Monatsarchiv: Mai 2014

Bedeutungslos

Der Mond passte genau
zwischen 2 Oberleitungen
am Straßenrand

Eine zunehmende Sichel
mit unsichtbarem Gesicht
in der Abenddämmerung

Die gebogenen Spitzen
berührten die Drähte
Das hätte er sich nicht träumen lassen

Ich war unterwegs
Es hatte nichts zu bedeuten
& das war schön.


Sang- & klangvoll

Sang- & klangvoll möchte ich
sterben

Mit der seltsam-schmerzlichen Note
einer Saite, die

reißt – in der Stille der Nacht
& jeden erschreckt

der in der Nähe ist

Und wer zu dicht bei ihr steht
könnte verletzt werden

durch den Riss
der Saite

War sie überspannt?
War es Ermüdung?

Einerlei!

Niemand wird mehr auf ihr spielen

Aber so mancher Ton
der von ihr kam in der Vergangenheit

wird fortklingen
im dem ein- oder anderen

Ohr

In dem ein- oder anderen
Gedächtnis

Ein Echo der Erinnerung


Verlasse Dich!

Du
was ich nicht lassen kann

aber
lass mich

am Lieben!

Ich
was Du nicht lassen kannst

lebe Dich.

Verlasse Dich

da
rauf!


