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Jetzt, dann & in Ewigkeit

Und dann wird kommen die Zeit
Da man uns beneiden kann
Um diese Gegenwart

Und beneiden wird man uns
Darum, daß wir tot sind
Und wir würden uns freuen

Tot zu sein wie wir
Uns nie unseres Lebens gefreut haben
Wenn wir es noch könnten

Also —
Was jammern wir
Es geht uns noch gut

Und wird uns noch besser gehen


Album der Spiegel

Ein Album voller Spiegel
Geöffnet ohne Brechungen
Aufgeschlagen ohne dass es splittert

Flüchtiges Album der Gegenwart
Das Ich als optisches Phänomen
Scheinbar verkehrt

Die Erinnerungen nicht festgehalten
Sondern losgelassen
Hinter der Stirn im Spiegel

verkehrt verblasst
getönt beschlagen

Das Blättern fällt
schwer ein Spiegel
wiegt mehr als

Papierene Vergangenheit
Und nur wer einem ganz nahe ist
wird reflektiert

Für einen Augenblick
Verkehrt verblasst
getönt verschwunden

Ein Album voller Spiegel
Geöffnet ohne Brechungen
Aufgeschlagen ohne dass es splittert

Papier Glas Silber
Seiten Blätter Farben

Nirgends ist Schwarzweiß
Doch in keinem Album gibt es Zukunft


Lebensläufe

 

In der unermesslichen Bibliothek
der Lebensläufe
brennt ein Feuer
: das Vergessen

Egal
ob wertvoll
gebunden
in Leder oder Leinen

ob lose Blätter
oder
billig geklebt
in Pappe

Leserlich/Unleserlich
Es lodern die Erinnerungen
an das Leben
bevor sie verschwinden

Warmes Licht
wie bei einem Sonnen
Untergang
Ein bisschen Rauch & Gestank

Jahrtausende verfliegen
im Funkenflug
& Nichts
bleibt als Asche

Die Vergangenen
bewahren
Nichts
von ihrer Gegenwart

Nur manche
retten sich
in ein Buch
als wäre das eine Rettung & nicht

bloß eine sinnlose Flucht
Als hätten sie Hoffnung
auf eine ferne
Zukunft

Und da stehen sie dann
In den letzten verwitterten Regalen
Erinnerungen & Gedanken
Langsam zerfallend

Und in der Tat
Sie werden nicht vergessen
Sein
denn da wird

Niemand
mehr sein
der vergessen
könnte.


Altpapier – oder: Die Zukunft

Kälte, Nebel, buntes Laub.
Blaue Plastiktonnen stehen am Straßenrand, als warteten sie auf
die innere Leere. Ein Mann,
der vermutlich alt ist, bückt sich
nach einem Zettel, den der Zufall fallengelassen hat.
Vielleicht stört das den Ordnungs
Sinn des Mannes; vielleicht
hat es aber auch einfach
Nichts

zu sagen, dass er ihn aufhebt. Mag
Sein, dass in die blaue Tonne gehört,
was der Mann dann in der Hand hällt. Genau
so gut aber könnte der Zufall exakt
gezielt haben. Die Hand am Deckel
der Tonne, will der vermutlich Alte den Zettel wahr
scheinlich entsorgen (wie man so sagt, als gäbe es so etwas
wie Entsorgung); da fällt
sein Blick auf

spitzig winzige Bleistiftschrift:

Du hast Angst vor der Zukunft,
dabei läuft sie vor dir davon.
Alles, was du zu fassen bekommst,
ist Gegenwart.

Du glaubst, die kommende Gegenwart
nicht bewältigen zu können.
Dabei gehst du
davon
aus, ihr so zu begegnen, wie du jetzt bist.

Du übersiehst deine eigene Entwicklung,
dein inneres Wachstum.
Was du zur Zeit tust, hättest du dir noch vor einem Jahr
nicht zugetraut. Und selbst ich, der ich dir mehr zutraue
als du dir selber zutraust, würde meine leisen Zweifel gehabt haben,
hättest du damals tun müssen, was dir jetzt beinahe leicht fällt.

Der Mann betrachtet das Haus
hinter der Tonne, nachdem er zu
Ende gelesen hat. Er erinnert sich
an das Haus. Das Haus, das aussieht, als sei es
vergessen worden von allen anderen.
Und die Schrift ist wie seine eigene
vor Jahrzehnten. Blau sind
die Tonnen fürs Altpapier. Und rot
2 Worte

auf der Rückseite des Zettels (doch
wer kann wissen, welche
die Rückseite ist):

zu kitschig

steht da. Der Mann
sagt »Nein« zu sich selbst.
Dann verwahrt er den Zettel
in der Innentasche seines Mantels,
der vermutlich alt ist. Heute

werden die Tonnen geleert, denkt er, so
ein Glück. Noch vor wenigen
Stunden blutete sein Zahnfleisch; da
schaute er in einen Spiegel & hatte rosa Schaum
vorm Mund. Er überprüfte, ob sich
ein Zahn gelockert habe, dann
lächelte er über eine unsinnige Frage,
die ihm in den Sinn gekommen war:
Warum

wurde noch kein Schmetterling
nach mir benannt? Die Antwort
ist einfach. Die Schrift
in Rot scheint dieselbe
zu sein wie die in Bleigrau.
Doch wer kann da schon
sicher

sein


Die tropfende Zukunft

Kerzenwachs im Badewasser ist wie Blei
gießen – genauso sinnlos, bloß
ohne Blei.
Irgend etwas erkennt man ja immer
in den Formen – da ist es gut,
wenn man an
Nichts glaubt.
Auch nicht an die Zukunft.
Man liegt im Wasser,
träumt so für sich hin;
es ist Nacht,
es ist gemütlich & warm,
ein schwacher Luftzug bewegt die Flamme,
und die Kerze beginnt zu tropfen.
Das Wachs rinnt
vom Rand der Wanne & wird hart
im Wasser.
Seine Form hat nichts mit der Zukunft zu tun;
immerhin: hart könnte sie werden.
Ein belustigender Gedanke.
Wilde Assoziationen im Schaum.
Zukunft:
Vielleicht schlafe ich ein,
rutsche wie Blei unter die Oberfläche &…..

Doch
vor dem Ertrinken
erwacht man – so
fern man
nüchtern ist.

Das ist wie in der
Liebe.