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Im Gedächtnis der Welt

Du warst in dieser Welt
Ich hatte Angst vor dir
Ich fühlte mich beschützt von dir

Wieviele sind noch am Leben
Die dich kannten
Wirst du vergessen sein

Wenn ich sterbe
Als wärest du nie gewesen
Auf dieser Welt 

In der dein Schutz mir fehlte
Als du verschwunden warst
So jung so früh

Es ist egal
Nur die Wesen vergessen
Was verwest

Im Gedächtnis der Welt
Bleibt alles Erinnerung
Sie weiß dass du da warst

Und die Angst ist vergangen

Der Faltenwurf der Spiegel

Die Spiegel werfen Falten
Egal wie jung man auf die Fläche blickt
Alles verkehrt
Und der Geist unsichtbar
Erkenne dich selbst
Wie du nicht bist
Stumm & geruchlos im Glas
Eingeweckt und doch verfaulend
Tiefe nur vorgetäuscht
Leben als optisches Phänomen
Was man da sieht
Soll ein Mensch sein?
Sein sein?
Silbrige Gaukelei
Geht vorbei, geh vorbei
Fabrikat aus Splittern
Ein Ganzes wirst du nie
Lass dich fallen
Wirf dich hin
Wie der Spiegel die Falten
Wie die Schwerkraft die Alten
Täusche vor geh zurück
Schmeiss noch einen letzten Blick
Auf Alles
Was nicht du ist 
Auf Alles 
Was du nicht bist
Spieglein Spieglein Märchentand 
Plisseevisage Stundensand 
Die Spiegel werfen Falten
Sie solln mein Bild behalten




Phazit

Im Sitze meines Lebens 
(was bei Anderen im Laufe heißt)
gemütelte ich häufig auf dem Sopha mit p-h
und Büchern in den Tellern meiner Hände

Mit Blätterfingern fuhr ich durch das Laub
der Bände – ganz fremd wurde mir da zufurchte;
fremd der Waren Welt mit ihren Würglichkeiten
und ihrer Enge, die außerhalb des Geistes liegt

Im Rascheln der Romane war ich zu Hause
im Rauschen der Gedichte unterwegs
Der stumme Besucher in den Winkeln
der Biographien: das war ich

Reich war ich in meinen Reichen
Auf den Brettern, die Regal bedeuten
Traf nie einen meinesgleichen
Mischte mich nicht unter Meuten

Was zur Neige geht, ist nicht mein Leben
Eine Welt nähert sich dem Ende
Was Gedanken leise weben
Fällt am Schluß durch offne Hände

Jetzt, dann & in Ewigkeit

Und dann wird kommen die Zeit
Da man uns beneiden kann
Um diese Gegenwart

Und beneiden wird man uns
Darum, daß wir tot sind
Und wir würden uns freuen

Tot zu sein wie wir
Uns nie unseres Lebens gefreut haben
Wenn wir es noch könnten

Also —
Was jammern wir
Es geht uns noch gut

Und wird uns noch besser gehen


Alarm !

ALARM!
WIE? WAS? SIE HÖREN
NICHTS?

Je nun, dann brauche ich ja nicht zu schreien,
obwohl ich es möchte.

Vorsicht – wenn Ihnen jemand etwas in eine Körperöffnung steckt,
könnte es Ihr Leben verändern.

Zerstören.

Erinnern Sie sich? Ich konnte keine Grille mehr hören.
Ich erwähnte es einmal.

Nun habe ich ein ganzes Volk im Ohr.
Dem Facharzt sei Dank!

ZIRPZIRPZIRPZIRPZIRPZIRPZIRPZIRP
ZIRPZIRPZIRPZIRPZIRPZIRPZIRPZIRP
ZIRPZIRPZIRPZIRPZIRPZIRPZIRPZIRP
ZIRPZIRPZIRPZIRPZIRPZIRPZIRPZIRP

Und wenn Wasser fließt,
Bäume rauschen,
eine Plastiktüte leise knistert –

gibt es ALARM! FEUERALARM!
SCHRILLEN KREISCHEN PFEIFEN
im ganzen Kopf, fast könnte man denken

man hätte gar nichts darin,
da alles so

HALLT.