Der weite Weg vom 100sten ins 1000ste

Wie war ich auf diesen Weg gekommen?
Ich weiß es nicht.
Plötzlich war er da. Und ich ging. Auf ihm.
In einem fremden Land. In der Erinnerung.
Ich kleiner Junge, der mir fremd ist, in
gewisser Weise. Nach all dieser Zeit. Die
man die vergangene nennt. Mal
trödelte ich hinterher; mal
lief ich voraus.
Mit der leeren Milchkanne in der Hand;
sie war leicht; aus Plastik; schlenkerte;
leuchtendes Weiß im Sonnenlicht, Griff & Deckel
in hellem Blau. Meine Brüder gingen denselben Weg,
umkreisten die Mutter. Keine Autos, nur Landschaft;
ein Weg ohne Gehsteig, von feinem Sand bestäubt;
links & rechts Wiesen, in der Ferne der Saum eines Waldes. Alles wild. Wuchernd.
Wie ich manchmal. Heiß war die Luft – & bewegt von einem leichten Wind.
Anders als zu Hause. Mit einem Hauch von Salz. Ich erinnere mich
an die Lupinen, die ich sah. Weil ich dabei an Fix & Foxi denken musste.
(Wölfchen & Lupinchen.)
Der Weg war weit – bis zu dem Hof, wo wir die frische Milch bekamen; so
erschien es zumindest meinen kurzen Beinen in den noch kürzeren Hosen.
Wir gingen & gingen; manchmal schloss ich auf –
zu den anderen; dann wieder setzte ich mich ab, so dass man nach mir rief.
Ich erinnere mich nur an Weite & Leere auf diesem Weg; an fremde Menschen
erinnere ich mich nicht. Und dann waren wir
an einem Strand. Und die Milchkanne war fort.
Mein Vater besaß ein großes graues Schlauchboot, mit dem man
segeln konnte. Und in der Ferne sahen wir das weiße, spitzwinklige Tuch auf dem Meer. Winzig über der flirrend blendenden Oberfläche. Ich suchte glattgespülte Steine im klaren Wasser, und irgendwann sah ich
das Dreieck kippen. Mein Vater war ein guter Schwimmer. Also wurde gelacht.
Und ich sang: »Junge, komm bald wieder«. Dann wurde noch mehr gelacht.
Meer & Himmel in hellem Blau …. Wolken & Segel in leuchtendem Weiß ….
Und dies war die erste Schallplatte gewesen, die ich mir gewünscht & bekommen hatte. Das also war der Musikgeschmack des kleinen Fremden. ›Junge, komm bald wieder‹. Es könnte dem Erwachsenen fast peinlich sein, das zu erwähnen. Wenn er gedankenlos wäre.
›Ich schlich mich heimlich fort – als Mutter schlief.‹ Eine Zeile voller Sehnsucht & Grusel. Fort. Fort. Flucht. Einsamkeit. Fern von zu Hause. Und es war ganz still, und ich war allein in der nächtlichen Hotelhalle, und ich arbeitete am Empfang oder las vielleicht ein Buch, und dann legte ich die Arbeit oder das Buch beiseite, und
Freddy Quinn gab mir ein ordentliches Trinkgeld & sagte:
»Weil Sie so nett waren«; dabei hatte ich mich nur daran erinnert, was er beim
letzten Besuch, vor vielleicht 7 oder 8 Jahren, zum Frühstück geordert hatte,
das wunderte ihn offenbar, da er sich
an mich nicht erinnern konnte, und weil er ja nichts ahnte – von diesem Strand & meiner ersten Platte & dem kenternden Vater & dem Gelächter & meinem Gesang; und er konnte ja nichts ahnen von jenem späten Abend – als
der Vater in unser Zimmer kam, um Gute Nacht zu sagen…. Er hatte gerade einen Film mit Freddy Quinn gesehen, und er war gut gelaunt, sang selber ein Lied aus diesem Film & machte einen Witz, über den wir lange lachen mussten. Und als er den Raum verlassen hatte & es dunkel war, sagte derjenige meiner beiden Brüder, mit dem ich mir diesen Raum teilte & der oben im Etagenbett lag: »Warum hat er nicht immer so gute Laune?« Und das war ein Satz voller Traurigkeit; einer Traurigkeit, die wir beide spürten wie einen Schlag. Wie einen Schlag von vielen – während wir noch immer lächeln mussten. Und Freddy Quinn sagte: »Hat das Zimmer einen Fernseher? Ich brauche unbedingt einen Fernseher, um einschlafen zu können.« Natürlich hatte es einen Fernseher. Aber es ist lange her, und wer weiß, was für Hotels er schon gesehen hatte in seinem Leben. Dann sagte er »Gute Nacht« & fuhr mit dem Aufzug nach oben. Während ich hinunter ging
zum Strand. In meinem kindlichen Aufzug. Den kurzen Hosen. Den durchsichtigen
Strandschuhen aus Plastik. Die ich trug, weil ich es hasste, auf Steine zu treten. Steine, die spitz, und nicht glattgespült waren. Und dann war die Milchkanne gefüllt. Und schwer. Und schlenkerte nicht mehr. Und von dem Trinkgeld,
das Freddy Quinn mir gegeben hatte, kaufte ich mir
Schnaps & soff mich besinnungs- & erinnerungslos. Fix & Foxi.
Niemand kommt wieder.
Wie war ich auf diesen Weg gekommen?
Ich weiß es nicht.
Es gab ihn nicht. Nicht so.
Es gab ihn nicht – bis
ich mich an ihn erinnerte.
Er war – viele Wege.
Warum erinnerte ich mich – in dem Moment
als ich mich erinnerte?
Würde ich darüber nachdenken, würde ich
wohl darauf kommen. Aber
ich brauche es nicht
zu wissen. Nicht
zu wissen – auf meinem Weg
vom 100sten ins
1000ste.


Der feste Halt

Dieser feste Halt –
nach all dem Schwanken
& Taumeln

Dieser feste Halt
wenn man endlich
am Boden liegt

Und nach allem
Drehen & Wenden
hat man seine Position gefunden

Kein Taumeln & Schwanken
mehr
Kein Wenden & Drehen

Es ist ein Fest
Es ist ein Halt
Es ist ein Stopp!

Wenn man
endlich
ein Messer im Rücken hat.


Deine Fehler

Noch immer suche ich
Deine Fehler
in Anderen

damit ich
an Dich denken
muss


Die beflügelte Ameise

 
Die beflügelte Ameise
die man die Fliegende nennt
kroch über den Tisch

immer wieder
hin & her

Hätte sie gewusst
wie lange ihr die Flügel
noch zur Verfügung standen

würde sie
ihre Zeit
nicht so verschwendet haben –

 

dachte ich
während ich sie beobachtete
& auf den Feierabend wartete.


Eingeschlossen

Eingeschlossen geboren

Sein, Welt, Ich

Manchmal
bilde ich es mir
ein:

dass ich
durch die Schlüssellöcher der Realität schaue

nach draußen –

 

Doch auch dort
sehe ich nur
mein Innerstes.

Und keinen Schlüssel.


