Man sprach von einem ‹vergessenen› Dichter.
Aber diejenigen, die von ihm sprachen,
hatten ihn nicht vergessen.
Und jene, die nichts von ihm wußten,
hatten ihn niemals gekannt.
An einen solchen Dichter kann man nicht erinnern.
Archiv der Kategorie: Alles
Der vergessene Dichter
Flossen
Sie lag auf dem Kanapee.
Das Prachtstück. Nackt & bloß.
Bäuchlings, die Kniee gewinkelt; das
Blondhaar pferdegeschweift.
Eine warme Nacht, von antiken Lampen erleuchtet.
»Lu«, sagte er. Der Ohrensessel schützte ihn.
»Hm?«
»Hast du jemals in der Badewanne Flossen getragen?«
»Ja«, sagte sie, »als kleines Mädchen. Du nicht?«
»Doch«, sagte er, »ich habe mir sogar
eine Kaffeedose auf den Rücken geschnallt, um
unter Wasser atmen zu können. Die Dose war
mit einem Schlauch verbunden, und den habe ich
mir in den Mund gesteckt.«
»Und du hast es überlebt, wie ich sehe. Ein Glück.«
»Findest du?«
»Sag nicht sowas.«
»Schon gut. – Hattest du eigentlich eine schöne Kindheit?«
»Nein«, sagte sie. »Du?«
»Ja«, sagte er, »aber das wurde mir erst bewußt,
als sie vorbei war.«
Wo treffen sich Blicke? In der Mitte? Diesseits oder jenseits?
Oder in den Köpfen?
»Wie kommst du auf die Flossen?«
»Weiß nicht. – Vielleicht weil du da so liegst.«
Sie lächelte. »Willst du dich nicht auch ausziehen.«
»Noch nicht«, sagte er, »ich will das Bild nicht zerstören.«
Sie verschränkte ihre Hände unterm Kinn. Blasse Hände. »Und –
was machen wir dann?« Sie schlenkerte mit den Füßen.
Auch in dem großen, alten Spiegel, der am anderen Ende
des Raumes stand; alles darin bekam einen Stich ins Türkise.
»Die Halbwelten in Schwingung versetzen.«
»Au ja« sagte sie.
Er stand auf und ging zu ihr. Sie streckte die Beine.
Einhändiger Applaus. Zitterndes Gewebe.
Und dann weinte sie.
»Was ist?« sagte er.
»Zu blöd«, sagte sie, »da wurde wohl eine Erinnerung ausgelöst.
Ist gleich wieder vorbei.«
»Tut mir leid.«
»Nicht schlimm. Und nicht deine Schuld. Manche
Erinnerungen sind so überflüssig. Und die schönen
sind bei mir oftmals verschwommen.«
Sie rückte ein Stück zur Seite, und er legte sich neben sie
auf den Rücken. Nur wenige Tropfen,
die er wegzuwischen hatte. Das schmale Gesicht
reflektierte jeden Schein. »Stell dir vor«, sagte sie,
»jemand würde uns so sehen, uns beobachten, uns zuhören -
was würde der denken?«
»Was für eine Vorstellung. Gut, daß das unmöglich ist.
Uns kann doch niemand begreifen.«
Sie lachte, kurz und hell, mit schimmernden Zähnchen.
»Aber wir uns«, sagte sie - »komm, begreif mich.«
Fließende Bewegungen gingen ineinander über;
sie gingen ineinander über. Es gab
nicht viele freie Flächen auf dem Kanapee,
aber mehr und mehr wurden sie mehr.
Schock
Und schon ist man ein Dutzend Mal
der Fünfjährige der Vergangenheit.
Das ist ein Schock -
so hab ich’s noch in der Schule gelernt:
5 Dutzend sind ein Schock.
Das kann man wohl sagen.
All diese Fünfjährigen,
die man in sich trägt –
Jeder hat anderes erlebt.
Und anders empfunden.
Man erinnert sich
an die Empfindungen, die
es nicht mehr geben kann,
weil man den Schock auf dem Buckel hat.
Die Illusion von Kontinuität.
Dabei hoppelt, ruckelt & springt man durchs Leben
und altert auch so. Es addieren sich bloß die Abschnitte;
kein Wunder, daß man nicht erwachsen wird.
Manchmal hatte man auch zweieinhalb
Fünfjähre in sich – dann war man so um die 12.
