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Bidet

Da mein Badezimmer alt ist (obwohl,
nicht so alt wie ich), gibt es ein Bidet darin.
Aber das tut nichts zur Sache. Ich saß –
nein, nicht auf dem Bidet – ich saß
auf dem Sofa & blätterte durch diesen
merkwürdigen Kalender – einen
Kalender der Geburtstage.
Wer hatte am selben Tag Geburtstag
wie ich? – – :
Johann Peter Eckermann
Stephen King
Leonard Cohen
H. G. Wells
& diverse TV-Nasen
– – –
Was für ein seltsamer Cocktail, dachte ich
& hob mein Cocktailglas. Na dann, Jungs,
HAPPY B-DAY !


Beine & Farben

Als sie meiner Großmutter die Beine abnahmen, saß ich in meinem Kellerzimmer & las „Schwarze Spiegel“. Ich war 19.
Sie lebte in Aachen. Die meiste Zeit ihres Lebens verbrachte sie dort. Ich wurde in Aachen geboren, verlebte meine ersten 9 Jahre dort. Meine Großmutter wurde zur Witwe, als ich 3 war. Sie lebte danach in einer kleinen Parterre-Wohnung voller Bücher. Das Fenster des Wohnzimmers ging auf die Straße hinaus; hinter den Gardinen standen einige Blumentöpfe & 2 durchsichtige Plastikbecher mit Wasser, einer rot, der andere hellgrün. Wenn ich sie besuchte (& bis wir fortzogen, tat ich das häufig), schaute ich immer als erstes von draußen in dieses Fenster. Sobald die Sonne durch das Glas auf die Becher schien, war es, als ob sie von innen leuchteten. Von diesem Anblick, diesen Farben konnte ich einfach nicht genug bekommen; damals war mein Schädel noch genau so sonnig, so bunt, so leuchtend. Diese Becher waren meine Kindheit. Das kleine, uralte Radio, das zwischen all den Büchern im Regal stand, war ebenfalls meine Kindheit. Die Skalen hatten eine so warme Beleuchtung.
Meine Großmutter war, so kam es mir zumindest vor, ständig in der Welt unterwegs. Sie verreiste mehrmals im Jahr & schien alles schon mal gesehen zu haben. – Und sie kaufte sich einen Farbfernseher, bevor es Farbfernsehen gab. Wir hatten zuhause noch ein altes Schwarzweißgerät. Deshalb versammelte sich die gesamte Familie an dem historischen Tag in dieser kleinen Wohnung & schaute zu, wie Willy Brandt (asynchron) auf den Knopf, der wie ein Buzzer aussah, drückte. Und wieder: Farben; Buntheit. – Vielleicht besuchte ich sie danach sogar noch häufiger -: Bonanza in Farbe!
Da wir in Aachen wohnten, gingen wir bei jeder Gelegenheit zum Reitturnier. Springreiten. Bunte Hindernisse. Rote Jacken, schwarze Käppis, schöne Pferde, ‚berühmte‘ Reiter. (Damals wusste man noch nichts von den grausamen Trainingsmethoden.) – Stundenlang saßen wir auf den Tribünen & notierten die Fehlerpunkte auf vorgedruckten Karten. Es war lächerlich, aber ich war mit vollem KinderErnst dabei.
Dann zogen wir fort & hatten unseren eigenen Farbfernseher. Ab dem Zeitpunkt besuchte meine Großmutter uns, und ich sah die kleine Wohnung nicht wieder. Abgeschlossenes Kapitel.
Am Reitturnier verlor ich das Interesse. Mein Vater starb. Meine Mutter & ich zogen noch weiter fort; mein Bruder, 10 Jahre älter als ich, blieb zurück. – Die Großmutter kam nur selten zu Besuch. Sie bekam Parkinson. Schrieb mir Karten in fast unleserlicher Handschrift. Ich antwortete immer seltener. Driftete allmählich in die Hoch-Zeit meiner Verwirrung & Egozentrik. Rastete häufiger aus als ein.
Eine Tante, Schwester meines Vaters, kümmerte sich um die Großmutter – ihre Mutter -; nahm sie zu sich. Verfall. Die Großmutter schiss der Tante, der Tochter, das Sofa voll. Zitterte. Und – ging weiterhin zum Reitturnier. Eines Tages stürzte sie auf der Tribüne & schlug sich die Knie auf. Später sagten die Ärzte, dass dieser Sturz wohl den Knochenkrebs zum Ausbruch gebracht hatte. Dann sägten sie ihr die Beine ab. Es war völlig sinnlos. Der Krebs war längst überall. Für die wenigen Monate, die ihr noch blieben, hätte man sie auch am Stück lassen können.
Am Tag ihrer Beerdigung las ich „Kaff“.
Großvater: Lungenkrebs. Blutiger Auswurf.
Vater: Prostatakrebs. Blutiges Sperma.
Großmutter: Knochenkrebs. Blutiges Mark.
Schäferhund: Hautkrebs. Blutige Wunden.