»Ist Ihnen das schonmal passiert«, fragte ich.
»Extrem selten«, sagte der Arzt.

Ein Glück, dass das Leben so begrenzt ist.
Da möchte man nicht noch mal 20 sein

(und so verkorkst wie damals).

Plötzlich gibt es wieder eine Zeit davor
und eine Zeit danach.

Eine Zäsur und Gedanken wie
‹Ach, hätte ich dieses Buch doch gelesen,
als es mir noch gut ging!› — obwohl

es einem vielleicht nie gut gegangen war. (Oder
eigentlich doch; man hatte es nur nicht gewusst.)

Ein neuer Orientierungspunkt in der Zeit
wie der Tod eines nahestehenden Menschen.

Und wer stünde einem näher
als der eigene Körper.

Werde ich jetzt böse, verbittert, unerträglich,
einsam, asozial? – Ach, war ich das
nicht schon immer?

Und doch –

Die Hoffnung tickt ganz leise
wie das Werk einer alten Uhr,
die eine falsche Zeit anzeigt.

Sinnlos bewegt es die Zeiger.

Nein, halte sie nicht an dein Ohr.
Selbst wenn du nichts mehr hörst.

Kannst du die Zeit noch lesen?
Es ist egal.

Herbst.

Falls du noch gehst –
gehe vorsichtig
am Laub vorbei

damit es nicht raschelt,
denn sonst gibt es


Momentaufnahme (für die Ewigkeit)

Eine Träne rinnt ihr über die linke Wange.
»Wie groß er heute war«, sagt sie.
In der Tat: zwei Mal hatte sie leicht gewürgt,
und kühles Nass war den Damm hinab gesickert.

Sie lächelt und kam
unter dem Tisch hervor. Weiß & fleckig
stand der Mond im All; er besorgt uns
die Romantik. Wie groß er heute war!

So kommt es mir
zumindest vor. Eine optische Täuschung,
die etwas mit Nähe zu tun hat, glaube ich.
Ein Nachtfalter hat sich an die Scheibe geheftet

im Schein der alten Lampe mit dem grünen Schirm.
Ein leiser Wind bewegte die Zweigsilhouetten,
und der Tag gleitet unausweichlich in die Vergangenheit.
Einen Moment noch

blieb er uns gegenwärtig. Der Moment —
wie groß er heute ist!
Er berührt die Zukunft — und reicht vielleicht
noch weiter. Wir werden

es erlebt haben.


Das Unglaubliche

Sein 91jähriges Gesicht
konnte ich mit seinem 70jährigen Gesicht
einfach nicht
in Verbindung bringen

War er das?
Nein
Das konnte er nicht sein
Oder doch?

Diese 21 Jahre waren so lang
wie alle 21 Jahre lang sind

Wie konnte – – –

Die Gleichförmigkeit der Zeit hilft
Niemandem
Der Verfall hält sich nicht daran
Was lebt verfällt ungleichmäßig

Doch das eigentlich Unglaubliche:
21 Jahre lang hat er in den Spiegel geschaut
Heute sehe ich aus wie gestern, hatte er gedacht
Am Tag darauf dachte er es auch

Er erkennt sich noch heute
Ja, das bin ich, denkt er

Manchmal war das Erschrecken groß
Als hätte er sich jahrelang nicht gesehen
Doch das verging

Wie er selbst


Keine Zeit für Zeitgenossen

In der Gegenwart lebe ich
selber. Ich
habe keine Zeit

für Bücher meiner Zeit.
Lasst mich in Ruhe
die Toten kennen

lernen; den Blick werfen
aus meinem Zeitfenster,
das so schmal ist

wie ein Sarg.
Ich muss leben
vor meiner Zeit.


Zeitkritik

Diese zeitkritischen Dichter,
diese Gesellschaftskritiker —

Schon toll, gell?
Langlebig nicht, aber toll.

Ich kann die Zeit ja auch nicht
leiden. Die macht alt. Und tot.

