Monatsarchiv: März 2011

Joshua betrat seine Wohnung

Joshua betrat seine Wohnung. Sein Mantel war klamm von verschwundenem Schnee. Leise flüsterte er:
„Mutter?“
Seine Mutter war vor einem dreiviertel Jahr gestorben. Die verwaiste Katze näherte sich ihm & strich ihre Einsamkeit an seinen Beinen ab. Er bückte sich, und die Katze streichelte mit ihrem Kopf seine Handfläche.
Mißtrauisch betrachtete Joshua den Heizkörper neben dem Kopfende seines Bettes. Hinter Staubgebilden wohnte eine Spinne, schwarz & dick & ohne Menschenscheu.
„Eines Tages wirst du sie kriegen“, sagte er zu der Katze. Nie sprach er die Katze mit ihrem Namen an, denn ihren Namen hatte sie von seiner Mutter bekommen. Fast schon hatte er den Namen vergessen.
Nie geschah etwas in seiner Wohnung, und nie langweilte er sich in ihr. Die Langeweile wohnte woanders – in anderen Wohnungen – in fremden Menschen…
… in Menschen überhaupt – nur in den Menschen, ob fremd oder nicht …
… auch in ihm wohnte sie – erkennbar aber nur für die anderen; für ihn war seine eigene Langeweile unsichtbar. Was für ein Segen!
Er behielt den Mantel an & ging zu dem Tisch mit den Flaschen. Er schaltete die rotbeschirmte Lampe ein & bewunderte das Licht in den Flüssigkeiten.


Vielleicht

 

 

Lächelaugen, laternenhell, laternenschön.
20jähriges Licht – und ich erinnere mich
im Sommer ihre Zehen gesehen zu haben,
tastend in Sandalen,
träumend von besonnten Sandkörnern,
von salzigem Nachtrauschen;
mondbleiche Nagelbetten, in denen
ich träume…..

 
schlafe, schlafe…
Ja – wäre mein Hunger bloß doppelt so alt wie
deine Zunge, die so nett zu mir ist….
nett –
nett wie die Hinterbliebenen am Grab des Vergessenen,
ich würde Dir
– vielleicht –
glauben – und
lächeln.


…angetrunken tastatourennt

Der Griff ins Leere
… nach Halt
Der Schrei
…hallt nach
Das Fallen
…aus der Einsamkeit
in die Einsamkeit…
All, Tod

…alle die da fallen
Der Zufall, die Geburt
…der Fall in den Tod
aus der Einsamkeit
…der Schrei