Die dünne Oberfläche des Traumes

Von außen
blickte die Frau in seinen Traum

& sie sah sich
als Spiegelung
auf seiner Oberfläche

Im Innern
schlief der Mann
mit offenen Augen

& auf der Innenfläche des Traumes
sah er sein seiten
verkehrtes Abbild

& Sie
dahinter

die ihn
nicht sehen konnte

Sie schienen 1
für den Träumenden

& ihre Reflexionen berührten sich

getrennt
allein

durch die dünne Oberfläche
des Traumes


Adjektive

Früher
hatte ich für
Alles
so viele Adjektive

wenn ich erzählte

Nichts
wollte ich der fremden Fantasie
überlassen

Das war
der Egoismus des Anfängers.

Je weniger Adjektive –
desto mehr Wirklichkeiten
existieren.


Frischer Wind

Verflucht! dachte er, Hör auf

mich anzulächeln…. Ich brauche
keinen frischen Wind
in meinem Herzen
Wind
der doch nur zum Sturm wird
und Alles fortweht &
vernichtet
was
mich
aus
macht

Hör auf!
Ich will nicht zurück!

Hör auf!
Hör auf!

Nicht
noch ein Sturm

Verflucht!
Hör auf!

Sonst
muss ich zurück

lächeln


Im Angesicht der Schönheit

Wie oft ich doch verstumme
im Angesicht der Schönheit
die schweigt

Dabei mag

Sie
Es
Sein

die sich am meisten sehnt

nach einem
ehrlichen
Wort


Ein Name auf irgendeiner Liste

Die Stunden vergingen schleppend
in der Öde des Jobs. Auf irgendeiner Liste
fand ich eine Erinnerung. Ein Fremder
trug den Namen eines Menschen, den
ich gekannt hatte. Den Namen
eines Lehrers. Und ich erinnerte mich
an eine Abschlussfeier. Wo
er mich fragte: »Und – wissen Sie, was
Sie mal machen wollen?«
Solche Fragen waren mir immer peinlich.
Aber – erstens war er der einzige Lehrer,
den ich mochte; und zweitens war ich
vermutlich besoffen; also sagte ich:
»Am liebsten Gar Nichts…. das heißt…..
Schreiben wäre ok.«
Irgendwo in seinem Vollbart grinste es.
»Das ist doch was. Da haben Sie doch
wenigstens ein Ziel.« Und – nach einer
kurzen Pause – fügte er hinzu:
»Ich – habe keine Lust mehr. Ich kann so
nicht weitermachen. Immer wieder dasselbe
durchkauen, Jahr für Jahr, und kaum jemanden interessiert’s.
Irgendwie hatte ich mir das alles mal anders
vorgestellt.«
Ich schätzte ihn auf knapp 40. Er unterrichtete Englisch;
in erster Linie schien es ihm dabei um die Literatur zu gehen,
speziell Science Fiction hatte es ihm angetan. Und jetzt
hatte wohl auch er ein paar Gläser zuviel getrunken.
Deshalb sagte er: »Ich glaube übrigens, dass
Sie das können.«
Dann sagten wir nichts mehr.
Und ich sah ihn auch nie wieder.
Er hatte sich also alles ganz anders vorgestellt.
Und der Job ödete ihn an.
Ich blickte auf die Liste, blickte auf den Namen, den
ein Fremder trug …..
& die Fragen kamen von ganz allein.
Nein, ich hatte kein Ziel.
Die Stunden vergingen schleppend.
Aber die Jahrzehnte – na ja,
egal.


Gehe!

(In Dich
Du
In Dir
Ich
im Wir)

Gehe
in Dich
in einem ruhigen Moment

Irgendwo dort
in einem stillen Winkel

der Zeit
die nur draußen vergangen ist

wirst Du

Uns
finden

noch immer

Denn noch immer
bin Ich in Dir

selbst wenn Ich selber
nicht mehr bin

Irgendwo in Dir
bleibt das
Wir

immer

bis Du gehst
& endest

wie Ich


Alles hört auf & beginnt

Irgendwo träumte eine einsame Frau
mein Leben
Einsam & schön

Als sie erwachte
war ich tot

Alles
hörte auf
zu existieren

mithin
auch Sie

Ich schrak auf
aus meinem Schlaf
der mir ewig erschienen war

& begann
von Ihr zu träumen


Linksverkehr

Ich warte noch immer auf den Satz,
den nur ich sagen kann. Den
Niemand vor mir sagte.

