Monatsarchiv: August 2020

Die leuchtende Perle

Alle Sträucher, Hecken, Bäume
waren in geometrische Form gebracht.
7 Stunden Lärm vom Benzinmotor,
stummes Leid der Pflanzen.

»Ach du dickes Schaf«, flüsterte sie,
»Beete aus Kieselsteinen!
Wie furchtbar. Kalt, grau
& hässlich. Und diese Gipsfigur!«

»Ich blicke in das Gehirn des Nachbarn«, sagte ich.
»Ich würde da nicht wohnen wollen«, erwiderte sie.
»Du hättest viel Platz – in seinem Gehirn.«
Ein Lächeln, das neben mir spazierte.

Wäre ich er, würde ich hinter der Gardine stehen
und sehen, wie sie vorübergeht im Sommerkleid.
Dann würde sie gleichsam verschwinden
im Dschungel des Vorgartens.

Kegel, Kugeln, Zylinder –
was mögen die Tiere denken?
»Bei uns gibt’s einen neuen Hügel«, sagte sie.
»Ich weiß«, sagte ich. »Darunter

liegt der Maulwurf in seinem Bettchen
mit dem fluffigen Kissen & der dicken Decke.
Über ihm hängt eine leuchtende Perle,
und in ihrem Licht liest er ein rotes Buch

über ein Maulwurfmädchen.«
»Mo-mi-ta«, silbte sie. »Wo
kommt die Perle her?«
»Von einem kleinen Fisch,

den er vor einem großen gerettet hatte.
Zum Dank schenkte der Kleine ihm eine Muschel,
die außen schwarz und innen so rot war wie das Buch.«
»Jetzt erinnere ich mich wieder.«

Wir gingen nach Hause. Licht der Abendsonne.
Gleichschenklige Bewegung, parallele
Zehen in Sandalen. Nie kann man sich sattsehen.
Doch der Maulwurf trägt keine Brille.

Farbenfrohes flatterte im Garten
und saugte an dem, was Menschen Unkraut nennen.
»Was machst du jetzt?« fragte sie.
»Ich werde mich ins Bettchen legen

und auf das Leuchten warten.
Und du?« »Ich weiß
nicht. Vielleicht noch
etwas spielen.«

Ich bin ein Hochstapler
der Bücher. Ein bunter Turm
auf dem Nachttisch
könnte der Beweis sein.

Schwarzweiß flimmerte ein Film
auf mir. Körnige Bilder
& Werbung für Getreideflocken.
Sooo knusprig!

Ich drückte einen Knopf
und schlug ein Buch
auf. Seite 303 (leicht wellig).
Schiller? Na ja.

Als sie unter die Decke kam,
wurde es glatt & warm.
»Man könnte«, sagte sie,
»nachts in den Garten gehen

und schauen, ob es aus dem Hügel
gemütlich leuchtet. Was meinst du?«
»Ich habe keinen Schimmer.«
»Das lässt sich ändern. Hauptsache,

du bleibst lange bei mir.«
Ich nahm die Brille ab.
Der Schirm der Lampe war
ein weißer Zylinder.

»Natürlich«, sagte ich,
»du kennst doch die Floskel –
Unkraut vergeht nicht.« Unter
dem Plumeau blühte es dunkel.


Der Anhalter

In der prallen Sonne (sie schien
jetzt schon seit so vielen Wochen,
dass sie wie ein nerviger Gast war)
stand ein Anhalter neben der Landstraße.
Er hatte ein Gesicht & einen Körper.
Ich hielt an und ließ das jenseitige
Seitenfenster herunter. Das Gesicht
erschien in der schwülen Öffnung und fragte:
»Fahren Sie nach« (es nannte den Namen
des übernächsten Ortes)»?«
»Nein.«
»Wo fahren Sie denn hin?«
»Dorthin – wo Sie auf keinen Fall sein wollen.«
Abrupt trat ich aufs Gaspedal. Es knirschte & staubte.
Im Rückspiegel sah ich sie stehen. Mir nach blicken.
In der prallen Sonne. (Geh doch endlich
nach Hause! Ich kann dich nicht mehr ertragen!)
Ich schloss das Seitenfenster (diese Hitze!)
und fuhr in den übernächsten Ort.
Der Mann hätte doch erkennen müssen,
dass im Wagen kein Platz übrig war.
Ich & mein Ego in klimatisierter Luft.