verstummt


Der Spiegel im Keller – Ein Märchen

Einsam liegt das Haus am Hang.
Einsam lag sein Bewohner, Mitte 40, im Bett. Seit einer Stunde war sein Blick über die Zimmerdecke gewandert; jetzt erhob er sich mit leichtem Schwindelgefühl und stieg nackt in den Keller hinab.
In einem der Abstellräume lehnte, umgeben von einer großen Menge leerer Wein- & Schnapsflaschen, der Spiegel an der Wand. Es war der einzige Spiegel im ganzen Haus, ein messinggerahmtes Erbstück, knapp 2 Meter hoch – und auf Augenhöhe war das Glas spinnenförmig gesplittert. Der Mann trat, da er seine Brille auf dem Nachttisch gelassen hatte, nahe an den Spiegel heran und betrachtete die Bruchstücke seines Spiegelgesichtes. Er fühlte sich alt.
Schon in seiner Kindheit, als er in diesem Haus allein mit seiner Mutter lebte, hatte der Spiegel hier unten gestanden – damals noch intakt; damals noch nicht umgeben von Flaschen; damals noch nicht der einzige Spiegel im ganzen Hause. Als der Junge in die Pubertät kam, schlich er sich oftmals in diesen Raum, zog sich vor dem Spiegel aus und lebte in seiner aufgepeitschten Fantasie.
Als er 17 war, traf er auf einem Spaziergang ein Mädchen, das ein Jahr älter war als er. Er verliebte sich. Er nahm das Mädchen mit nach Hause und schließlich zog es bei ihnen ein. Auch das Mädchen verliebte sich.
Wenn seine Mutter zur Arbeit ging, begaben er und das Mädchen sich in den Keller. Sie zogen sich vor dem Spiegel aus und betrachteten sich darin. Dann spielten sie. Miteinander; aneinander; ineinander. Sie liebten sich.
Die Mutter aber wurde eifersüchtig. Sie begann das Mädchen zu hassen. Und mit der ganzen Finesse ihres neurotischen Egoismus verleidete sie dem Mädchen seine Anwesenheit in diesem Hause und damit auch alsbald die Liebe zu ihrem Sohn.
Eines Tages, die Mutter war abwesend, standen er und das Mädchen wieder nackt vor dem Spiegel. Sie sagte ihm, dass sie es nicht länger aushalte, dass sie gehen werde. Er flehte sie an zu bleiben, er sprach von ihrem Glück, von ihrer Liebe, von ihrer Zukunft. Er weinte. Da weinte auch sie; doch er konnte sie nicht umstimmen. Sie zog sich an, packte ihre Sachen zusammen und ging. Er wußte, dass sie stärker war als er. Er ging ihr nicht nach. Er lief, immer noch nackt, in den Keller. Sein Spiegelbild weinte, kaum konnte er es erkennen. Er schlug mit dem Kopf dagegen, die Glasfläche splitterte spinnenförmig; Blut lief aus einer Platzwunde.
Er wurde sehr still.
Er blieb still.
Oftmals ging er spazieren. Dort, wo er das Mädchen getroffen hatte. Er traf sie nicht wieder.
Als er einige Monate später von einem dieser Spaziergänge heimkehrte, bemerkte er aus einiger Entfernung vom Hause, dass dieses unscharf geworden war. Es war, als habe es sich von ihm zurückgezogen; Details, die er zuvor deutlich hatte erkennen können, verschwammen in seiner Wahrnehmung.
Dann bemerkte er, dass sich dieses Phänomen nicht nur auf das Haus bezog. Alles wich von ihm zurück. Alles wurde unscharf. Damals bekam er seine erste Brille.
Und so wie sich die Welt vor ihm zurückgezogen hatte, zog er sich vor der Welt zurück. Er lebte weiterhin mit seiner Mutter in dem Haus. Er sprach am Tag keine 5 Worte mit ihr.
Jahre vergingen. Jahrzehnte vergingen. Die Mutter wurde alt, sie wurde krank. Parkinson. Er sorgte für sie, lustlos, genervt, oft aufbrausend. Er rächte sich, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Er hasste es, in die Stadt zu gehen, um einzukaufen, weil er dabei unter Menschen musste. An einem dieser Tage, es war ein grellsonniger Sommertag, stand er vor dem Schaufenster einer Buchhandlung und hatte das Gefühl, dass irgend etwas anders war als sonst – irgend etwas stimmte nicht. Er konnte es sich zunächst nicht erklären. Er schaute sich die Bücher an, ging ein Stück weiter… Da begriff er.
Er spiegelte sich nicht in dem Schaufenster. Er sah die Spiegelungen der Passanten, die hinter ihm vorbeigingen – aber er konnte sich nicht sehen.
Sein Herz begann spürbar zu pochen. Er schaute sich um. Er ging weiter – zu anderen Schaufenstern. Dasselbe! – Hastig betrat er eine Kneipe; fragte nach der Toilette. Man wies ihm den Weg. Er ging hinein, blickte in den Spiegel über dem Waschbecken. Nichts. Er konnte sich nicht sehen. Hinter ihm rauschte eine Spülung. Im Spiegel sah er, wie ein alter Mann aus einer der Kabinen trat. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. Der alte Mann ließ keinerlei Überraschung erkennen; offenbar konnte dieser ihn im Spiegel sehen.
