spüren, warm und feucht.
„Mein Arm … der kribbelt.“
„Psst.“
Die andern kommen.
„Wetten, die sind hier“, sagt einer.
„Quatsch, so blöd sind die nicht“, meint ein anderer; er betont das wie ein schlechter Schauspieler.
Katie kichert, ganz leise. Aber Tom kommt es so laut vor, dass er ihr am liebsten die Hand auf den Mund legen würde. Den linken Arm kann er schon nicht mehr richtig bewegen, die rechte Hand ruht auf Katies Bauch, und dort will er sie auch lassen. Das Kichern dauert an. Sie hören, dass die da draußen sich an einem der anderen Särge zu schaffen machen.
„Still mal“, sagt der, der als erster gesprochen hat, „ich glaub, ich hab was gehört.“
Tom bewegt seinen Kopf nur ein bisschen vorwärts, stups!, ihre Nasen stoßen zusammen, dadurch scheint das Kichern noch lauter zu werden. Ihre Nasen sind klein und weich; etwas mehr Druck, und schon treffen sich ihre Lippen. Das Kichern bleibt.
Und dann wird es hell.
Ihm gefiel Katjas Wohnung. Auf einem Kaminsims ohne Kamin stand eine große leere Rotweinflasche.
„Die letzte Überlebende aus der berühmten Sammlung“, sagte Katja.
Gleich daneben ein abscheulicher Porzellanengel.
Thomas sagte: „Und Kitsch gehört dazu.“ – Das war einer von Krauses Standardsätzen gewesen: Kitsch gehört dazu, ohne Kitsch wär der Tod nur halb so schön – und das Leben erst recht.
Katja lachte. „Den hat er mir zum Geburtstag geschenkt, ich glaub, gleich nachdem ihr weggezogen wart.“
Das war kurz nach dem Versteckspiel gewesen.
Sie setzten sich einander gegenüber.
„Sieht man ihm gar nicht an. Das Alter, mein ich.“
„Klaus … mein Freund … sagt immer: Häßlichkeit ist zeitlos.“
Es kam Thomas lächerlich vor, dass die Worte mein Freund ihm einen kleinen Stich versetzten. Er grinste, denn sie hatte ja etwas Lustiges gesagt. Oder war es vielleicht gar nicht lustig? Egal. Sie schlug die Beine übereinander.
Hinter ihr stand die Tür zum Balkon offen. Selbst am Abend kühlte es sich kaum ab. Die Dämmerung lag rötlich über den Dächern. Thomas und Katja tranken Weißwein und erinnerten sich. Thomas erinnerte sich, dass er kurze Hosen getragen hatte, damals im Sarg, und sie hatte, wie heute, ein Sommerkleid angehabt. Und er dachte an ihre dünnen Beinchen, stets voller Kratzer und Schrammen. Und sie sprachen auch über andere Freunde aus jener Zeit; über die, die sie ebenfalls zufällig wiedergetroffen hatten im Laufe der vergangenen Jahre.
„Seltsam“, sagte Katja, „- aus den interessantesten Kindern werden oft die uninteressantesten Erwachsenen.“
„Na, ich weiß nicht – – kann sein.“
Katjas Augen funkelten. Es waren Katies Augen.
Sie hatte ihn nicht ganz so schnell wiedererkannt. Und sie waren sich auch nicht in die Arme gefallen. Sie hatten sich die Händ gereicht und über den Zufall gesprochen.
Sie nippte an ihrem Weißwein. Dann sagte sie:
„Pass auf, gleich sitzen wir hier wie zwei alte Leute: Oh, weißt du noch….“
„Ja klar, und ich mach auf Maurice Chevalier: Oh yes, I remember it well.“
Und ein bisschen war es so. Sie wußten es noch. Beide. Alles. Fast alles.
Und irgendwann fragte sich Thomas, ob die Erinnerung an ein Gefühl selbst schon so etwas wie ein Gefühl ist.
Oder war es Katja, die sich diese Frage stellte?