Ich will hier ja nicht so tun, als gäbe es
irgendeine Regelmäßigkeit. Ein Gleichmaß
des Daseins. Keine Maßeinheit
beschränkt die Maßlosigkeit.
Man wechselt die Spielplätze
und spielt, man wäre altersgemäß.
Der Verfall ist die Maske
vor dem wahren Gesicht.
Glaubt mir nicht, glaubt mir nicht –
das bin ich nicht.
Und Ihr seid auch nicht,
was ich sehe.
Maskenballer, wir alle.
Vorhang
Ein letzter Auftritt wird versucht —
Da hackt der Schmerz in die Achillessehne!
Die Bühne zu hart, der Schritt zu forsch,
der Körper zu alt.
Wieder nichts.
Und es ist ja auch richtig:
mit 60 hat man lange genug gelebt.
Wie erbärmlich sich alle ans Leben klammern!
Immer noch ne Wiederholung des Bekannten;
oder dessen Abklatsch, mieser als das Original.
Haben die alle kein Gedächtnis?
Zu viel Eiweiß im Gehirn?
Oder erscheint ihnen durch die schwindenden Sinne
Alles ganz neu?
80, 90, 100 —
Der Traum von der Unsterblichkeit. Ein Alb!
Tja leider, bei mir klemmt der Vorhang auch.
Seit 2 Jahren will er sich nicht schließen.
Man muss warten. Und versuchen,
das geliebte Wesen (das einem heldengleich
zur morschen Seite steht) nicht gar zu sehr zu nerven.
Bleibt man, tut es weh – geht man, tut es weh.
Nicht sein. Ganz vorsichtig von den Brettern humpeln,
von den Brettern, die
nicht – so – viel –
bedeuten.
P.S. Ich mag keinen Besuch.
An mein Grab soll auch keiner kommen.
Furcht
Waren Sie schon mal draußen?
So richtig draußen?
Da trifft man Menschen,
die gar nicht draußen zu sein scheinen.
Die verhalten sich, als wären sie
drinnen.
Es ist zum Fürchten.
Als der Schnee noch von den Antennen fiel
Als der Schnee noch von den Antennen fiel
und die bewegten Bilder rauschten
fluchte man –
weil man nicht ahnte
daß selbst dies Gegenstand einer Sehnsucht sein kann
im Rückblick der Zukunft
Denke daran
versuche ich mir zu sagen, wenn
ich fluche
Erinnere dich an die Zukunft
Das Bessere könnte dich langweilen
Und der Charme des Ärgerlichen
dich erheitern.
Versagen – ein kippender Text
Das Versagen ist ein stilles Zimmer. Kein Schall, der stört, keine Augen, die glotzen. Erfolg wäre Lärm, ein Schmerz im Gehör. Ich habe mein Leben vertrödelt, versoffen, vertändelt, ver-fault. Hab mich versagt. Gehöre niemandem, nicht dazu, nirgendwo hin, wo ich nicht bin. Mach’s mir gemütlich im künstlichen Licht. Hab mich verschrieben dem Privaten. Abgeschottet & zufrieden. Verstehe kaum, was Menschen mögen, was sie antreibt, was sie treiben. Das Menschenmögliche ist mir zu viel. Moment – versuche ich hier gerade mich zu trösten? mich abzufinden? mich schönzureden? mich interessant zu machen? Das wäre das Schlimmste, das Niedrigste, das Unsägliche. Das letzte Versagen. Schlimmer als selbstverlegt, schlimmer als ein E-Book bei Amazon – nein, bitte nein! Finde ich etwa gut, was ich hier tue? Fand ich es je? Mit Alkohol im Blut vielleicht. Im Suff finden sich ja alle gut. Die armen Schweine. Die sollten sich mal nüchtern betrachten. Ganz trocken. Dann ist es aber aus mit der Unsterblichkeit. Mit Epigonen kann selbst die Nachwelt nichts anfangen. Und man gerät nicht in Vergessenheit wenn man niemals im Bewusstsein war. Oh, du stilles Zimmer. Mein Raum. Nur mit mir in dir. Unverzagtes Versagen. Sonst gibt es nichts zu tun. Alles weitere versage ich mir. Schnauze jetzt! Tu doch nicht so! Möchtest gern, du Möchtegern. Der Wille aber ist nichts. Das weiß ja jeder Serienkiller. Da zählt nur die Leiche, und nicht das Messer in der Lade. Ja, der blindlings tastende Soziopath trifft nur sich selbst. Da ist keine Welt im Raum. In jenem Zimmer. Und keiner versteht ihn.