Meine Mutter hatte grauenhafte Krampfadern.
Blaurote Landkarten mit blauen Flüssen. Offene Beine, als sie um die 40 war. Ständig mussten ihre Beine bandagiert werden. Blutflecken auf den Bandagen, Rot auf Weiß. Ihre Hände waren rauh, rissig, von Ekzemen übersät. Faltig, als hätte man ihr die Hände einer alten Frau angenäht. Sie hatte Asthma. Als ich 14 war, mein Vater war seit einem Jahr tot, bekam sie einen derartigen Anfall, dass Notarzt & Krankenwagen kamen. Bewußtlos wurde sie herausgetragen. Ihr Gesicht war eine Mischung aus Grün & Blau & Violett. Blaulicht, Sirene, Intensivstation. Ich besuchte sie nicht. Es war das Krankenhaus, in dem mein Vater gestorben war.
Es war knapp, aber sie überlebte. Danach kam der zweite Umzug. Und ich – noch weiter gedriftet – landete für 11 Tage in der Klapsmühle. Begann mit 18 einen Roman darüber zu schreiben. Beendete ihn nicht. Wie so vieles in meinem Leben.
Meine Mutter blieb allein. So wie meine Großmutter allein geblieben war.
Mit zunehmendem Alter besserten sich die Krankheiten meiner Mutter. Keine wirklich schweren Asthmaanfälle mehr. Kaum noch Krampfadern. Weniger Risse an den Händen.
Irgendwann fing sie an, beim Gehen zu schlurfen. Ich hasse es, wenn jemand schlurft, die Füße nicht hebt; das Geräusch geht mir auf die Nerven. Ein Schaben über den Boden, das mich an das Sargdeckelkratzen eines Lebendig-Begrabenen denken lässt. – Nun gut, es war das erste Symptom ihrer Parkinson-Erkrankung. Das war eine Entschuldigung. Schlimmere Geräusche folgten. Die Geräusche ihrer Stürze. Da mein Bruder sich um nichts kümmerte, kümmerte ich mich.
Ich schlief tagsüber. Und dieser Schlaf wurde immer seichter. Ständige Alarmbereitschaft. Dumpfes Donnern schreckte mich auf. Dann war sie wieder irgendwo mitsamt ihrem Rollator aufgeschlagen & kam nicht mehr hoch. Oder Gegenstände schepperten, krachten, splitterten zu Boden. Jahr um Jahr zitterten sich meine Nerven in einen schwarzen Abgrund. Schlafentzug. Immer häufiger brauste ich auf. Poe schien mich erfunden zu haben. Allein sein. Allein sein. Ich wünschte mir: Allein zu sein.
Mit 70 sah sie aus wie 90. Und sie bekam Wasser in die Beine.
Eines Morgens kam ich von der Arbeit nach Hause. Sie hatte die ganze Nacht auf dem Fußboden verbracht. Oberschenkelhalsbruch.
Stunde um Stunde verbrachte ich in den diversen Kliniken, in die sie kam. Jahr um Jahr.
Schließlich senkte sich ihre Gebärmutter. Sie trug einen Ring, der die Gebärmutter zurückhalten sollte. Irgendwann saß der Ring so fest, dass er nicht mehr herausgenommen werden konnte. Eine Operation wurde notwendig. Eine harmlose Operation.
Harmlos, wenn die Embolie nicht gewesen wäre.
Am Tag ihrer Beerdigung las ich „Tod auf Kredit“. Die Urne, die ich ausgesucht hatte, war von einem Rot, das mich an das Rot des Plastikbechers im Fenster meiner Großmutter erinnerte. Nur etwas dunkler.
Ich war allein. Meine Nerven erholten sich.
Beim Aufräumen fand ich einen Vibrator, den sie sich ein halbes Jahr vor ihrem Tod bei Quelle bestellt hatte. (Manchmal hatte ich Nachts ein Geräusch gehört, dass ich mir nicht hatte erklären können….)