Wie auch immer, es gab keine eindeutige Antwort.
Es gab den Freund, der Häßlichkeit für zeitlos erklärt hatte. Thomas hoffte, dass er ihn nicht würde kennenlernen müssen, denn er mochte die Vorstellung nicht, dass ihm der Bursche (so nannte er ihn in Gedanken) hätte sympathisch sein können. Das lag wohl daran, dass er schon seit geraumer Zeit alleine war. Aus diesem Grunde auch war ihm die Vergangenheit wichtiger geworden als die Gegenwart, und so schlug er die Zeit tot mit dem Ausgraben lebendig verscharrter Erinnerungen.
Und irgendwann saßen Katja und Thomas nebeneinander auf der Couch. sie wurden entspannter. Prost, Onkel Krause!
„… da hätt ich mir fast in die … ich meine, dass hat mir ganz schön angst gemacht“, sagte sie. „… das Gebiss … und die Augen, die nicht richtig zugehen wollten, das war schon ganz schön gruselig, kann ich dir sagen, und ich dachte immer, gleich kommtse und holt mich, weil sie mich damals eben doch gesehen hat, in ihrem Garten, obwohl ich ja gar nichts davon gehabt habe, weil die Birnen ja doch alle hingefallen sind, und das Knie hab ich mir auch noch gestoßen, und damit hab ich immer versucht mich zu beruhigen, ich hab mir immer gesagt, das war doch Strafe genug, da brauchtse doch nicht mehr aufzustehen, um mich zu holen, da kannse doch ruhig tot bleiben …“
„Welches Knie war’s denn?“ fragte er.
„Das hier.“
„Mmh, ja, das war seltsam.“ (Sein Blick blieb auf ihren Knien.) „Aber mir ist auch was Seltsames passiert.“
„Ach ja?“ Sie zündete einige Kerzen an, die auf dem Tisch standen; der Weißwein begann zu leuchten.
„Ja. du wirst es nicht glauben. Ich mein, ich glaub’s ja selber kaum. Aber – ich hab mal ne Maus aufm Fahrrad gesehen.“
Funkel, funkel. Sie lehnte sich wieder zurück. Blicke stupsten aneinander.
„Hey, die kenn ich. Man könnte sogar sagen, dass wir alte Freunde sind.“
„Mensch, die Welt ist klein.“ Er trank einen Schluck. „Leider hab ich sie nur ganz kurz gesehen. wir sind uns ja auch nicht offiziell vorgestellt worden.“
„Tja, das ist Pech. So ist das halt. Wenn ich sie mal wieder sehe, werd ich sie von dir grüßen.“
Die erste Mücke war übern Balkon gekommen, Candlelight-Dinner auf schimmerndem Oberschenkel – denkste, Katja schnippte sie rechtzeitig weg.
„Ich mach lieber die Tür zu“, sagte sie. Die Flämmchen zuckten, als sie aufstand.
Vielleicht wär’s besser gewesen, wenn ich weitergegangen wäre. – Thomas dachte so, ich bin sicher.
Er beneidete mich.
Aber ich – – ich beneidete ihn. Denn in Wirklichkeit hatte ich gesagt:
Kitsch ist zeitlos.
Doch das hat Katja schon immer verwechselt.
* * * * *
(Geschrieben 1996)
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Joshua betrat seine Wohnung
Joshua betrat seine Wohnung. Sein Mantel war klamm von verschwundenem Schnee. Leise flüsterte er:
„Mutter?“
Seine Mutter war vor einem dreiviertel Jahr gestorben. Die verwaiste Katze näherte sich ihm & strich ihre Einsamkeit an seinen Beinen ab. Er bückte sich, und die Katze streichelte mit ihrem Kopf seine Handfläche.
Mißtrauisch betrachtete Joshua den Heizkörper neben dem Kopfende seines Bettes. Hinter Staubgebilden wohnte eine Spinne, schwarz & dick & ohne Menschenscheu.