Aber gibt es eine Art zu sterben,
auf die noch Niemand vor mir
starb?

Zu dumm,
dass man nur ein Mensch ist.

Ich könnte nach London fliegen –
& beim Überqueren der Straße
den Linksverkehr vergessen;

ich könnte zuerst nach links schauen
& von rechts überfahren werden.

Aber
selbst das gab es schon.


Wetter

Ich hasse lautes Wetter.

Also hasse ich Gewitter.
Ich hasse Regen, weil er plätschert.
Ich hasse Schnee, weil er geschippt wird; das macht Krach.
Ich hasse Sonne, weil dann zu viele Menschen draußen sind,
die Lärm machen.
Ich hasse Wind, weil er heult.

Jetzt wird’s schwierig. Was bleibt da noch?

Schnee & Sonne wären ganz okay,
wenn da nicht die Menschen wären.

Man kann sie nicht erschießen.
Denn auch das macht Krach.
Und näher möchte ich den meisten nicht kommen.

Was bleibt –
ist die Musik

& so manche Nacht.


Aus.

Ich atme ein
& arte aus

Luft
Lust
Worte

Aus.


Licht & Dunkel

So wie das Haar über ihren Rücken fiel
als sie sich aufsetzte im Bett
während ich liegen blieb

So wie die Worte fielen
während sie sprach & ich zuhörte
sie sitzend, ich liegend

So fielen die Schatten der Bücher
auf den Boden neben dem Bett –
aus Notwendigkeit

Es konnte alles nicht anders sein.

Und alles im Schein
meiner Lieblingslampe.

Hätte sie nicht geschienen
würde ich das Haar nicht gesehen haben;
die Bücher hätten keine Schatten geworfen,

und die Worte
wären im Dunkeln gefallen.

Es hätte nichts geändert.


Festhalten

Festhalten

 

 

Da will man etwas festhalten
& strengt sich so sehr an dabei,
dass die Hand ganz schweiß-
nass & schlüpfrig wird …..

Unangestrengt
wäre die haltende Hand
& ihr Griff
trockener & sicherer

geblieben.


Keine Kunst – oder: Am Arsch der Muse

Sie saugte
Staub um mich herum,
die Putzfrau, die nicht die Putzfrau war,
die es mir angetan hatte – mit
ihrem Lächeln & ihren schwarzen Shorts
im vergangenen Sommer. Der Sauger
macht immer denselben Lärm, was
ungerecht ist. Aber so sind sie,
diese Sauger; und ich –
ich löste mich wohl all
mählich auf. In Staub. Doch
worauf ich eigentlich hinaus
will: die Putzfrau
lärmte, eine Horde Koreaner
schwärmte durch die Lobby – sofern
eine Horde schwärmen kann; eine
alte Dame gab ihren Schlüssel ab,
was besser war als wenn’s der Löffel gewesen wäre,
und meine Arbeitsnacht war fast vorbei –
da fiel mir etwas ein. Zur Unzeit.
Eigentlich. Denn meine Ablösung
zog sich bereits im Keller um.
Eile war geboten. Schon
wieder Worte, die heraus wollten.
Und ich mag es nicht
Gedicht nennen.
Tue es aber
meist
nur um der Bequemlichkeit willen.
Also: ran an
den Hotelcomputer,
Programm öffnen,
Wörter in die Tasten hauen,
hochladen (obwohl veröffentlichen
schöner klingt) – nicht noch einmal
darüber nachdenken – &
fertig!
Nein – so wird nicht Kunst gemacht.
Schade, aber ich
kann es nicht ändern. Ich würde ja gern.
Auch ich säße lieber im stillen
Kämmerlein aus Elfenbein
& ließe mir mit Palmenwedeln
schwüle Luft zufächeln – von
nackter Bewunderung in
leicht beschürzten Frauenkörpern –
indes ich irgend etwas
ergösse……
Ein Traum, den man wohl noch
wird träumen dürfen.
Während die falsche Putzfrau um einen herum
saugt; die Ablösung ihre Kleidung wechselt
& Koreaner schwärmen…..
so wie ich
für schwarze Shorts
am Arsch der Muse.


