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Verschwundene Läden

Die Straßen gibt es noch.
Die Läden sind verschwunden.
Die Läden, in denen ich Dinge gekauft hatte,
die kaputt gingen
und auf den Müll geworfen wurden.
Irreparabel. Die Verkäufer
sind tot, denn sie waren
schon alt, als ich jung war.
Doch vielleicht nicht so alt
wie ich – heute.
Mich gibt es. Noch.
Noch nicht
kaputt. Noch. Nicht
auf dem Müll. Irre
parabel.
Ich bin noch
da. Mit all den kaputten Dingen
in meiner Erinnerung.

Der Faltenwurf der Spiegel

Die Spiegel werfen Falten
Egal wie jung man auf die Fläche blickt
Alles verkehrt
Und der Geist unsichtbar
Erkenne dich selbst
Wie du nicht bist
Stumm & geruchlos im Glas
Eingeweckt und doch verfaulend
Tiefe nur vorgetäuscht
Leben als optisches Phänomen
Was man da sieht
Soll ein Mensch sein?
Sein sein?
Silbrige Gaukelei
Geht vorbei, geh vorbei
Fabrikat aus Splittern
Ein Ganzes wirst du nie
Lass dich fallen
Wirf dich hin
Wie der Spiegel die Falten
Wie die Schwerkraft die Alten
Täusche vor geh zurück
Schmeiss noch einen letzten Blick
Auf Alles
Was nicht du ist 
Auf Alles 
Was du nicht bist
Spieglein Spieglein Märchentand 
Plisseevisage Stundensand 
Die Spiegel werfen Falten
Sie solln mein Bild behalten




Jetzt, dann & in Ewigkeit

Und dann wird kommen die Zeit
Da man uns beneiden kann
Um diese Gegenwart

Und beneiden wird man uns
Darum, daß wir tot sind
Und wir würden uns freuen

Tot zu sein wie wir
Uns nie unseres Lebens gefreut haben
Wenn wir es noch könnten

Also —
Was jammern wir
Es geht uns noch gut

Und wird uns noch besser gehen


Unter meiner Zeitlupe

Auf dem Motorroller
werden Schnecken zu Bienen,
heiß wird flott, es knattert,
es kracht, es spuckt & röhrt,
es raucht aus dem Auspuff,
oben ein Helm, unten ein Höschen
geöffnete Schenkel, nackt & glatt,
jedes Haar, das dort flimmern könnte,
ist wegrasiert. Alles vibriert.

Es ist so viel mehr
als Sex. So viel mehr
als Erotik. Es trifft mich
so tief im Kern
des Wesens, das nicht nur mein
eigenes ist. Berührt Bereiche,
die das Körperliche niemals
erreicht. Wehmut
& weltumspannende Freude.
Eine erträumte Jugend, die
niemand jemals haben kann.
Vergänglichkeit im schönsten Augenblick
des noch nicht Vergangenen.
Eine reine Idee. Von allem befreit.

Ja, es mag aussehen,
als stände da ein schmutziger alter Mann
an der Straße. Gleich wird ihm sicherlich
der Geifer aus dem Maul laufen, er wird sich
unsittlich berühren und sich vorstellen,
etwas Altes in etwas Junges zu stecken,
um sich aufzuladen.

Nein. Vielleicht stehe ich
noch einen kurzen, nachzitternden Moment
dort. Denke an die Vergeblichkeit
des Versuchs, Bilder in all ihren
Breiten, Tiefen. Längen &
unsichtbaren Dimensionen zu bewahren.
Spüre, dass ich schon nicht mehr
so viel spüre wie in jenem Augenblick,
der eben erst vorüberrauschte.
Vielleicht ein dummes Lächeln im Gesicht.
Ein Lächeln, von dem man nicht wissen kann,
wie dumm oder traurig es ist, und doch
auch glücklich.

Die knappen Shorts
waren von einem Gelb gewesen,
wie es Kinder verwenden,
um die Sonne zu malen.

Unter meiner Zeitlupe
ist das Vergehen immer noch Vergehen,
außerhalb alles längst vergangen.
Lasst mich stehen. In der Ferne
ist noch leise zu hören, was ich gesehen habe.
In der Stille brennt noch ein Bild.
Es duftet. Ich will
versuchen, den Rauch festzuhalten.


Nicht nur ein Name

Tod, Zeit, Vergänglichkeit
Haben keine Macht
Ohne das Vergessen
Manchmal kehre ich zurück
Aus der Gegenwart und
Suche mich in der Erinnerung

Mit dem Vertrauten meiner Jugend
Alte Geschichten bewohnend
Nähere ich mich den Anfängen
Nicht zum letzen Mal


Beim Zahnarzt

Sie schmerzt immer mehr
Die alljährliche Zahnsteinentfernung
Blut fließt, ich balle die Fäuste