Ich war immer schlecht in Mathe gewesen.
Dann traf mein Gehirn auf das Gehirn eines Lehrers, das meines erkannte – & es wusste, wie ihm Abstraktes zu vermitteln sei. Er hatte kurze Beine, denn auch die unumstößliche Wahrheit kann kurze Beine haben. Er trug den Bart eines Seemanns, von einer Schläfe zur anderen. Ich wurde zum besten Matheschüler. Gab es einen 5-Minuten-Lösungsweg für eine Gleichung, fand ich einen Weg, der mich 4 Stunden kostete; und er sagte: „Das ist zu kompliziert für diese Klasse – das lassen wir jetzt lieber.“ Und er lächelte. Er konnte aufbrausen wie mein Vater, und selbst dafür mochte ich ihn. Bei einem Schulausflug sah ich, wie liebevoll er mit seinen Söhnen umging. Und ich beneidete die Söhne.
Eines Tages sagten wir Schüler: „Der ist aber gut gelaunt heute. Und so braun. Er sieht erholt aus.“ …….
Die Bräune kam – vom Leberkrebs.
Ich warf einen bunten Blumenstrauß auf seinen braunen Sarg.
Und – ich wurde wieder schlecht in Mathe.

Die buntesten Filme meiner Kindheit waren die Horrorfilme der Hammer Studios. Alles Grün, alles Rot, alles Blau. Christopher Lee mit roten Augen. –
Doch – mein Favorit bis heute ist: Peter Cushing. Peter Cushing hatte O-Beine. Ich las Bücher über ihn. Las immer wieder: der netteste, freundlichste Mensch überhaupt ….. Da wünschte ich mir, er wäre mein Vater gewesen…… Mein Vater schwang die Hundepeitsche. Die Hundeleine. Den Stock. Die Hand.
Peter Cushing hatte blaue Augen. Und er starb an Prostatakrebs.

Die Frau meines Bruders hatte perfekte Beine.
Und sie trug die kürzesten Röcke, die kürzesten Kleider, die knappsten Hotpants. Es waren die Siebziger, und ich bekam jedesmal einen Ständer, wenn ich diese Beine sah. Die Kleider waren bunt, und die Schenkel waren braun – aber nicht zu braun; sie hatten den perfekten Farbton. Und ihre Slips waren weiß (manchmal auch durchsichtig), das heißt sie bargen alle Farben in sich, und der Kontrast zu ihrer Haut hätte nicht feiner abgestimmt sein können.
Aber verliebt hatte ich mich schon, bevor ich ihre Beine sah. In ihre Augen. Grün mit kleinen braunen Tupfen. Ein Grün, das mich an das Grün des Plastikbechers im Fenster meiner Großmutter erinnerte. Nur etwas dunkler.
Da ich so jung war – es war das Jahr des Asthmaanfalls, und sie war 18 – dauerte es ein paar Jahre, bis das große Chaos begann. Bis niemand sich mehr wehren konnte. Bis niemand mehr von Freiem Willen hätte faseln können. Und ich schrieb & schrieb & schrieb. 300, 400 Songs; und Stories; und Gedichte; und sie malte, und dann schrieben wir uns Zettel; und Briefe……. Es fing an, was nicht aufhören konnte. Nicht aufhören konnte nach dem Ende. Nicht aufhören konnte nach dem Tod der einen oder des anderen. Oder des: Anderen. Es war wundervoll, wie es unser aller Leben zerstörte. Scheiss auf alles: Andere!
Und es bleibt immer etwas übrig, das man noch weiter zerstören kann. Selbst zerstören kann. Eine Resterampe, eine schiefe Ebene, die noch weiter hinunter führt.
Als ich sie – nach Jahrzehnten? – bei der Beerdigung meiner Mutter wiedersah (sie trug lange, schwarze Hosen), hatte sie den Gebärmutterkrebs schon hinter sich. Ich erfuhr es erst später, als -:

Sie rief an. Wir hatten seit Jahren nichts voneinander gehört.
„Du wunderst dich sicher“, sagte sie.
„Allerdings.“
„Ich weiß, es klingt blöd, aber ich wollte hören, wie’s dir geht; vor ein paar Tagen hatte ich plötzlich so’n komisches Gefühl. Als ob irgendwas mit dir ist.“
Ihre Stimme war nicht gealtert.
„Alles okay“, sagte ich.
„Wirklich?“
„Ja. Ich war einen Tag lang im Krankenhaus, war harmlos.“
„Siehst du, ich hab mich also nicht geirrt. Was war?“
„Verdacht auf Schlaganfall.“ Ich hörte, wie sie tief einatmete. „Falscher Alarm, ist alles wieder in Ordnung.“
„Aber wie?….“
„Bin mit nem tauben Gefühl in der linken Gesichtshälfte aufgewacht, und mit nem Wahnsinnsdröhnen im linken Ohr. Die haben dann 1000 Tests gemacht & meinten, das sei wohl nur sowas wie ein Streßsymptom. Haben mir ne Infusion verpaßt, und alles war wieder schön.“
„Streß?“ sagte sie.
„Ja, witzig, nicht? Ich & Streß. Ich hab denen natürlich nicht erzählt, wieviel ich trinke.“
Ich hörte wieder, wie sie tief einatmete. „Trinkst du so viel?“
„Es geht.“
„Gibt es jemanden?“
„Nein.“
„Willst du dich immer noch umbringen?“
„Ich arbeite dran, aber du siehst ja, es zieht sich.“
„Das ist nicht komisch“, sagte sie.
„Eigentlich nicht. Aber irgendwie schon. Du weißt doch, dass ich das Leben nicht so ganz für voll nehmen kann.“
„Nein, das weiß ich nicht.“
„Okay, früher war’s anders, aber früher war ja alles anders.“
„Bin ich schuld?“
„Blödsinn. Die Umstände. Und wir beide.“
„Ich zieh mir den Schuh auch nicht an“, sagte sie.
„Sollst du ja auch nicht. Du gefällst mir barfuß eh besser.“
Sie lachte. Verhalten.
Ich sagte: „Erzähl mal lieber was von dir.“
„Da gibt’s nichts“, sagte sie.
„Nichts? In all den Jahren?“
„Findest du’s blöd, dass ich angerufen habe?“
„Nein. Ich find’s schön.“
„Hast du mich noch lieb?“
„Was soll ich denn darauf sagen?“
„Ja oder nein, ganz einfach.“
„Natürlich.“
„So wie früher?“
„Nichts ist so wie früher. Ich hab dir doch schon mal gesagt, dass ich irgendwie innerlich tot bin.“
„Und dass ich es schuld bin“, sagte sie.
„Hab ich mal gesagt, aber das ist zu einfach.“
„Eben.“
„Ich fänd’s toll, wenn du öfters anrufen würdest“, sagte ich.
„Und dann?“
„Einfach quatschen.“
„Du meinst Small-Talk?“
„Warum nicht? Zum Beispiel. Nett plaudern.“
„Das kann ich nicht“, sagte sie.
„Warum?“
Nie zuvor hatte sie große Worte benutzt.
„Scheiße“, sagte sie, „ich kann nicht mit der Großen Liebe meines Lebens telefonieren & Small-Talk machen.“
„Puh.“
„Siehst du, da fällt dir nichts mehr ein.“
„Das muss ich erstmal sacken lassen“, sagte ich.
Sie sagte: „Ich war vor ein paar Jahren auch im Krankenhaus.“
Ich ahnte etwas. „Was war?“ fragte ich.
„Etwas Ernsteres, ich war ziemlich lange da.“
„Was?“
„Ist inzwischen wieder okay.“
„Was, habe ich gefragt.“
„Wenn du das Wort unbedingt hören willst: Krebs.“
Mein Herz fing an zu rasen. Mein totes Herz. Ich konnte dieses Wort nicht mehr ertragen. Selbst das Sternbild hasste ich.
„Und du hast mir nicht Bescheid gesagt, oder Bescheid geben lassen?“
„Und dann?“ sagte sie. „Du wärst ja doch nicht gekommen.“
„Wieso sagst du das?“
„Weil’s so ist.“
„Ich weiß das nicht mal selber; aber ich glaube schon, dass ich zu dir gefahren wäre.“
„Egal, ist eh vorbei.“
„Erzähl.“
„Was willst du wissen.“
„Alles“, sagte ich.
Sie erzählte. Sie erzählte von den Operationen … von den Schmerzen … von Komplikationen … inneren Blutungen … Sie erzählte von den Schmerzen … von der Ohnmacht … von der Hoffnungslosigkeit … Sie erzählte von der Hölle … & immer wieder von den Schmerzen …
„Und er war immer da“, sagte sie. „Das muss ich ihm lassen. Es muss schwer für ihn gewesen sein. Oft, wenn ich halb weg war, wenn es mir besonders dreckig ging, habe ich deinen Namen gerufen … Kannst du dir vorstellen, wie er sich dabei gefühlt haben muss?“
Ich goß mir einen großen Gin ein. „Ja“, sagte ich, „vielleicht.“
Sie hatte meinen Namen gerufen. Immer wieder. Ich hatte nichts gespürt. In meinem Leben. Nichts geahnt. In meinem Parallel-Universum.
„Er hätte mir Bescheid geben können“, sagte ich.
„Hätte er. Aber weißt du, das Schlimmste kommt noch.“
„Was meinst du?“
„Vor kurzem dachte ich mal, dass er stirbt.“
„Was war denn?“
„Es war nicht so ernst, wie ich dachte. Wichtig ist, dass ich es wirklich geglaubt habe. Und weißt du was – ich hab mich gefreut bei dem Gedanken. Kannst du dir das vorstellen? Gefreut. Ich hab mich so beschissen gefühlt. Ich hab mich gefreut, weil ich nur an dich dachte.“
„Oh Mann, du erschlägst mich gerade“, sagte ich.
„Tja, ich kann’s nicht ändern, da musst du durch. Oder soll ich auflegen?“
„Du spinnst. Natürlich nicht.“
„Kann aber sein, dass ich’s gleich muss. Also, wunder dich nicht, wenn ich einfach auflege, er kann jede Minute zurück sein.“
„Versprich mir, dass du von jetzt an, immer wenn etwas ist, mir Bescheid gibst, oder geben lässt.“
„Willst du das wirklich?“ sagte sie.
„Ich würde es sonst nicht sagen. Klar?“
„Ok. Klar. Versprochen. – Ich sehe übrigens nicht mehr so aus wie früher.“
„Was meinst du?“
„Na ja, das ist alles nicht spurlos an mir vorüber gegangen.“
„Ich seh auch nicht aus wie früher“, sagte ich.
Sie lachte. „Ich bin jetzt zu alt für dich“, sagte sie.
„Du hast immer gesagt, dass du zu alt für mich bist. Falls du dich erinnerst.“
„Ich erinnere mich. Und das stimmte ja auch.“
„Blödsinn.“
Sie sagte: „Kein Blödsinn. Du darfst nicht vergessen, dass“
Sie legte auf.
Ich trank meinen Gin.
Und noch einen.
Und noch einen.
Sie rief nicht wieder an.