Menagerie

Oft genug habe ich belegt,
wie besessen ich bin.
Und darauf bestehe ich.

Sie träumte
von einem verlorenen Rock,
der wie ein Fetzen Mondlicht

auf einer saftigen Wiese ruht.
Duft der Dämmerung,
Stille der Grashalme.

Ich habe doch gar keinen
Rock, denkt sie, der weiß
ist, wie konnte ich ihn verlieren?

Da erhebt er sich
& fliegt davon –
ein gigantischer Zitronenfalter.

Ich hörte etwas, das ich
für einen unruhigen Traum hielt.
Es war 1 vor 3 in der Nacht,

ich legte das Buch auf das Sofa,
ging durch den Flur & lauschte
an der Schlafzimmertür.

»Alles in Ordnung?« flüsterte ich.
»Was machst du?« fragte sie.
In meiner Vorstellung stürzte eine Wand ein.

So laut war das Getöse. Gleich nebenan.
Ich ging ins Bad & schaltete das Licht ein.
Ein fremder Kater schaute über den Wannenrand,

groß & massig, getigert, mit weißen Flecken.
Als er mich sah, jammerte er. Dann
geriet er in Panik, als wäre er

ich, gefangen in einer Katze, die gefangen ist
in der Badewanne in einem fremden Haus.
Nichts bietet Halt.

Sie kam aus dem Schlafraum.
Traumverschlafen. »Was ist?«
»Katze«, sagte ich. Zwei Delphine,

ein Frosch & ein Pinguin waren schon
in die Wanne gefallen; jetzt holte er noch
eine Ente vom Fensterbrett. Enge

weiße, glatte Welt. Krallengeprassel
auf Emaille. Erst als ich einen Wäschekorb
ganz langsam hineinstellte,

sprang der Kater aus der Wanne,
als hätte er nie ein Problem gehabt.
Und da er sich erinnerte,

wo er hereingekommen war…..
Eng, violett & kurz
war ihr Unterhemd, sonst

trug sie nichts. »Mist«, sagte sie,
»ich hab vergessen, die Terrassentür
in meinem Zimmer zuzumachen.«

»Schnell weiterschlafen«, sagte ich,
»Du hast im Traum deinen Rock verloren,
und jetzt irrst du

unten ohne über dämmrige Wiesen.«
»Spinner«, sagte sie lächelnd.
»Ja, Spinner gibt’s da wahrscheinlich auch,

obwohl ich nur einen Zitronenfalter gesehen habe,
und der war eigentlich dein Rock.«
»Gute RestNacht«, sagte sie,

und ein kleiner, runder Mond verschwand
im Bett. Das Buch
hatte sich nicht vom Sofa bewegt;

das fand ich
sympathisch. Es war wie ich,
wenn nichts mich stört.

Ihr Rock landete auf einer Lupine,
sie schaukelte, er flatterte. Die Träumerin
denkt: wie warm es noch ist,

eigentlich brauche ich ihn nicht.
Die Luft tut gut. Niemand sonst scheint
dort zu sein. Nur ich, der nicht

zu sehen ist. Und eine zärtliche Brise,
die überall hinkommt & tut,
was sie will.


Leicht schwierig

Im Vergessen bewußt
Sein. Vergessen
daß es einem gutgeht

daß man glücklich ist
in der Bewußtlosigkeit
der Gegenwart

Nichts
soll mich erinnern
Sei still

Nein
wenn du still bist
fällt es mir wieder ein

Sag was
Nein, doch nicht
Das

Wie leicht es schwierig wird
glücklich zu sein
wenn man es ist


Die vertauschten Köpfe

Also, ich habe ja diese zweibändige Ausgabe
mit Werken Eduard von Keyserlings.
Auf den Umschlägen der Bücher
& des Schubers ist aber ein ganz anderer
Keyserling abgebildet.

Ich gebe zu,
der Eduard war extrem hässlich
(seine Freunde nannten ihn Todchen).
Der Mann auf den Umschlägen
sieht gut aus. Zumindest besser.

Immerhin: ein Philosoph.
Es hätte schlimmer kommen können.
Aber alles hat seine Grenzen.
Vor allem das Verlagswesen.
Zensur der Gesichter.