Reformationstag
[Auf dem Lokus blätterte ich
in einem alten Video-Katalog
von Beate Uhse. Einer der Pornos hieß:
Heißer als Lava
Was mir dazu augenblicklich einfiel –
je nun, Folgendes.]
▪️▪️▪️▪️▪️▪️
🎶 Heißer als Lava
Ist ihr Kadaver 🎶
Wenn ich übern Friedhof schleiche
Freu ich mich auf ihre Leiche
Mit dem Spaten in den Händen
Zuckt es schon in meinen Lenden
An ihrem Grabe muss ich graben
Um mich an ihrem Leib zu laben
Ich klopfe an womit auch immer
In silberblassem Mondenschimmer
Sie liegt so schön in ihrem Sarg
Sie liegt so still wie ich es mag
Ganz feucht ist sie und weich
Ich komme, Schatz, ich komme gleich
Du riechst so gut und schweigst so schön
Wir wollen gleich nach Hause gehn
Da kuscheln wir und schlafen lange
Ich küsse deine dunkle Wange
Ich streichle zärtlich deine Waden
Liebkose lüstern deine Maden
Immer will ich bei dir liegen
Rotten stinken Würmer kriegen
Natur sind wir für lange Zeit
Ein kleiner Teil von Ewigkeit
Und wenn es wohl auch seltsam klingt
Ich liebe was aus uns entspringt
Der Olympionike
Jahre später entdeckte ich ein Foto im Internet:
da saß er an einem gedeckten Tisch, und
Helmut Berger leckte ihm die Haare
(zumindest sah es so aus).
Dalli Dalli Aftershow-Party Mitte der 80er Jahre.
Wenn man das gewusst hätte – das wäre doch
ein Gesprächsthema gewesen! Andererseits:
gesprochen hatte man ja nicht so viel.
Ich hatte ihn in einem Sexchat getroffen.
30 Jahre nach HB. – Wir beide auf der Suche
nach einem Dreier (auch so’ne Disziplin).
Fotos wurden ausgetauscht.
Eines seiner Fotos zeigte ich
meiner Freundin. »Und?«
»Ist okay«, sagte sie, »der geht.«
Er/es sollte unser erster sein.
Und dann saßen wir zu dritt auf dem Sofa
meiner Großeltern. Er in Radlerhose & T-Shirt,
sie in ihrem Schulmädchenoutfit zwischen uns
(der karierte Rock so kurz wie das Lineal, das man selber
als Schüler im Ranzen gehabt hatte).
Ich hatte auch was an, aber soetwas merke ich mir nicht.
Der Mann sah älter aus als auf dem Foto, das er mir geschickt hatte,
aber so ist das halt – nicht schlimm.
Wir waren nicht zum Reden zusammengekommen -
sie legte ihren linken Schenkel auf seinen rechten
& streichelte die Ausbuchtung, die in der Radlerhose
besonders zur Geltung kam. Eigentlich
ging alles recht schnell. Dalli Dalli. Er war nun mal
Sportler und auf Geschwindigkeit getrimmt.
Schnell stand er auf, schnell zog er sich aus.
Und schon war sein Schwanz in ihrem Mund.
Der Schwanz war ziemlich kurz, aber die Eier gewaltig.
(Später fragten wir uns, ob das was mit Doping zu tun hatte;
aber ich glaube, da schrumpfen sie eher.)
Er trug einen Cockring.
Schließlich gingen wir in das Zimmer mit den Schaufensterpuppen.
Da lag eine Matratze auf dem Boden. Auch beim Ficken
schien er schnell durchs Ziel kommen zu wollen. Er war ein Rammler.
Es hätte mich nicht gewundert, kleine Rauchwölkchen sich kringeln zu sehen.
Sie sah nicht gerade begeistert aus. Schaute mir in die Augen.
Ein bisschen verloren, ihr Blick. Zum Ausgleich machte ich alles
ganz langsam. Seltsamer Staffellauf. Ich war schon immer
der Langsamste. In der Schule. Beim Sport. Beim Essen. Wie waren nochmal
seine Bestzeiten? »Dein Freund hat einen schönen Schwanz«, sagte er
zu ihr. Nun ja. Ob da was gelaufen war – mit Helmut Berger?