„Eines Tages wirst du sie kriegen“, sagte er zu der Katze. Nie sprach er die Katze mit ihrem Namen an, denn ihren Namen hatte sie von seiner Mutter bekommen. Fast schon hatte er den Namen vergessen.
Nie geschah etwas in seiner Wohnung, und nie langweilte er sich in ihr. Die Langeweile wohnte woanders – in anderen Wohnungen – in fremden Menschen…
… in Menschen überhaupt – nur in den Menschen, ob fremd oder nicht …
… auch in ihm wohnte sie – erkennbar aber nur für die anderen; für ihn war seine eigene Langeweile unsichtbar. Was für ein Segen!
Er behielt den Mantel an & ging zu dem Tisch mit den Flaschen. Er schaltete die rotbeschirmte Lampe ein & bewunderte das Licht in den Flüssigkeiten.
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Der Spiegel im Keller – Ein Märchen
Einsam liegt das Haus am Hang.
Einsam lag sein Bewohner, Mitte 40, im Bett. Seit einer Stunde war sein Blick über die Zimmerdecke gewandert; jetzt erhob er sich mit leichtem Schwindelgefühl und stieg nackt in den Keller hinab.
In einem der Abstellräume lehnte, umgeben von einer großen Menge leerer Wein- & Schnapsflaschen, der Spiegel an der Wand. Es war der einzige Spiegel im ganzen Haus, ein messinggerahmtes Erbstück, knapp 2 Meter hoch – und auf Augenhöhe war das Glas spinnenförmig gesplittert. Der Mann trat, da er seine Brille auf dem Nachttisch gelassen hatte, nahe an den Spiegel heran und betrachtete die Bruchstücke seines Spiegelgesichtes. Er fühlte sich alt.
Schon in seiner Kindheit, als er in diesem Haus allein mit seiner Mutter lebte, hatte der Spiegel hier unten gestanden – damals noch intakt; damals noch nicht umgeben von Flaschen; damals noch nicht der einzige Spiegel im ganzen Hause. Als der Junge in die Pubertät kam, schlich er sich oftmals in diesen Raum, zog sich vor dem Spiegel aus und lebte in seiner aufgepeitschten Fantasie.
Als er 17 war, traf er auf einem Spaziergang ein Mädchen, das ein Jahr älter war als er. Er verliebte sich. Er nahm das Mädchen mit nach Hause und schließlich zog es bei ihnen ein. Auch das Mädchen verliebte sich.
Wenn seine Mutter zur Arbeit ging, begaben er und das Mädchen sich in den Keller. Sie zogen sich vor dem Spiegel aus und betrachteten sich darin. Dann spielten sie. Miteinander; aneinander; ineinander. Sie liebten sich.
Die Mutter aber wurde eifersüchtig. Sie begann das Mädchen zu hassen. Und mit der ganzen Finesse ihres neurotischen Egoismus verleidete sie dem Mädchen seine Anwesenheit in diesem Hause und damit auch alsbald die Liebe zu ihrem Sohn.
Eines Tages, die Mutter war abwesend, standen er und das Mädchen wieder nackt vor dem Spiegel. Sie sagte ihm, dass sie es nicht länger aushalte, dass sie gehen werde. Er flehte sie an zu bleiben, er sprach von ihrem Glück, von ihrer Liebe, von ihrer Zukunft. Er weinte. Da weinte auch sie; doch er konnte sie nicht umstimmen. Sie zog sich an, packte ihre Sachen zusammen und ging. Er wußte, dass sie stärker war als er. Er ging ihr nicht nach. Er lief, immer noch nackt, in den Keller. Sein Spiegelbild weinte, kaum konnte er es erkennen. Er schlug mit dem Kopf dagegen, die Glasfläche splitterte spinnenförmig; Blut lief aus einer Platzwunde.
Er wurde sehr still.
Er blieb still.
Oftmals ging er spazieren. Dort, wo er das Mädchen getroffen hatte. Er traf sie nicht wieder.