Unbegreiflich

Immer leichter fühle ich mich,
und irgendwann werde ich abheben,
wenn keine Erinnerungen mich mehr am Boden halten.
Die letzten Bilder, Worte, Filme
in den Köpfen derer, die mich kannten,
werden verschwunden sein.

Das ist doch Unsinn.
Sie können nicht Alle überleben,
die Sie kannten. ICH kenne Sie,
und Sie sind so viel älter als ich.

Niemand lebt mehr,
der mich als Kind gesehen hat.
Also muss ich mir selber glauben,
dass ich ein Kind gewesen bin;
niemand kann es bezeugen.

Das können Sie nicht wissen.
Und außerdem: gibt es keine Fotos?

Ach Gott, wollen wir uns auf dieses Niveau begeben?
Fotos! – Hatten Sie nie diese Gedanken?:
Es gibt eine Zeit, da ist man überall.
Gespiegelt, erinnert, gesehen, gehört,
vervielfältigt. All das
vergeht. Stirbt. Am Ende
existiert man nur noch
in sich selbst.
Ohne Verbindungen.

Ich wusste nicht,
dass Ihnen DIE ANDEREN so wichtig sind.

Ich rede doch nur von mir.

Das ist mir auch schon aufgefallen.

Ich bin eine Geistererscheinung
in den Anderen. Wenn die Anderen sterben,
bleibt nur das Greifbare – und das Greifbare
ist so gut, ist so schlecht wie Nichts.

Sind Sie lieber eine Erscheinung als Sie selbst?

Hören Sie auf Fragen zu stellen, sonst
muss ich alles bezweifeln, was ich sage.

Sie denken nur an diejenigen,
die Sie auch kennen oder kannten, an diejenigen,
die Sie selber wahrgenommen haben.
Vielleicht sind Sie einmal an einem Genie vorbeigegangen,
dem sich Ihr Bild eingebrannt hat. Vielleicht auch
gibt es Sie in einem Buch, und Sie wissen es nicht.

Sie wollen mich trösten. Als wäre ich
nicht ganz bei Trost. Das ist nett,
aber sinnlos.

Der Postbote kennt Ihren Namen.

Ist das mein Name?
Er wurde mir gegeben.
Vielleicht gehörte er jemand anderem.

Es geht Uns Allen gleich.

Von außen betrachtet,
aber da bin ich nicht.

Vielleicht werden Sie irgendwann da sein.

Ich bliebe lieber hier.

Aber

Bitte lassen Sie mich

hier

bleiben!

Gefällt es Ihnen denn so gut hier?
Das wusste ich nicht.

Nein.

 

 

 

Was denken Sie?

Nichts Nichts Nichts.
Ich betrachte nur
die Parallelen auf dem Fußboden.

Das sind bloß Schatten.

Meinen Sie,
das wüsste ich nicht?
Die sind das Schönste
an der Abendsonne.

Möchten Sie spazierengehen?

Nicht in dieser Welt.
Lassen Sie mich
schlafen.


Verlorene Liebesmüh

Abend, 29 Grad.
Ein Junge wird von einem Mädchen überholt
an der Gabelung vor meinem Haus.
12 oder 13 Jahre alt (ich kann ja kaum noch
schätzen heutzutage; früher wären sie älter
gewesen). Zwei Fahrräder in Fortbewegung,
die denselben Weg nehmen.
Das Mädchen erhebt sich vom Sattel,
tritt stehend in die Pedale. Der Saum
der Shorts ist so oft umgeschlagen
wie möglich. Tiefes Blau unter
dem segelweißen Top. Das Vorderrad des Jungen
verlässt den Boden. Das verstehe ich.
Aber das Fahrrad des Mädchens hat
keinen Rückspiegel.


Ein fröhliches Gedicht

Ich las ein trauriges Gedicht
in einem blauen Buch
voller Frauen, die lächelten.

Ihre Absätze hämmerten in meinem Kopf,
ihre Kleider rauschten wie Laub
& streiften die Möbel,

bis der Staub durch die Helligkeit
der Seiten regnete. Ich musste niesen
& sie alle ausziehen,

um zur Ruhe zu kommen.
Wie still es ist,
wenn nackte Frauen schweigen.

Sanfte Hügel,
lautloser Stoff,
farbenfrohe Entblätterung.

Jetzt ist es gut.

Ganz leise wandeln bloße Füße,
ganz langsam
schließe ich das Buch.