(Der sah auf jenen Fotos noch richtig gut aus, da wäre ich auch
nicht abgeneigt gewesen......)
Ein bisschen Smalltalk gab es dann doch noch. Er saß wieder
auf dem Sofa und musste sich nur noch die Schuhe anziehen.
Wir standen. Ich glaube, ich hatte mir etwas angezogen, aber
soetwas merke ich mir nicht. Sie jedenfalls war noch nackt,
soetwas merke ich mir. Er sprach von seinem Herzen.
Mit seinem Ruhepuls hätte ich mich für tot erklärt.
Ja, der Leistungssport! Ständig musste er
irgendetwas tun, um nicht abzunippeln. Sein Arzt sei besorgt,
sagte er.
Früher hätte ich das alles viel detaillierter geschildert –
aber ich werde ja auch immer älter. Aktuelle Fotos –
ach, Schwamm drüber.
Meine Phantasie arbeitet assoziativ.
Hatte ich nicht beinahe Verbindung aufgenommen
mit Visconti? Die Unschuld. Die Verdammten.
Gewalt und Leidenschaft. Ludwig. (Mit Berger.)
Tod in Venedig. Sehnsucht. (Ohne Berger.)
Wenn man das alles damals schon gewusst hätte!
Der Olympionike hatte bei den Spielen
keine Medaille gewonnen.
Dabeisein ist alles. Das war Spitze!
Auf der Sofalehne fand ich seinen Cockring.
Den warf ich in den Mülleimer
zusammen mit dem Kondom.
Raureif
Du reifst so vor dich hin
und reifst und reifst
Reifen
Rollen spielen
Profil haben
Auch wenn’s längst nicht mehr vorwärts geht
Die Luft wird immer rauer
(zumindest kommt es dir so vor)
Und irgendwann bist du platt
Dann bist du reif
Herbst
Ich würde
Mich an einem Baum nur
Im Herbst aufhängen
Ich wette
Zwischen bunten Blättern
Würgte meine Leiche recht apart
Beschwingt durch Stürme
Bewegte ich mich
Dann mehr
Als im Leben
Wer im September geboren wurde
Weiß Bescheid
Wer raschelt da?
Wer pendelt da?
Wer schaukelt da?
Verfärbtes Laub
Verfärbte Fratze
Über der Hanfkrawatte
Wird gegrinst
Im Werk
Der Mensch definiert sich gern
Über seine Zahnrad-Existenz
Es ist ihm wichtig
Wo er sitzt im Werk
& wer ihm in die Zähne greift
Um ihn voran zu treiben
Seine Welt ist eine Uhr
Und er denkt die fliehenden Zeiger
Seien die Zeit an sich
Und ohne ihn ginge nichts
Aber nichts geht immer
Es braucht ihn nicht
Das Nichts
Ich bleibe lieber stehen
Ohne mich vergeht alles
Genauso schnell
Es zieht vorbei
An meinem Stand der Stillstand heißt
Ich muss nur bleiben wo ich bin
Ich setze nichts ins Werk
Ticke nicht & tacke nicht
Weder falsch noch richtig
Gehe nicht & gonge nicht
Es ist mir wenig wichtig
Und was mir wichtig ist
Verstehen nur wenige
Ich hab versucht kein Mensch zu sein
Es ist mir nicht gelungen
Ein Zahnrad bin ich nicht
Sonst knirschten meine Zähne
In dem Getriebe jener Welt
Lasst mich
Rast & Ruhe sein
In dieser Uhr
Die nichts bedeutet
Milchreis mit Zimt
In der Regalgasse kam sie auf mich zu mit ihrem Einkaufswagen »Ich hab zweimal Milchreis mit Zimt für dich«, sagte sie. »Äh, danke - - ich glaub, ich mag den im Moment gar nicht mehr.« »Ah – okay ---« »Nach dem letzten Mal ging’s mir so komisch.....« »Aha....« »Ja. Hm. Vielleicht bringst du ihn doch besser wieder zurück.« »Ja; klar; mach ich.« Das wird jetzt niemand verstehen, der nicht weiß, wie sie, und nur sie, etwas sagen kann – aber es hätte mir doch beinahe das pumpende Hohlorgan zerrissen; und ich musste hinterher zur Kühlung Sie stellte die Schälchen zurück Deren Inhalt ich vielleicht lieber hätte herunterwürgen sollen um ihr eine Freude zu machen & um mich selber besser zu fühlen in aller Übelkeit Da nahm ich sie von hinten in die Arme - »Vielen Dank nochmal, dass du daran gedacht hast.