Und die Gesellschaft erst.
Zum Kotzen! Nur auf

dem Friedhof kann man sie ertragen.
Also treffen wir uns da. Kommen Sie,

wenn ich tot bin. Lang leb ich
nicht mehr, aber toll.


Unter meiner Zeitlupe

Auf dem Motorroller
werden Schnecken zu Bienen,
heiß wird flott, es knattert,
es kracht, es spuckt & röhrt,
es raucht aus dem Auspuff,
oben ein Helm, unten ein Höschen
geöffnete Schenkel, nackt & glatt,
jedes Haar, das dort flimmern könnte,
ist wegrasiert. Alles vibriert.

Es ist so viel mehr
als Sex. So viel mehr
als Erotik. Es trifft mich
so tief im Kern
des Wesens, das nicht nur mein
eigenes ist. Berührt Bereiche,
die das Körperliche niemals
erreicht. Wehmut
& weltumspannende Freude.
Eine erträumte Jugend, die
niemand jemals haben kann.
Vergänglichkeit im schönsten Augenblick
des noch nicht Vergangenen.
Eine reine Idee. Von allem befreit.

Ja, es mag aussehen,
als stände da ein schmutziger alter Mann
an der Straße. Gleich wird ihm sicherlich
der Geifer aus dem Maul laufen, er wird sich
unsittlich berühren und sich vorstellen,
etwas Altes in etwas Junges zu stecken,
um sich aufzuladen.

Nein. Vielleicht stehe ich
noch einen kurzen, nachzitternden Moment
dort. Denke an die Vergeblichkeit
des Versuchs, Bilder in all ihren
Breiten, Tiefen. Längen &
unsichtbaren Dimensionen zu bewahren.
Spüre, dass ich schon nicht mehr
so viel spüre wie in jenem Augenblick,
der eben erst vorüberrauschte.
Vielleicht ein dummes Lächeln im Gesicht.
Ein Lächeln, von dem man nicht wissen kann,
wie dumm oder traurig es ist, und doch
auch glücklich.

Die knappen Shorts
waren von einem Gelb gewesen,
wie es Kinder verwenden,
um die Sonne zu malen.

Unter meiner Zeitlupe
ist das Vergehen immer noch Vergehen,
außerhalb alles längst vergangen.
Lasst mich stehen. In der Ferne
ist noch leise zu hören, was ich gesehen habe.
In der Stille brennt noch ein Bild.
Es duftet. Ich will
versuchen, den Rauch festzuhalten.


Zeitbogen

All diese Tode
die die Toten nicht mehr erleben
All diese Lebenden
die in der Welt der Toten noch lebten
und jetzt nicht mehr da sind
so wie jene nicht mehr hier sind

Gut dass du tot bist
So hast du ihren Tod nicht mehr erlebt
Gut dass sie tot ist
So wird sie meinen Tod nicht mehr erleben

Bewahre die Welt
in der du lebtest
Dann bleiben alle die fort sind dort

Für einen Augenblick nur
möchte ich in eine vergangene Welt treten
und mich wundern

»Ach! Du hier? Wie schön.
Wo ich herkomme, kennst du niemanden.
Nur ich erinnere mich an dich.«

»Du lügst doch.«
Ja, vielleicht. Ich möchte lügen,
dass die Zeit sich biegt.

In ihrem Bogen wandeln
Im Wandel der Zeit eine Pause einlegen
Für einen Augenblick nur

Wundern
Und alle bleiben lassen
Wo sie waren

als sie mich an sich erinnerten


Meine kleine Sanduhr

Meine kleine Sanduhr steht
in meinen Armen.
Sie spiegelt sich nackt
im Fenster, weil

der Rolladen geschlossen ist.
Im Tageslicht wäre ihr Abbild
geisterhaft – so als hielte ich
ein Wunschbild

fest. Ganz fest.
Rücken, Taille, Hüfte –
die Zeit vergeht,
während sie steht.

Jedes Korn ein Bruchteil
eines Augenblicks.
Ich fasse, begreife, halte ihn
fest, fest. Fest.