Alles oder Nichts

Fast fühlt es sich an
als hätte ich jetzt
Alles gesagt,
was ich zu sagen hatte.

Obwohl ich
so oft geschwiegen habe
in meinem Leben.

Ich sollte auf
hören, Worte irgendwo
hin zu bringen.

Doch vielleicht bleibt
mir nicht genug Zeit,
um (noch ein Mal)

Nichts

zu sagen.


Heiße Luft

»Du bist Luft für mich«, schwieg sie.
Auch ich war ganz still.
Ich atmete tief ein, um
zu leben – die Luft
die ich war.
Und
ich verschwand…..
Heißer Wind, der
unter ihren Rock wehte, um ihn
ganz leicht
anzuheben. Bis
sie lächelte.


Da war was

Die Flasche kreiste durchs Sonnenlicht
von Hand zu Hand, von Mund zu Mund
im Uhrzeigersinn.
Wir saßen auf dem Rasen
irgendwo in einer fremden Stadt.
Eine kleine abgesplitterte Gruppe.
Schulausflug. Mit Sekt.
Nach einer Umrundung würde die Flasche
vermutlich leer sein.
Links von mir saß
die Hübscheste. Von allen Kursen, allen
Klassen. Eine Klasse für sich, die
mit niemandem zusammen war.
Rechts – saßen
auch irgendwelche…… Jungs mit
ungeputzten Zähnen &
Andere, die ich vermutlich vergessen habe.
Und niemand wischte die Flaschenöffnung ab
vor der Berührung mit den eigenen Lippen.
Ich hätte es wohl gerne getan. Angesichts
des Halbkreises zu meiner Rechten. Tat
es aber ebenfalls nicht. Setzte
an. Trank. Sekt. Vorsicht
beim Absetzen…. dass nichts
übersprudelt…. Das
wäre peinlich!

Alles ging gut. Der Sekt war warm, doch
das war egal. Ich reichte
die Flasche weiter. Und
die Hübscheste…. von allen Kursen, allen
Klassen…. die Klasse für sich, die mit niemandem
zusammen war….. ging
– einmal kurz – mit der Handfläche über die Öffnung
der Flasche. Vielleicht
hatte es beiläufig sein sollen, vielleicht
war es allen anderen egal; doch
in meiner Gegenwart kann nichts Beiläufiges geschehen.
Nicht – solange mein Herz schlägt.
Vielleicht also hatte es beiläufig sein sollen, aber
sie flüsterte etwas….. Etwas, das all ihre Versuche
in dieser Richtung zunichte machte. Sie flüsterte:
»Da war was.«
Ich schaute sie an, und sie war rot geworden.
Sie schaute mich an. Da war was. Sie hätte es nicht sagen
müssen. Ich verstand: Ich habe sie nicht
deinetwegen abgewischt.

Sie nahm nur einen kleinen Schluck. Dann reichte
sie die Flasche weiter. Viel war nicht mehr darin. Ich
habe vergessen, an wen sie die Flasche weiterreichte.
Dabei hätte ich diese Person sein wollen. Links
von ihr hätte ich sitzen wollen. Und da wäre
nichts wegzuwischen gewesen. Ein
gläserner Kuss – von ihr.
Dieser verdammte Uhrzeigersinn!
Dort wo ich saß, würde der richtige Platz gewesen sein –
wenn es diesem Sinn entgegen gegangen wäre.
Sonne. Sekt. Sinn. Sehnsucht. Das Übliche eben.
Die Zeit hatte eine falsche Richtung. Vielleicht.
Ein kleiner Moment. Ein Augenblick.
An so etwas erinnert man sich
auch nach über 30 Jahren.
Und immer mit diesen Worten:
Da war was.


Tradition

Gern würde ich
außerhalb jeder Tradition
stehen –

aber meistens
liege ich einfach nur
im Bett.


Der nicht geträumte Traum vom erschossenen Hund

Da ist ein Garten auf der anderen Seite der Straße,
vor meinem Schlafzimmerfenster.
In dem Garten bellte ein Hund,
den die Menschen allein gelassen hatten.
Ich wollte den Tag verschlafen
& konnte es nicht. Der Hund
bellte den ganzen Tag hindurch.
Ich hätte ihn gerne erschossen
in einem Traum, den ich
nicht träumen konnte

seinetwegen
ihretwegen
meinetwegen.