« Es fielen noch weitere Worte im Supermarkt, und gelächelt wurde außerdem. Und so wird nun auch Milchreis zum Symbol werden Zur stehenden Redewendung Zum Insider Zur Anspielung in dieser Beziehung. Und natürlich hat das alles nichts mit Literatur zu tun. Denn es wird behauptet, die solle Gefühle erzeugen – und nicht schildern. Aber wenn etwas etwas soll will ich etwas anderes wollen. Und sagen: Seht her! So kann es sein. Es kommt vor dass sich die Richtigen treffen. Das sagt Euch der Pessimist, der an gar nichts glaubt. Übrigens war vermutlich alles ganz anders. Plötzlich hatte ich das kleine Mädchen gesehen & gehört... Das Mädchen, das ich nur von Photos kenne (& in ihren Augen sehe) Und es hatte mich gerührt Gerührt bis an die Schmerzgrenze — An der Kasse war dann noch die Flüssigseife nicht richtig ausgezeichnet und die Kassiererin konnte so kurz vor Schluss niemanden mehr erreichen & in ihrer Liste konnte sie den Preis nicht finden – drum ließen wir die Seife also auch noch zurück. Aber das ist ja eigentlich schon wieder eine andere Geschichte. Die bestimmt ebenfalls irgendeinen Symbolwert hat.
Schlechte Bilanz
Man kann gar nicht still genug sein
Um den Lärm der Anderen auszugleichen
Untergang im Überfluss der Klänge
Nicht totzuschweigen sind die Geräuschereichen
Verkrachte Bilanz, Überschuss des Schalls
Die abscheulichsten Wellen schlägt
Der Mensch
still still still
sein
Eine Ruhe, die nicht ewig ist -
Ist keine.
Unerwartet
Jemand kitzelte ein Gitarrenkind
Ein sanfter Bass tapste nebenher wie ein Bär
Der alte Mann in der Scheibe sang
I’ll see you in my dreams
Da kam sie in das Zimmer und tanzte
Kurzes Hemd, gestreiftes Höschen
Sie barfüßelte vor der Spiegelwand
Drehte sich und schwang die Arme
Witzig und ernst, da und traumverloren
Und so schön und leicht wie der Moment
Den man nicht erwartet hat
Nach all den Jahren
Muss ich immer noch lächeln
Wenn ich einen Raum betrete
In dem sie sitzt
So als wäre ich überrascht
Und könnte es nicht fassen
Weil das Glück das ich hatte
Unfassbar ist
Immer noch immer noch immer
… tender eyes that shine …
Und sie lächelt zurück!
Und lacht sogar! Meistens
Wir wissen wie man das nennt
Aber wir haben ihr einen neuen Namen gegeben
Der nicht nur ein Wort ist
Der alte Mann schweigt
Die Ukulele verstummt
Es ist spät geworden
Der Song summt in meiner Erinnerung
Auf dem Stuhl neben dem Bett
Scheint sich eine Biene entkleidet zu haben
Man muss mit allem rechnen
Im Gedächtnis der Welt
Du warst in dieser Welt Ich hatte Angst vor dir Ich fühlte mich beschützt von dir Wieviele sind noch am Leben Die dich kannten Wirst du vergessen sein Wenn ich sterbe Als wärest du nie gewesen Auf dieser Welt In der dein Schutz mir fehlte Als du verschwunden warst So jung so früh Es ist egal Nur die Wesen vergessen Was verwest Im Gedächtnis der Welt Bleibt alles Erinnerung Sie weiß dass du da warst Und die Angst ist vergangen
Der Stau
»Warum hältst du?« fragte sie.
Leise lief der Motor: eine gerade Landstraße,
grauer Asphalt, leer & verlassen, einsam
bis zum weit entfernten Horizont - - - - -
»Hier geht’s nicht weiter«, sagte er,
»ich hatte es befürchtet.«
Ein stilles Fragezeichen
auf dem Beifahrerinnensitz: ?
»Im Verkehrsfunk verheimlichen sie so etwas immer.
All diese Staus, die von Tarnfahrzeugen verursacht werden.
Das kann jetzt ein paar Stunden dauern.«
Verdutzt ist ein schönes Wort.