Als er einige Monate später von einem dieser Spaziergänge heimkehrte, bemerkte er aus einiger Entfernung vom Hause, dass dieses unscharf geworden war. Es war, als habe es sich von ihm zurückgezogen; Details, die er zuvor deutlich hatte erkennen können, verschwammen in seiner Wahrnehmung.
Dann bemerkte er, dass sich dieses Phänomen nicht nur auf das Haus bezog. Alles wich von ihm zurück. Alles wurde unscharf. Damals bekam er seine erste Brille.
Und so wie sich die Welt vor ihm zurückgezogen hatte, zog er sich vor der Welt zurück. Er lebte weiterhin mit seiner Mutter in dem Haus. Er sprach am Tag keine 5 Worte mit ihr.
Jahre vergingen. Jahrzehnte vergingen. Die Mutter wurde alt, sie wurde krank. Parkinson. Er sorgte für sie, lustlos, genervt, oft aufbrausend. Er rächte sich, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Er hasste es, in die Stadt zu gehen, um einzukaufen, weil er dabei unter Menschen musste. An einem dieser Tage, es war ein grellsonniger Sommertag, stand er vor dem Schaufenster einer Buchhandlung und hatte das Gefühl, dass irgend etwas anders war als sonst – irgend etwas stimmte nicht. Er konnte es sich zunächst nicht erklären. Er schaute sich die Bücher an, ging ein Stück weiter… Da begriff er.
Er spiegelte sich nicht in dem Schaufenster. Er sah die Spiegelungen der Passanten, die hinter ihm vorbeigingen – aber er konnte sich nicht sehen.
Sein Herz begann spürbar zu pochen. Er schaute sich um. Er ging weiter – zu anderen Schaufenstern. Dasselbe! – Hastig betrat er eine Kneipe; fragte nach der Toilette. Man wies ihm den Weg. Er ging hinein, blickte in den Spiegel über dem Waschbecken. Nichts. Er konnte sich nicht sehen. Hinter ihm rauschte eine Spülung. Im Spiegel sah er, wie ein alter Mann aus einer der Kabinen trat. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. Der alte Mann ließ keinerlei Überraschung erkennen; offenbar konnte dieser ihn im Spiegel sehen.
Er eilte nach Hause. Er eilte ins Bad. Er blickte in den Spiegel über dem Waschbecken.
Er konnte sich nicht sehen.
Er ging in den Keller, ging in den Abstellraum. Er blickte in den spinnenförmig gesplitterten Spiegel…
Er sah sich. Nichts war anders als sonst. Sein Herz klopfte immer noch heftig. Aber er konnte sich sehen.
Irgendwann hatte er sich daran gewöhnt. Es blieb so. Der Spiegel im Keller war der einzige, in dem er sich sehen konnte. Er sagte niemandem etwas davon, er erzählte es nicht seiner Mutter. Seine Mutter siechte dahin. Es hatte keinen Sinn ihr etwas zu sagen. Sie bemerkte nicht, dass er zum Rasieren in den Keller ging. Sie bemerkte nicht, dass er heftig zu trinken begann.
Er öffnete die Schnapsflaschen als erwarte er, Gesellschaft darin zu finden; eine herausschießende Rauchsäule, die zu einem weiblichen Dschinn würde – ein Dschinn mit dem Gesicht des Mädchens. Flasche um Flasche öffnete er so; und die leeren Flaschen sammelte er im Spiegelzimmer.
Dann starb seine Mutter.
Er trauerte – kurz & aufrichtig.
Es ging ihm besser.
Er erbte das Haus und etwas Geld. Er erbte den Spiegel.
Alle anderen Spiegel entfernte er aus dem Haus; all diese Spiegel, die alles zeigten, nur ihn nicht.
Endlich war er allein in dem Haus. Das Rollen der Gehhilfe; der trippelnde, schlurfende Gang; das Poltern der Stürze; das Scheppern fallender Gegenstände; die Hilferufe – all das war verstummt. Endlich.