Zeit

Mein Vater kommt vom Einkaufen zurück
Er ist tot
Befremdend billig
Sind die Lebensmittel
Er schaut mich an
Erkennt mich nicht
Ich bin älter als er
Aber es stört ihn nicht
Dass ich da bin
Sein Tod ist fast
So lange her wie seine Geburt
Zurücklag als er starb
»Die Buttermilch war heute günstig«
Sagt er
Ich verstehe
Nicht was Vergangenheit ist
Was Gegenwart
Alles ist
Zeit

Alles ist
Gleich
Zeit
Ich

»Gut dass du wieder da bist«
Sage ich

 


Album der Spiegel

Ein Album voller Spiegel
Geöffnet ohne Brechungen
Aufgeschlagen ohne dass es splittert

Flüchtiges Album der Gegenwart
Das Ich als optisches Phänomen
Scheinbar verkehrt

Die Erinnerungen nicht festgehalten
Sondern losgelassen
Hinter der Stirn im Spiegel

verkehrt verblasst
getönt beschlagen

Das Blättern fällt
schwer ein Spiegel
wiegt mehr als

Papierene Vergangenheit
Und nur wer einem ganz nahe ist
wird reflektiert

Für einen Augenblick
Verkehrt verblasst
getönt verschwunden

Ein Album voller Spiegel
Geöffnet ohne Brechungen
Aufgeschlagen ohne dass es splittert

Papier Glas Silber
Seiten Blätter Farben

Nirgends ist Schwarzweiß
Doch in keinem Album gibt es Zukunft


Unser Planet

Wenn wir uns täglich begrüßen
als hätten wir uns 1 Jahr
lang nicht gesehen

Gewinnen wir dann Zeit?
Wie alt sind wir?
Wir sind

auf einem anderen Planeten
Seine Zeitrechnung
ist unsere

Wir werden sehr alt
werden gemeinsam
auf unserem Planeten


Knechtseelen

Brave new Gegenwart
Wo die Knechtseelen immer erreichbar sind
Immer abrufbar für die Bosse
Wo sie sich gebraucht & wichtig fühlen können
In ihren Knechtgruppen, die sie in ihren Taschen mit sich führen
Ruf mich an! Schreib mir! Ich will
Dein Sklave sein!
Nicht dass ich viele eigene Gedanken hätte, aber diejenigen,
die ich habe, darfst du mir auch noch nehmen.
In diesen geistfernen Zeiten
Wo die Zeit selber nichts mehr wert ist
Jeder Angestellte seinem Ansteller mit feuchten Händen die Ketten überreicht
An denen er herumgeführt werden kann wie an einem Nasenring…..
Hier, meine Nummer. (Die Nummer bist du selber!)
Und das Schlimmste: sie merken es nicht
In all ihrer Dumpfheit
Zucht & Ordnung
Prägung der kleinen Münzen
Erziehungen, Züchtigungen
Nutzvieh!
Vernetzt
Verkäfigt
Gefangen
Brave new Gegenwart
Und sie verstehen ihre enge Welt nicht mehr
Wenn einer sich nicht mitkrümmt, mitbuckelt, mitschleimt
Bald werdet Ihr tot sein! (in 10, 30 oder 50 Jahren) Was war Euer Leben?
Warum habt Ihr es den Anderen so leicht gemacht?
Ausgerechnet Denen!
Das bisschen FreiSein, das einem möglich ist in dieser Welt
ist Euch immer noch zu viel?
Arme Knechtseelen
Die Ihr mein Mitleid noch als Beleidigung empfindet
Ja, Ihr seid brav
So brav, dass man Euch die Köpfe tätscheln möchte
pat pat pat


Herr psst

Vorbei die Zeit
da man nackt auf dem Sofa saß
& dachte: ‹bald wird es dafür zu kalt sein›

Ich zitiere mein Zittern
der vergangenen Jahre, sinngemäß
Furcht

lässt die Bäume erröten
und die Furchtsamsten entblättern sich
als erste

(Ich kenne Menschen
bei denen ist es ganz
ähnlich)

Es ist
als dächten die Bäume
wie Menschen

zeit
weise
viel

zu viel


Die innere Zeit

Ich vergesse oft
wie jung du bist

& oft vergesse ich
wie alt auch schon

Als wäre die Zeit nicht
messbar, die hinter dir liegt

Wie alt bist du
wirklich?