Lächeln ein noch schöneres.
Sie war wie ein Buch der schönen Wörter.
»Unser Leben ist so ereignislos«, sagte sie,
»nie passiert was —
aber was WIR so alles erleben!
Das geht auf keine Brontosaurushaut.
Nur gut, daß keiner seinen Motor laufen läßt.«
»Ach ja«, sagte er – und drehte den Schlüssel.
Wie still es war!
Still & aufregend. Hier -
wie überall; wo man sein konnte.
Bei sich. Mit sich. In sich. Zusammen.
Der Faltenwurf der Spiegel
Die Spiegel werfen Falten Egal wie jung man auf die Fläche blickt Alles verkehrt Und der Geist unsichtbar Erkenne dich selbst Wie du nicht bist Stumm & geruchlos im Glas Eingeweckt und doch verfaulend Tiefe nur vorgetäuscht Leben als optisches Phänomen Was man da sieht Soll ein Mensch sein? Sein sein? Silbrige Gaukelei Geht vorbei, geh vorbei Fabrikat aus Splittern Ein Ganzes wirst du nie Lass dich fallen Wirf dich hin Wie der Spiegel die Falten Wie die Schwerkraft die Alten Täusche vor geh zurück Schmeiss noch einen letzten Blick Auf Alles Was nicht du ist Auf Alles Was du nicht bist Spieglein Spieglein Märchentand Plisseevisage Stundensand Die Spiegel werfen Falten Sie solln mein Bild behalten
Phazit
Im Sitze meines Lebens
(was bei Anderen im Laufe heißt)
gemütelte ich häufig auf dem Sopha mit p-h
und Büchern in den Tellern meiner Hände
Mit Blätterfingern fuhr ich durch das Laub
der Bände – ganz fremd wurde mir da zufurchte;
fremd der Waren Welt mit ihren Würglichkeiten
und ihrer Enge, die außerhalb des Geistes liegt
Im Rascheln der Romane war ich zu Hause
im Rauschen der Gedichte unterwegs
Der stumme Besucher in den Winkeln
der Biographien: das war ich
Reich war ich in meinen Reichen
Auf den Brettern, die Regal bedeuten
Traf nie einen meinesgleichen
Mischte mich nicht unter Meuten
Was zur Neige geht, ist nicht mein Leben
Eine Welt nähert sich dem Ende
Was Gedanken leise weben
Fällt am Schluß durch offne Hände
Kontakt
Vorsichtig gehen – – –
nicht dass man versehentlich in Kontakt tritt
wie in so’nen Haufen.
Den Gestank wird man so schnell nicht wieder los.
Jeder Auftritt könnte der letzte sein.
Lieber gleich daheim bleiben, denn da ist man schon
und muss sich kaum bewegen.
Lauschen wie der Treibsand durchs Stundenglas rieselt.
Die Klingel hat keinen Strom mehr,
und die Haustür ist verklemmt.
Menschenscheu war ich früher,
heute meprisier‘ ich nur noch.
Schöne Ausblicke sieht man auch durch Fenster.
Bäume, Himmel, Mädchenschenkel —
gehen, bleiben,
nur nicht winken!
Ohne mich
Des Malers Hand schafft
eine Landschaft
ohne Menschen
ohne sich
Denn er ist ein Mensch
Jeder Mensch ist eine Umweltzerstörung
Schon allein – sein Anblick zerstört
die Harmonie
Ich stehe in einer Landschaft
ohne Menschen
blicke aus mir heraus
als wäre ich nicht da
Nein, ich stehe in einer Landschaft
mit mir – wie schön
wäre sie erst ohne mich!
Der Maler soll mich löschen
Virtuell
Eine virtuelle Welt verschwindet
Im leeren Raum des Todes
Ein Idiot stirbt
Auch er dachte
Und hatte eine Sicht auf das
Was er für Alles hielt
Es wird kaum dunkler
Durch sein Verschwinden
Wie finster wird es hingegen
Wenn ein Geist dahingeht
Den wir groß nennen
Und doch — bloß
Eine virtuelle Welt verschwindet
Im leeren Raum des Todes
Wissen
In meiner Jugend wunderte man sich
Was ich alles kannte und wusste
Nun, da ich alt bin
Wundert sich keiner mehr
Als wäre es selbstverständlich
Und wenn sich doch mal einer wundert
Dann weil ich nichts vergessen habe
Irgend etwas ist immer falsch
Und nichts ist selbstverständlich
Die Jacke
Das ist ihre Jacke
Auf der Armlehne des Sessels
Den niemand je benutzt
Achtlos dahingeworfen
Verschlungen unsichtbar
Die Ärmel
Die zieht sie an
Um nicht zu frieren
Da draußen
Jetzt schläft sie
Unter der Decke
Und schwitzt vielleicht
Ein bisschen
Nur kurz habe ich
Vom Buch aufgeschaut
Das ist ihre Jacke
Mir gegenüber
Auf der Armlehne des Sessels
Den niemand je benutzt
Es ist gut
Dass sie da liegt.