Und so
musste er weiter bellen.

Wie
wir alle.


Ja, Entschuldigung!

Ja, Entschuldigung, das mag jetzt kitschig
klingen – einmal mehr -, aber ich sagte:
»Ich weiß schon jetzt, dass
du mir das Herz brechen wirst.«
Und sie sagte:
»Warum sollte ich das tun? Das
wird nicht passieren.«

Und, ja, Entschuldigung, das mag jetzt lustig
klingen – ein weiteres Mal -, aber ich glaube:

Sie hatte recht.

(Und außerdem
könnte es auch schon vorher kaputt gewesen sein.)


Marina Vlady

Bist Du’s?
Ist sie’s?
Wer spielt?

Als kleiner Junge war ich so verschwärmt
in Marina Vlady – wie in so viele
Andere. Nur anders. Weil es immer
anders ist. Und, wer weiß, vielleicht war sie es
am Anfang nicht einmal selbst, die
ich sah, so jung & verschwärmt wie ich war.
Sie hatte eine Schwester, 8 Jahre älter als sie &
ebenfalls Schauspielerin. In der richtigen
Beleuchtung waren sie wie Zwillinge.
Zumindest für meine naiven Kinderaugen.
Und eine Zeitlang wusste ich nichts
von dieser älteren Schwester, die sogar
einen anderen Nachnamen trug.
Welch seltsame Unsicherheit & Verwirrung
wenn ich einen Film mit dieser Anderen sah; mit
dieser Frau, von deren Existenz ich nichts ahnte.
Ich sah sie, glaubte zu wissen, wer sie war
– & zweifelte doch. Sie war der Schwarm,
mit dem etwas nicht stimmte. Weil
das Gefühl nicht passte.
Welchen Namen hatte ich im Vorspann
nicht gelesen? Konnte ich überhaupt lesen –
damals? Hätte ich lesen können?

Ja, es war seltsam. Solange es dauerte.
Und die Auflösung war so banal. Schade.
Und heute? –
Habe ich das alles jetzt erfunden? War es vielleicht
gar nicht so? Wer kann das wissen? Außer mir. Und
weiß ich es denn? Es war verwirrend, ist
verwirrend & bleibt verwirrend; wie
das Gefühl, das ich hatte – jedes Mal
wenn ich Odile sah. Bevor ich erfuhr, wie sich
alles verhielt.
Aber eigentlich geht es ja um etwas ganz anderes.
Du siehst eine Frau….. und…..
Ach, Marina!
Du wurdest nie
zu einer dieser Ikonen, die jeder kennt,
kein Kaffeetassenmotiv, kein
Gesicht auf einer Müslischale.
Und das ist schön.
Du spieltest nie in einem Meisterwerk –
& hättest doch einen besseren Text verdient
als diesen, der alles andere ist als
das. Und ich werde jetzt nicht
nachschauen, ob Du noch lebst
& Deine Schwester tot ist –
oder umgekehrt. Oder
ob Alles ganz anders ist.

 

 

Marina bw


Merkwürdig

Ich wachte also auf.
Wie immer.
Ich wache immer auf
irgendwann.
Eigentlich
ist das merkwürdig.
Nicht
merkwürdiger als vieles
Andere.
Aber ebenso
merkwürdig.
Wenn man darüber nachdenkt.
Nur: wer denkt schon
darüber nach?
Niemand.
Zumindest nicht viele.
(Keine Zeit für sowas! denken die wohl.)
Vermutlich erwachte ich
mit dem Ausdruck der Überraschung
in meinem Gesicht.
Doch es war niemand da,
ihn zu sehen.
Das war nicht überraschend.
Aber merkwürdig.


Tarzan & Godzilla

Schon lange hatte ich
ein Gedicht schreiben wollen
über Tarzan & Godzilla

Doch dann musste ich
feststellen, dass es
das schon gab.

Also
schrieb ich 1
über die Liebe.