Wie ist die Zeit
in dir

vergangen? In
Jedem vergeht sie

doch
anders.

Sag mir
wie spät es ist

in deinem
Innersten

Nie vergesse ich
wie ich vergehe

Als wäre ich selber
die Zeit

auf der Flucht
& du würdest sein

der einzige Augenblick
an den ich

mich erinnere
am Ende

wenn es
zu spät ist


Unverschaukelt

 

Mein Leben lief
wohl darauf hin
Aus: Ich saß

auf einer Schaukel
in der Mitte eines verwahrlosten
Spielplatzes abseits

der Straße Versunken
in den Anblick der Bewegung
neben mir Die Zeit

verging mit dem Pendel
Schlag der anderen Schaukel
an meiner Seite Die junge Frau

hatte so viel Schwung Immer
wieder hielt sie waage
recht inne in der Luft

wie ein Horizont
mit langen blonden Haaren
»Gefühlsorgasmus« sagte

Sie schwärmerisch Dann
schaukelte auch ich ein
bisschen »Soll ich

dich anschubsen?« »Nein« sagte
ich mit wenig Schwung
Menschen gingen

vorbei
& bedeuteten
Nichts

Sie verschaukelte sich nicht
Ich verschaukelte mich nicht
Wir verschaukelten uns nicht

Wir hielten uns
fest an den Ketten
die uns hielten

Die Zeit bleibt
nicht stehen
wie ein Augenblick

an den man sich erinnert
Sie bleibt nicht
stehen wie die junge Frau

zwischen dem
Auf & Ab
der Schaukel

Dieser Bruch
Teil eines Augenblicks
wäre eine schöne

letzte Erinnerung
bevor ich still
stehe

image


In der Spiegelwand

 

Gerne würde ich
ja etwas Tiefsinniger
es schreiben aber ich
sagte bloß Ich kann
deinen Hintern gar nicht
sehen
als ich in die Spiegel
Wand schaute gegen
über dem Bett gegen
über dem Bett stand ein kleines Regal
vor den Spiegelungen die
Frau lag auf den Bäuchen
ihrem & meinem und sie blickte
hinter sich in die Wand wo
Wir ein Bild bildeten mit
vertauschten Seiten so
leicht war sie & zart nicht
die Wand die Frau so
zart dass ein Blick ihre Finger
hätte brechen können vom
Herzen ganz zu
schweigen & doch
spürte ich eine gering
fügige Erleichterung in der Tiefe
als sie sich bewegte & abhob sie
sagte Da und über dem Regal
ging der kleine Knackmond auf
und Alles ward Licht + Schein & vor
sichtiges Gelächter und
gerne würde ich
ja etwas Tief
Sinnigeres schreiben aber was
wäre tiefer & sinniger & tief
sinnlicher als solch ein Moment
An- & Augenblick der Gegenwart
& der Versuch
ihn & die Verwirrung ihn & die
Verbundenheit zu bewahren zu be
wahren wie den Schein
des Mondes dieses Mondes
in der Spiegelwand


Nachts fahren hier keine Züge

 

Die Lichter des Bahnhofs leuchteten auf der anderen Seite
der Straße. Ich betrachtete sie
durch die Fensterfront des Hotels.
Die Bahnhofsuhr war verdeckt durch einen Pfeiler.
Ich saß still
hinter dem Empfang
des Hotels.
Ich hätte mich bewegen müssen,
um die Uhr ablesen zu können.
Aber ich wollte mich nicht bewegen.
Ich wusste, es war zu spät
für die letzten Züge –
& zu früh
für die ersten.
Denn nachts fahren hier keine Züge.
Mehr brauchte ich nicht
zu wissen.


Zeit & Raum

Es war 10 vor 4 am
Nachmittag. Längst
hätte ich schlafen müssen.

Leuchtende Ziffern
auf einer digitalen Uhr.
Rot. In dunkler Umgebung.