Jetzt, dann & in Ewigkeit
Und dann wird kommen die Zeit
Da man uns beneiden kann
Um diese Gegenwart
Und beneiden wird man uns
Darum, daß wir tot sind
Und wir würden uns freuen
Tot zu sein wie wir
Uns nie unseres Lebens gefreut haben
Wenn wir es noch könnten
Also —
Was jammern wir
Es geht uns noch gut
Und wird uns noch besser gehen
Howard
I am too old & cynical & world-weary
to be interested in books of my junk —
Howard war 35 Jahre alt, als er das schrieb.
Er nannte seine Tante »Tochter«
und sich selbst »Großvater«.
Kinder hatte er nicht. Er liebte Spaghetti
und hasste moderne Architektur.
Sein Kinn war gewaltig
und die Welten in seinem Geist beängstigend.
Er hatte keinen Job,
und eigentlich wollte er auch keinen.
Er wollte nur lesen, schreiben und
es warm haben.
Kälte konnte er nicht ertragen.
Folglich schrieb er eine Geschichte
über jemanden, der nur in der Kälte existieren kann –
weil er längst tot ist.
Howard starb mit 46 Jahren,
also war er mit 35 tatsächlich alt.
Die meisten Menschen wissen nicht,
wie alt sie wirklich sind.
Howard war ein besonderer Mensch.
Alarm !
ALARM!
WIE? WAS? SIE HÖREN
NICHTS?
Je nun, dann brauche ich ja nicht zu schreien,
obwohl ich es möchte.
Vorsicht – wenn Ihnen jemand etwas in eine Körperöffnung steckt,
könnte es Ihr Leben verändern.
Zerstören.
Erinnern Sie sich? Ich konnte keine Grille mehr hören.
Ich erwähnte es einmal.
Nun habe ich ein ganzes Volk im Ohr.
Dem Facharzt sei Dank!
ZIRPZIRPZIRPZIRPZIRPZIRPZIRPZIRP
ZIRPZIRPZIRPZIRPZIRPZIRPZIRPZIRP
ZIRPZIRPZIRPZIRPZIRPZIRPZIRPZIRP
ZIRPZIRPZIRPZIRPZIRPZIRPZIRPZIRP
Und wenn Wasser fließt,
Bäume rauschen,
eine Plastiktüte leise knistert –
gibt es ALARM! FEUERALARM!
SCHRILLEN KREISCHEN PFEIFEN
im ganzen Kopf, fast könnte man denken
man hätte gar nichts darin,
da alles so
HALLT.
»Ist Ihnen das schonmal passiert«, fragte ich.
»Extrem selten«, sagte der Arzt.
Ein Glück, dass das Leben so begrenzt ist.
Da möchte man nicht noch mal 20 sein
(und so verkorkst wie damals).
Plötzlich gibt es wieder eine Zeit davor
und eine Zeit danach.
Eine Zäsur und Gedanken wie
‹Ach, hätte ich dieses Buch doch gelesen,
als es mir noch gut ging!› — obwohl
es einem vielleicht nie gut gegangen war. (Oder
eigentlich doch; man hatte es nur nicht gewusst.)
Ein neuer Orientierungspunkt in der Zeit
wie der Tod eines nahestehenden Menschen.
Und wer stünde einem näher
als der eigene Körper.
Werde ich jetzt böse, verbittert, unerträglich,
einsam, asozial? – Ach, war ich das
nicht schon immer?
Und doch –
Die Hoffnung tickt ganz leise
wie das Werk einer alten Uhr,
die eine falsche Zeit anzeigt.
Sinnlos bewegt es die Zeiger.
Nein, halte sie nicht an dein Ohr.
Selbst wenn du nichts mehr hörst.