Mein Zahnarzt ist 78 Jahre alt
Zwei Oberschenkelhalsbrüche hat er hinter sich
Seine Frau ist tot
Aber manchmal läuft sein Hund durchs Behandlungszimmer
Die Sprechstundenhilfe, peinlich berührt, führt ihn
Dann wieder hinaus – den Hund
»Du darfst hier doch gar nicht sein«, sagt sie
Und tätschelt ihn
Ob sie sich hinterher die Hände wäscht
Weiß ich nicht; es ist mir auch egal
Der Zahnarzt hat nicht mehr viele Patienten
Aber was ich ihm vor 12 Monaten sagte, hat er vergessen
Dass ich seit 7 Jahren keine Zigarren- & Rotweinbeläge mehr
Auf den Zähnen habe, wundert ihn
Jedes Jahr aufs neue
Und immer wieder fragt er, ob ich keinen Tee mehr trinke

Er will nur noch arbeiten
Bis seine Sprechstundenhilfe in Rente gehen kann
Woanders würde sie doch keinen Job mehr bekommen, meint er
»Außerdem – was soll ich denn sonst machen?
So bin ich gezwungen, jeden Morgen aufzustehen
Und mich zu rasieren; das ist was Gutes.
Und solange meine Hände nicht zittern….«

Das Poster an der Decke kenne ich
In- & auswendig
Kitsch: Elvis Presley, Marilyn Monroe, Stan Laurel & Oliver Hardy,
James Dean und und und – kreisförmig angeordnet
Auch schon alle tot
Wie meine Mutter, die sich hier ein neues Gebiss besorgt hatte
Vor langer Zeit
Gerahmte Fotos verstorbener Hunde zieren die Wände
Da gibt’s viel Staub zu wischen
Ob das jemand tut, weiß ich nicht; es ist mir auch egal
Die Hunde ähneln einander

Nach Einbruch der Dunkelheit
Geht die Sprechstundenhilfe Gassi
Damit der Doktor nicht wieder stürzt
Sie ist etwas schwerhörig
Aber der Hund ist jung
Er könnte uns alle überleben

Kinderbücher im Wartezimmer
Obwohl keine Kinder mehr kommen
Doch die Erwachsenen erinnern sich vielleicht
Sie gelesen zu haben

Werde ich nächstes Jahr wieder hier sein?
Wird der Doktor nächstes Jahr noch hier sein?
Er würde sich wundern
Wo meine Beläge geblieben sind

Und ich könnte ihm sagen, dass ich keinen Tee mehr trinke
Obwohl das nicht stimmt
Ich möchte nicht der letzte Mund sein
In den er schaut

An meinem Ende
Des Dorfes kann ich hören
Wie der Hund des Zahnarztes
Am anderen Ende bellt

Er begrüßt jeden Patienten persönlich
& meldet ihn an
Aber manche Hunde bellen auch
Weil sie einsam sind


Herr psst

Vorbei die Zeit
da man nackt auf dem Sofa saß
& dachte: ‹bald wird es dafür zu kalt sein›

Ich zitiere mein Zittern
der vergangenen Jahre, sinngemäß
Furcht

lässt die Bäume erröten
und die Furchtsamsten entblättern sich
als erste

(Ich kenne Menschen
bei denen ist es ganz
ähnlich)

Es ist
als dächten die Bäume
wie Menschen

zeit
weise
viel

zu viel


Sägemehl

Unterm Sofa liegt Sägemehl
Als hätte sich etwas bewegt

Ich war’s
nicht Haben die Termiten geschnarcht

Oder ich Hatte jemand
Sex auf dem Sofa

Ist es die Asche
meines Großvaters in dessen

Wohnung es stand als ich
jung war Ich

könnte den Kopf schütteln
Zur Not sogar meinen

Aber wer weiß, was
dabei heraus käme


In der Spiegelwand

 

Gerne würde ich
ja etwas Tiefsinniger
es schreiben aber ich
sagte bloß Ich kann
deinen Hintern gar nicht
sehen
als ich in die Spiegel
Wand schaute gegen
über dem Bett gegen
über dem Bett stand ein kleines Regal
vor den Spiegelungen die
Frau lag auf den Bäuchen
ihrem & meinem und sie blickte
hinter sich in die Wand wo
Wir ein Bild bildeten mit
vertauschten Seiten so
leicht war sie & zart nicht
die Wand die Frau so
zart dass ein Blick ihre Finger
hätte brechen können vom
Herzen ganz zu
schweigen & doch
spürte ich eine gering
fügige Erleichterung in der Tiefe
als sie sich bewegte & abhob sie
sagte Da und über dem Regal
ging der kleine Knackmond auf
und Alles ward Licht + Schein & vor
sichtiges Gelächter und
gerne würde ich
ja etwas Tief
Sinnigeres schreiben aber was
wäre tiefer & sinniger & tief
sinnlicher als solch ein Moment
An- & Augenblick der Gegenwart
& der Versuch
ihn & die Verwirrung ihn & die
Verbundenheit zu bewahren zu be
wahren wie den Schein
des Mondes dieses Mondes
in der Spiegelwand


Schädelhaare

Ich fuhr mit der Hand durch die
Haare auf meiner Schädeldecke
Ich fühlte sie zwischen meinen Fingern
dünner & lichter als früher
& dachte:

Nimm Alles
bewusst wahr &
begreife mit Freude
was Du verlieren
wirst
doch in diesem Augenblick
noch

besitzt!