Bei Kilometer 15,5 hatte ich
einen Unfall gehabt. Tod
& Blut an einem Abend,

dessen Datum ich nicht
im Kopf hatte. Es bestand
kein Zusammenhang. Es

waren nur Zahlen. Die einen riefen
eine Erinnerung
wach. Die anderen waren

das Erinnerte. Wieder
andere hatte ich
vergessen. Sie

beschrieben
einen Punkt
in der Zeit. Und

einen Punkt
im Raum. Getrennt
von einander. Vereint

in meinem Denken. Ich
konnte mich drehen &
wenden, wie ich wollte,

aber schlafen konnte ich
nicht. Und dann dachte ich
an etwas Anderes.

Getrennt in
Wirklichkeit. Vereint
in der Erinnerung. Im

Übrigen hatte ein Tier
den Tod gefunden.
Schließlich

war es 4 –
& es passierte immer noch
Nichts.

Wann ich ein
schlief weiß
Niemand.


Irgendwas mit Star Trek

Ein verwittertes gelbes Flugzeug stand auf dem Gelände.
Einmotorig. Über die linke Tragfläche hinweg kletterten wir
Kinder in sein Inneres. Wir waren zu zweit, und
mehr hätten auch nicht in die Maschine gepasst. Obwohl….
Eine gestreifte Spinne hing zwischen den Instrumenten;
sie konnte nicht fliegen, aber Fliegen flogen in ihr Netz
durch die Löcher der gesplitterten Scheiben. Ich behielt sie
im Auge, diese Spinne. Etwas ängstlich. Etwas angeekelt. Aber
nicht einmal sie konnte mich vom Sitz des Piloten vertreiben.
Es roch nach Metall, es roch nach Rost & Vergangenheit.
Wir waren am Boden. Wir blieben am Boden. Alle Zeiger standen
auf 0. Und nur unsere Fantasie
konnte den Propeller noch in Rotation versetzen.
Die beflügelte, beflügelnde Fantasie der Kinder. Es muss
wenige Jahre vor der ersten Mondlandung gewesen sein.
Es gab noch keine Flaggen dort oben, keine Fußspuren.
Nichts, was Reflexionen & Projektionen hätte stören können.
Der rothaarige Junge, der hinter mir saß, war erst vor kurzem
nach Deutschland & in meine Schulklasse gekommen; sein Vater,
ein amerikanischer Offizier, war hier stationiert. Flaggen
flatterten vor dem Gebäude, in dem sie wohnten. Unsere Eltern
unterhielten sich darin. Der Junge erzählte mir von Amerika,
das ich nur aus Filmen & Fernsehserien kannte. Auch den Mond
kannte ich nur aus Filmen & Fernsehserien. Wir wussten nicht, wo
das Flugzeug gewesen war. Also konnte es überall gewesen sein. Über
All. Das gefiel uns. Und ich kannte niemanden sonst, der aus einem
so fernen Land kam wie der Junge mit den roten Haaren. Ich drückte
Knöpfe, die längst keine Funktion mehr hatten – & die Zeit flog
dahin. Am Boden. In unseren Köpfen. In die Zukunft.

Irgendwann erzählte er mir von seiner liebsten
Fernsehserie. Die Handlung drehte sich um Außerirdische, drehte
sich um ein Raumschiff & um fremde Welten. All
es war so weit entfernt – wie Alles Andere, das ich nicht kannte. Und er
zeigte mir Fotos von einem Mann mit seltsamen Ohren & seltsamen Augen
brauen. Faszinierend, dachte ich. Oder so etwas Ähnliches mag ich
gedacht haben. Einige Jahre später kam die Serie
nach Deutschland. Im selben Jahr als das Apollo-Programm eingestellt wurde.
Wir wohnten längst woanders. Ich ging
auf eine andere Schule. Die alten Kontakte waren ab
gebrochen. Und ich erinnerte mich – als ich die erste Folge sah…..
Das Flugzeug, die Spinne, die Flaggen, die Erzählungen….. Ich
mochte die kurzen Uniformen der weiblichen Besatzungsmitglieder.
Schon damals. Es war alles anders als ich es mir vorgestellt hatte.
Wie so oft. Aber es gefiel mir. Was nicht so oft der Fall war.
Den Ton einiger Folgen nahm ich mit dem Kassettenrecorder auf, und
nachts im Bett in meinem dunklen Zimmer hörte ich diesen Ton
zu meinen eigenen Bildern. Immer wieder. Science Fiction. Schon
der Kassettenrekorder hatte etwas davon. Verglichen mit unserem alten
Bandgerät. Ich drückte Knöpfe – & die Zeit flog dahin. Im Bett. In
meinem Kopf. In die Zukunft. Und sonstwohin.