Kannst du die Zeit noch lesen?
Es ist egal.
Herbst.
Falls du noch gehst –
gehe vorsichtig
am Laub vorbei
damit es nicht raschelt,
denn sonst gibt es
Momentaufnahme (für die Ewigkeit)
Eine Träne rinnt ihr über die linke Wange.
»Wie groß er heute war«, sagt sie.
In der Tat: zwei Mal hatte sie leicht gewürgt,
und kühles Nass war den Damm hinab gesickert.
Sie lächelt und kam
unter dem Tisch hervor. Weiß & fleckig
stand der Mond im All; er besorgt uns
die Romantik. Wie groß er heute war!
So kommt es mir
zumindest vor. Eine optische Täuschung,
die etwas mit Nähe zu tun hat, glaube ich.
Ein Nachtfalter hat sich an die Scheibe geheftet
im Schein der alten Lampe mit dem grünen Schirm.
Ein leiser Wind bewegte die Zweigsilhouetten,
und der Tag gleitet unausweichlich in die Vergangenheit.
Einen Moment noch
blieb er uns gegenwärtig. Der Moment —
wie groß er heute ist!
Er berührt die Zukunft — und reicht vielleicht
noch weiter. Wir werden
es erlebt haben.
Tod in der Lebendfalle
Man wollte human sein
Die Maus in einer Lebendfalle fangen
Die Falle stand auf der Terrasse
Nachts trippelte es in den Wänden
Erster Tag: nichts
Zweiter Tag: nichts
Schon dachte man nicht mehr daran
Kümmerte sich um anderes
Bis
Tod in der Lebendfalle
So könnte meine Autobiografie heißen
Zwei Stücke Schokolade
Hatte sie gefuttert, ratzeputz
Kein Wasser, wer denkt schon an Wasser
Elender langsamer Tod
Kein erlösender Bügel im Genick
Tot, und als Symbol verwurstet
In einem schlechten Text
Die ganze Falle vollgeschissen
Still Leben
Die Jahrzehnte, die ich vor mir gehabt hatte
Liegen hinter mir
Der Sinn, den ich nicht gesucht habe
Hätte mich nicht finden können
Erinnerungen sind Schatten auf einem Spiegel
Wer hineinschaut, sieht nichts als Zweifel
Niemand weiß, wo ich bin
Und ich will es nicht wissen
Das Ende bewegt sich nicht auf mich zu
Und ich stehe still
So kommen wir uns näher
Wenn wir uns treffen
Ist es der Abschied
Wie kann man nur
Plötzlich blieb Udo stehen
und schrie eine Rose an:
»Wie kann man nur so rot sein!«
Die Rose rührte sich
nicht. Sie war tatsächlich rot.
Doch nicht außergewöhnlich.
Wir gingen weiter.
Ich schwieg und hatte Mitleid
mit der Rose.
12 Uhr mittags
12 Uhr mittags in der Apotheke.
»Sind Sie gerade aufgestanden?«
»Nein, ich gehe gleich schlafen.«
»Die Tabletten muß man morgens einnehmen.«
»Also vor dem Schlafen.«
»Nein, nach dem Aufstehen.«
»Ich stehe abends auf.«
»Hm, schwierig. Ich weiß nicht…«
»Okay, danke, tschüss.«
Kurze Pause.
»Äh – ja.«
Ich gehe zum Ausgang. Da
ruft sie hinter mir her:
»Gute Nacht!«
Herz auf, Tür auf. Raus.
Das Unglaubliche
Sein 91jähriges Gesicht
konnte ich mit seinem 70jährigen Gesicht
einfach nicht
in Verbindung bringen
War er das?
Nein
Das konnte er nicht sein
Oder doch?
Diese 21 Jahre waren so lang
wie alle 21 Jahre lang sind
Wie konnte – – –
Die Gleichförmigkeit der Zeit hilft
Niemandem
Der Verfall hält sich nicht daran
Was lebt verfällt ungleichmäßig
Doch das eigentlich Unglaubliche:
21 Jahre lang hat er in den Spiegel geschaut
Heute sehe ich aus wie gestern, hatte er gedacht
Am Tag darauf dachte er es auch
Er erkennt sich noch heute
Ja, das bin ich, denkt er
Manchmal war das Erschrecken groß
Als hätte er sich jahrelang nicht gesehen
Doch das verging
Wie er selbst
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.