Er fühlte sich befreit. Er konnte im Bett liegen bleiben, er konnte trinken, er brauchte sich nicht anzuziehen; er entfernte sämtliche Zimmertüren aus dem Haus. Nachts ging er nackt im Haus spazieren, von einem Raum zum andern; wenn er zufällig in der Küche war und pissen musste, tat er es dort – er pisste in die Spüle, ob sich Geschirr darin befand oder nicht; nichts kümmerte ihn.
Das Grab seiner Mutter besuchte er niemals.
Oft ging er in den Keller und betrachtete sich im Spiegel; die Splitterspinne in seinem Gesicht. Die leeren Flaschen erfüllten den Raum mit ihrem Glanz; wenn sie staubig & stumpf wurden, polierte er sie. Er hatte Zeit.
Er genoß das Alleinsein. Doch wenn er eine neue Flasche öffnete, dachte er an den Dschinn, der nicht kam. Der Dschinn mit dem Gesicht des Mädchens. Und er spritzte sein Sperma auf den Spiegel.
Manchmal öffnete er die Haustür, wenn jemand klingelte; meistens aber blieb er liegen und wurde wütend auf den Unsichtbaren, der es wagte, ihn derart zu belästigen. Es waren nur Fremde, die Unwichtiges wollten; Besuch bekam er nicht.
Etwas Lebendiges neben sich selbst konnte er nicht mehr ertragen. Jede Spinne, jede Maus, jede Fliege löste sogleich eine Panik in ihm aus und wurde getötet.
Eines Morgens, als er die Haustür öffnete – hatte es geklingelt?, er wußte es nicht -, stand das Mädchen vor ihm, das kein Mädchen mehr war. Er war betrunken. Er erkannte es sofort. Das Mädchen, das kein Mädchen mehr war, reichte ihm die Hand. Er drückte sie leicht.
Das Mädchen … die Frau war stark gealtert. So wie er. Sie hatte Krebs gehabt. Hatte ihn wohl überstanden. Er wollte nichts davon hören.
Irgendwann nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn in den Keller hinab. Er wollte nicht mit ihr in den Keller, aber er war zu gleichgültig, um Widerstand zu leisten. Sie führte ihn ins Spiegelzimmer. Zu den Flaschen, aus denen nichts als Rausch gekommen war. Aber nun war sie ja da. Er nahm seine Brille ab; die Frau wurde dem Mädchen ähnlicher.
Als sie vor den Spiegel traten, konnte er sie nicht sehen. Es überraschte ihn kaum.
Sie zog ihn aus. Sie zog sich aus. Ihre Brüste waren so schlaff wie sein Bauch. Irgendwo dort zwischen ihren Beinen war der Krebs gewesen. Sie war nicht mehr dieselbe. Er blickte in den Spiegel, in die Splitterspinne – er war nicht mehr derselbe. Und es war ihm egal. Er legte sich auf den Boden, zwischen die Flaschen. Die Flaschen glänzten.
Die Frau ging zum Spiegel, und ohne sich darin zu spiegeln, löste sie einen der größeren Splitter aus der Glasfläche.
Es war angenehm, auf dem Boden zu liegen und ihr zuzuschauen. Nackt und lächelnd kam sie auf ihn zu, und sie kniete sich neben ihn mit dem Splitter in der Hand. Er konnte seine kurzsichtigen Augen darin erkennen.
Sie lächelte ihn an.
Einsam liegt das Haus.
* * *
(Geschrieben 2007)
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Hab´ niemandem nie nichts nachgemacht
Und - lachte noch jeden Meister aus,
Der nicht sich selber ausgelacht."(Friedrich Nietzsche)
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„Meine kleinen Gedichte Kommen wie kleine Blumen mir vor, Lauter winzige Wichte, Aber zusammen doch ein Flor, Und hervor Aus dem Chor Blicken Vergißmeinichte.“ (Friedrich Rückert)