Und 42 Jahre später bin ich gelandet. Auf dem Boden. In einer
Wohnung, die nicht die meine, in einem Raum, der mir nicht mehr
fremd ist. Zwischen gespreizten Schenkeln. Gespreizt
wie Tragflächen. Und die einzige Licht
Quelle ist ein eingeschalteter Fernseher hinter mir. Ein
charmant-gealtertes Röhrengerät. Gealtert bin ich auch. Doch
weniger charmant. Bekannte Namen erklingen
in der Nacht. Kirk. Pille. Spock. Uhura. Ein Film vom Ende
der 70er. Wiederum eine andere Zeit. Propellernde Zungen. Ein gewaltiger
Mond ist aufgegangen. Der damals noch nicht existierte. Bemannter Raum
Flug. Peterchens Arschfahrt. Auch so’ne Kindheitserinnerung. Es riecht
nach Lust. Nach Jugend & Gegenwart. Im Geflacker des Films
sehe ich wie ein Gesicht sich verändert. Ein Mund sich öffnet. Im Rausch.
Und noch mehr. Öffnet sich. Und jemand ruft:
»Alarm, Alarm! Ein Eindringling! Alles auf Gefechtsstation!«
Und ein anderer ruft: »Scotty, bitte kommen!« – dabei heiße ich gar nicht so.
Gelächter säuft ab. Und erstickt in Körpersäften. Und sie flüsterschreit:
»Oh Gott, oh Gott!«, aber auch das ist nicht mein Name.
Science Fiction. Mit wenig Science. Immer wieder. Und es ist immer dieselbe Zeit,
die fliegt. In unseren Köpfen. Die Zeiger stehen nicht. Es
scheint nur so. Es sei denn, es ist etwas kaputt. Alles
auf 0. Wir waren zu
zweit. Im Cockpit. Und doch nicht
allein. Und niemand weiß wie
& wann die Spinne gestorben ist.


1984

Mein Arm unter ihrem Nacken.
Entspannung. »Jahrgang 84«, sagte sie.
»Was hast du 1984 gemacht?«

»Nichts«, sagte ich. »Das war die Phase
nach dem Abi, wo ich nichts gemacht habe.
Außer Lesen & Saufen vielleicht. 7 Jahre

lang. Und von deiner Geburt
hat mir auch keiner was gesagt.«
Sie atmete ein Lächeln aus.

Vielleicht trafen sich
in diesem Moment unsere Blicke –
dort oben. An der Zimmerdecke.

»Ach, halt«, sagte ich, »1984
kam der Film 1984 in die Kinos. Mit
John Hurt & Richard Burton. Guter

Film. Den habe ich gesehen. Damals.«
Wie praktisch, wenn der Titel eines Films
gleichzeitig sein Erscheinungsjahr ist. Wie

leicht man sich sowas merken kann. Aber
viel interessanter war doch die Frage:
Wo war Sie 1960 gewesen?


Passanten ohne Zukunft

Ein neues Du
ohne Zukunft

im Vorüber
Gehen

Es kommt
& passiert

& wird
vergangen sein

Und jetzt

Du!

Und jetzt

Jetzt
& Jetzt
+ noch 1

Jetzt

ohne Zukunft

Zukunft
die Wir vergessen im

Jetzt

Das vergeht


Das Zeitgefühl

Von Zeit zu Zeit
verliere ich

das Gefühl

für die Zeit. Mein Zeit
Gefühl kommt

mir abhanden.

Den Verlust nicht zu spüren
ist Glück.

Doch da ist immer Jemand
der findet

was ich verloren habe

& es nicht
für sich behalten kann.

