Ruhig, ganz ruhig

Als ich geboren wurde, waren alle schon tot.
Alle, die tot sein durften, weil sie gestorben waren,
bevor ich geboren wurde. Vielleicht waren sie auch
immer schon tot gewesen. Wie kann es sein,
dass diejenigen sterben, die zu meiner Zeit lebten,
und an die ich mich erinnere? Da ist etwas
falsch. Grundlegend falsch. Der Mensch auf dem Foto
soll nicht mehr existieren? Wie kann das sein?
Nur noch vergrabener Dreck? Für immer
verschwunden. Stimmlos. Atemlos.
Er hatte doch so jung ausgesehen,
bevor er alt wurde – wie ist das möglich?
Ich habe noch seine Stimme im Ohr.
Neben all den anderen Stimmen.

Ruhig, ganz ruhig.

Ich BIN ruhig. Nur sie sind es nicht.
Auf diesem Foto packt er seinen Koffer.
Er will verreisen. Dann kann er doch nicht tot sein.
Man kann nicht verreisen, wenn man tot ist. Oder?
Er ist noch nicht da gewesen, wo er hin wollte,
also muss er doch da sein. Der Koffer ist ja auch
noch gar nicht geschlossen.

Wo wollte er denn hin?

Ich weiß es nicht.

Dann war er vielleicht doch schon da.

Wieso DANN ? Was hat das mit mir zu tun?
Nur weil ich etwas nicht weiß, soll es stattgefunden haben?
Wo ist denn da die Logik?

Wie tot er ist, seit er nicht mehr lebt.
Man kann nicht so tot sein;
also müsste man doch leben.

Ruhig, ganz ruhig. Mit manchem muss man sich abfinden.

Abfinden! Das ist auch so ein Wort.
Die Abfindung. Mir hat noch keiner etwas dafür gegeben,
dass einer nicht mehr da ist. Und wenn, würde ich es
nicht annehmen. Ich würde es nicht haben wollen.
Hoffentlich hat er sein Nackenkissen nicht vergessen.
Ich sehe es gar nicht in dem Koffer. Er bekommt
doch so schnell Nackenschmerzen. Einmal
konnte er kaum aufstehen vor lauter Schmerz.
Aber das ist lange her.
Er ist noch oft aufgestanden danach.
Wahrscheinlich steht er morgen auch wieder auf.
Wir können ja gar nicht anders. Wir müssen
aufstehen. Weil wir nicht immer liegenbleiben können.
So ist es doch. Oder?

Ja.

Wenn er nur nicht seinen Zug verpasst.
Er hält so lange inne. Er sollte endlich
weiter packen. Hoffentlich ist er nicht zu erschöpft.
Dann müsste er sich ausruhen. Vielleicht
wartet der Zug ja auch auf ihn. Er hat so oft
den Zug genommen, dass der auch mal auf ihn
warten könnte. Er hat so oft den Zug genommen,
dass ich manchmal dachte, ohne ihn kann
ein Zug gar nicht fahren. Er hatte ja
Flugangst. Er konnte nicht fliegen. Er meinte,
er würde abstürzen. Dabei sind doch immer nur
Flugzeuge abgestürzt, in denen er NICHT war.
Wenn er sich das klargemacht hätte, hätte er
fliegen können. Aber Logik war seine
schwache Seite. Da konnte man reden,
wie man wollte. Er verstand einen einfach
nicht. Na ja. Egal.

Haben Sie nur dieses eine Foto?

Sehen Sie bloß – wie ruhig er atmet. Man sieht es
kaum. Nur wenn man ganz genau hinschaut, kann man es
sehen. Man muss immer ganz genau hinschauen.
Sonst verpasst man, worauf es ankommt.
Wenn man natürlich nicht weiß, worauf es ankommt,
kann man es auch nicht sehen; da kann man
schauen, so lange man will, man sieht es nicht.

Das stimmt.

Als ich geboren wurde, gab es nur Lebendiges
um mich herum. Das war schön.

Das ist doch immer noch so.
Oder sehen Sie die Toten?

Woher soll ich das wissen?
Ich weiß es nicht.
Vielleicht sehe ich sie.
Sind Sie tot?

Nein. Ruhig, ganz ruhig.

Ich BIN ruhig. So wie er.
Ich will nicht unruhiger sein
als er. Es ist schön,
wie ruhig er ist.

Ja.

Danke. Es war nett mit Ihnen zu plaudern,
aber ich muss jetzt auch meinen Koffer packen,
sonst verpassen wir doch noch den Zug.
Der wartet nämlich nicht auf uns.

Sie haben recht.
Ich werde Sie begleiten.


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