Unstimmigkeiten

Irgend etwas stimmte nicht
von Anfang an, aber
man konnte darüber hinweg

gehen
sehen
liegen
küssen
ficken
lecken
kommen

& versuchen, es
zu vergessen, da
man ja niemals will,
dass etwas nicht stimmt

weder am Anfang
noch in der Mitte
oder am

(aber da war es dann auch schon: das)

Ende.


Da war ich also

Schreie, Schweiß, gespreizte Beine,
maskierte Menschen.
Kaltes Licht, Kalte Kacheln, ein
nasser Kopf mit schwarzem Haar
kommt aus einer Öffnung…..

Schläge
& wieder Schreie

Blut, Schmerz

Der keuchende Atem einer Frau
& ein anderer Atem, der noch übt

Ein Mann mit unsichtbarem Mund sagt:
»Ein Junge. Sieht
gesund aus. Aber
ich glaube, er träumt.
Er scheint mir
nicht
lebensfähig.«


Tut-ench-Amun

In der Bücherwand lebte das Bild der Mumie.

In einem der Wohnzimmer meiner Kindheit.
Irgendwo – im zufällig erscheinenden Farbmuster
tausender Rücken aus Leinen, Leder & Pappe wartete
der Tod auf mich. Der Tod als plötzliche Gewissheit.
Götter, Gräber & Gelehrte hieß das Buch
(ein Bestseller, Pfui Deibel!).
Nichts ahnend blätterte ein junges Ich darin –
Fotos goldener Schätze; Vasen, Masken, bunt & schön;
die Landschaften Ägyptens & die Gesichter von Männern, die
sich über einen Sarkophag beugten & die Ruhe eines Toten störten…..
Und diese 1 Seite, die ich umschlug, war
die Grabkammertür zu künftigen Albträumen.
Der Kopf des verstorbenen Pharaos starrte in mein Kindgesicht
aus grauen Augenhöhlen; – Jahrtausende senkten sich
auf mich herab, und der Tod griff nach mir
wie eine Wirklichkeit, von der ich immer nur
fantasiert hatte – in den dunklen Zimmern der Schlaflosigkeit.
So wirst DU aussehen …. So werden DIE ELTERN aussehen ….
So werden DIE BRÜDER aussehen …. grau, papieren,
rissig, geädert, die Lippen zurückgezogen vom brüchigen Gebiss ….
Der Tod Der Tod Der Tod! …. Sieh es dir an, dieses Bild! Das bist

Ich schlug das Buch zu. Stellte es zurück. In die Bücherwand.
Nie wieder wollte ich es öffnen.
Als wäre es notwendig gewesen – noch einmal
hineinzuschauen! Das Bild lebte. Pulsierte in mir
lebendig, nur allzu lebendig – lebendiger als jede Anschauung,
lebendiger als jeder Nachtmahr, plastisch
wie eine überfahrene Katze in der Straßenmitte.
Doch allein – dieses Buch im Hause zu wissen, zu wissen,
dass dieses Foto mir so nahe war; dass dieses Mumiengesicht
aus einer Seite heraus auf die gegenüberliegende Seite des
geschlossenen Buches starrte – aus grausiggrauen Höhlen,
die lid- & mitleidlos waren….. DAS allein, und allein zu sein
mit diesem Buch in diesem Haus in dieser Kindheit mit diesem
Wissen! …..
Natürlich – zog es mich – wieder & wieder – in die Nähe
des Buches – wie es einen immer zieht – in die diversen Nähen
all dessen, was nicht fern genug sein kann….. Es zog mich, und
es zieht mich in die Nähe des Gedankens, in die Nähe des Todes,
in die Nähe der Todesgedanken. Und der Bücher. Wieder & wieder.
Das Buch ging verloren. Irgendwann. In einem Wechsel – bei
einem Umzug. Ich vergaß es. Beinahe. Und
dann kaufte ich es mir neu. Jahrzehnte später. Es zog mich zurück. Doch
es hatte seinen Schrecken verloren. Die Erinnerung an das Grauen
war nicht das Grauen selbst. Ja,
es hatte Tote gegeben – in der Zwischenzeit; Tote, die mich tatsächlich
erinnerten…. an dieses Bild. Und Andere, die
es nicht taten. Jahrtausende senkten sich auf mich herab, und
ich lebe noch. Wie das Bild der Mumie
in der Bücherwand meiner Kindheit.