Er hebt es auf
& gibt es mir

zurück               im falschen

Moment.

Als hätte dieses Gefühl nicht
auch irgend Jemand Anderem

gehören können.


Wieder so ein Tag

Wieder so ein Tag, dachte ich.
Und hatte ihn schon verloren.

Denn solche Tage, die
bloß Wieder so ein Tag sind,
gibt es nicht

in der Wirklichkeit.

Es gibt sie nur
in der Wahrnehmung.

In der Wahrnehmung, die
nicht mehr unterscheidet.

Wieder so ein Tag, dachte ich
& fühlte mich wie eine Spinne
in der leeren Badewanne –
Alles glatt & weiß & kalt.

Tage, die so wahrgenommen werden, gehen
unter
in der Erinnerung –

verschwimmen
im salzlosen Weniger des Lebens.

Des Lebens, das kürzer scheint,
wenn man Wieder so ein Tag denkt.

Nein, es war nicht
Wieder so ein Tag.

Es war – in Wahrheit:
Nie wieder wird es diesen Tag geben.

Und ich denke
nicht: Gut so!
Wie beschissen er auch gewesen sein mag.


Das Datum auf dem Vorsatzblatt

Auf dem Vorsatzblatt dieses Buches,
das von der Zeit an sich handelte,
hatte ich den Monat & das Jahr
der Lektüre notiert.

Als ich es nach Jahr & Tag
wieder einmal aufschlug,
las ich jenes Datum in meiner Handschrift –
& konnte es kaum glauben.

Das sagte mir mehr
über die Zeit an sich –
als der Inhalt des Buches
es je gekonnt hätte.


Die beflügelte Ameise

 
Die beflügelte Ameise
die man die Fliegende nennt
kroch über den Tisch

immer wieder
hin & her

Hätte sie gewusst
wie lange ihr die Flügel
noch zur Verfügung standen

würde sie
ihre Zeit
nicht so verschwendet haben –

 

dachte ich
während ich sie beobachtete
& auf den Feierabend wartete.


Splitter im Sand

Da war ein Strand, und
der bestand aus dem Sand, der aus
Uhren gerieselt & geronnen war.

Zerbrochen war die Sammlung des Todes. All
seine Sanduhren – & niemand
wusste warum.

Ein Kind war gerannt durch
den Sand, den Strand entlang
& hatte geschrien. Vor

Schmerz.

Die Splitter des Glases der Uhren
der Sammlung des Todes zer
schnitten die kleinen bloßen Sohlen.

Das Salz des Meeres brannte
in den Wunden. Für Stunden. Das Blut
gerann – & die Zeit war seine Vergiftung,

die nicht zum Tode führte.

Und es weinte Jemand. Still
in den Sand. Es war
der Tod. Den

Niemand
mehr fand.


In der Mitte des Zifferblatts

Du & ich
Zeiger einer analogen Uhr

Wir treffen & trennen uns bei
nahe überall

Nur in der Mitte des Zifferblatts
bleiben wir stets vereint

wo die Bewegung der Zeit
kaum zu sehen ist

während sie doch vergeht
wie alles andere

Dort sind sie verbunden
unsere Enden

und bleiben es
auch wenn die Uhr zum Stillstand kommt


Leben eben

Die Ebene war nicht
plan – Planlos stand ich
an ihrem Rand

Rannte dann
über ihre Uneben
heiten

Was eben gewesen war
war nicht immer glatt
vorbei gegangen

& doch
Vergangen
heit

Die Mitte lag immer
im Un
Er
Reich
Baren

Ich fiel
vielmals
Stand auf

einmal mehr

Irgendwann
wird es
das letzte Mal

der Fall
gewesen
sein

Es war einmal

Verwesen
Sein

Eben noch Leben
planlos
platt

& vorbei


Der Oldtimer

Ein Oldtimer fährt durch die Nacht.
Ich fahre hinter ihm her.
Als der Oldtimer modern war
– damals in meiner Kindheit -,
war er mir zu modern.
Ich fand ihn hässlich. Damals.
Heute – finde ich ihn schön.
Im Vergleich.
Und überhaupt.
Das ist die Schuld
der Zeit.