Er eilte nach Hause. Er eilte ins Bad. Er blickte in den Spiegel über dem Waschbecken.
Er konnte sich nicht sehen.
Er ging in den Keller, ging in den Abstellraum. Er blickte in den spinnenförmig gesplitterten Spiegel…
Er sah sich. Nichts war anders als sonst. Sein Herz klopfte immer noch heftig. Aber er konnte sich sehen.
Irgendwann hatte er sich daran gewöhnt. Es blieb so. Der Spiegel im Keller war der einzige, in dem er sich sehen konnte. Er sagte niemandem etwas davon, er erzählte es nicht seiner Mutter. Seine Mutter siechte dahin. Es hatte keinen Sinn ihr etwas zu sagen. Sie bemerkte nicht, dass er zum Rasieren in den Keller ging. Sie bemerkte nicht, dass er heftig zu trinken begann.
Er öffnete die Schnapsflaschen als erwarte er, Gesellschaft darin zu finden; eine herausschießende Rauchsäule, die zu einem weiblichen Dschinn würde – ein Dschinn mit dem Gesicht des Mädchens. Flasche um Flasche öffnete er so; und die leeren Flaschen sammelte er im Spiegelzimmer.
Dann starb seine Mutter.
Er trauerte – kurz & aufrichtig.
Es ging ihm besser.
Er erbte das Haus und etwas Geld. Er erbte den Spiegel.
Alle anderen Spiegel entfernte er aus dem Haus; all diese Spiegel, die alles zeigten, nur ihn nicht.
Endlich war er allein in dem Haus. Das Rollen der Gehhilfe; der trippelnde, schlurfende Gang; das Poltern der Stürze; das Scheppern fallender Gegenstände; die Hilferufe – all das war verstummt. Endlich.
Er fühlte sich befreit. Er konnte im Bett liegen bleiben, er konnte trinken, er brauchte sich nicht anzuziehen; er entfernte sämtliche Zimmertüren aus dem Haus. Nachts ging er nackt im Haus spazieren, von einem Raum zum andern; wenn er zufällig in der Küche war und pissen musste, tat er es dort – er pisste in die Spüle, ob sich Geschirr darin befand oder nicht; nichts kümmerte ihn.
Das Grab seiner Mutter besuchte er niemals.
Oft ging er in den Keller und betrachtete sich im Spiegel; die Splitterspinne in seinem Gesicht. Die leeren Flaschen erfüllten den Raum mit ihrem Glanz; wenn sie staubig & stumpf wurden, polierte er sie. Er hatte Zeit.
Er genoß das Alleinsein. Doch wenn er eine neue Flasche öffnete, dachte er an den Dschinn, der nicht kam. Der Dschinn mit dem Gesicht des Mädchens. Und er spritzte sein Sperma auf den Spiegel.
Manchmal öffnete er die Haustür, wenn jemand klingelte; meistens aber blieb er liegen und wurde wütend auf den Unsichtbaren, der es wagte, ihn derart zu belästigen. Es waren nur Fremde, die Unwichtiges wollten; Besuch bekam er nicht.
Etwas Lebendiges neben sich selbst konnte er nicht mehr ertragen. Jede Spinne, jede Maus, jede Fliege löste sogleich eine Panik in ihm aus und wurde getötet.
Eines Morgens, als er die Haustür öffnete – hatte es geklingelt?, er wußte es nicht -, stand das Mädchen vor ihm, das kein Mädchen mehr war. Er war betrunken. Er erkannte es sofort. Das Mädchen, das kein Mädchen mehr war, reichte ihm die Hand. Er drückte sie leicht.
Das Mädchen … die Frau war stark gealtert. So wie er. Sie hatte Krebs gehabt. Hatte ihn wohl überstanden. Er wollte nichts davon hören.
Irgendwann nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn in den Keller hinab. Er wollte nicht mit ihr in den Keller, aber er war zu gleichgültig, um Widerstand zu leisten. Sie führte ihn ins Spiegelzimmer. Zu den Flaschen, aus denen nichts als Rausch gekommen war. Aber nun war sie ja da. Er nahm seine Brille ab; die Frau wurde dem Mädchen ähnlicher.
Als sie vor den Spiegel traten, konnte er sie nicht sehen. Es überraschte ihn kaum.
Sie zog ihn aus. Sie zog sich aus. Ihre Brüste waren so schlaff wie sein Bauch. Irgendwo dort zwischen ihren Beinen war der Krebs gewesen. Sie war nicht mehr dieselbe. Er blickte in den Spiegel, in die Splitterspinne – er war nicht mehr derselbe. Und es war ihm egal. Er legte sich auf den Boden, zwischen die Flaschen. Die Flaschen glänzten.
Die Frau ging zum Spiegel, und ohne sich darin zu spiegeln, löste sie einen der größeren Splitter aus der Glasfläche.
Es war angenehm, auf dem Boden zu liegen und ihr zuzuschauen. Nackt und lächelnd kam sie auf ihn zu, und sie kniete sich neben ihn mit dem Splitter in der Hand. Er konnte seine kurzsichtigen Augen darin erkennen.
Sie lächelte ihn an.
Einsam liegt das Haus.

* * *


(Geschrieben 2007)