Einer meiner 3 Schreibtische steht vor einem Fenster. Ein Fenster, durch das ich auf Unkraut blicke. Das Unkraut ist grün. Grün wie die Cordjacke von Little Joe (Manchmal trug er auch eine rote. Im Nach-Spiel mit meinem Bruder war ich Little Joe, mein Bruder war Ben Cartwright – Michael Landon starb an Bauchspeicheldrüsenkrebs; woran starb Lorne Greene?). Vor der Scheibe, am Fensterrahmen befestigt, hängt eine Glasmalerei. Sie stammt von ihr. Ein seltsames Wesen mit Flügeln ist darauf zu sehen. Schwarz auf Glas. Dieses Wesen hat keine Beine. Weil es keine Beine braucht.
Ich höre Ella Fitzgerald. Ich habe keine Lust in den Keller zu gehen. Ich habe keine Lust zu lesen. Manchmal blute ich rot … aus allen Körperöffnungen. Und auch ich habe Krampfadern. Welchen Absinth soll ich trinken? Es gibt ihn grün, es gibt ihn rot.
[Ich überlese, was ich geschrieben habe – – – Ich denke: Das kann nicht wahr sein! – Doch ich weiß: es ist wahr.]
Ich höre Hundegebell. Ich höre Pferdehufe. Gedanken driften. Pferdeäpfel sind braun.(Pferdeschmiede hämmern). Gleichungen löse ich nicht. U ist ungleich X.
Ich denke an die Beine meiner Großmutter. – – Wo hatten sie die Beine hingetan, nachdem sie
sie abgesägt hatten?


Eine Lesenacht

2:00 Uhr Nachts. Wahllos nahm ich irgendein Buch aus irgendeinem Stapel & legte mich damit aufs Sofa. Ein altes Sofa im Licht alter Lampen. Ich begann zu lesen. Worte. Alte Worte, die jemand neu kombiniert hatte.
Ein paar Seiten vergingen.
Dann, plötzlich: eine Bewegung am Rande meines Blickfeldes. Fliegenähnlich, nur langsamer. Manchmal, wenn ich zuviel getrunken habe, tauchen für Sekundenbruchteile kleine schwarze Punkte oder die Ahnung eines sich bewegenden Schattens genau so auf; ich nehme das nicht ernst, beachte es nicht mehr. Doch gerade wollte ich den nächsten Satz lesen, da flog Sie von oben herab auf die Buchseite. Ich schrie laut auf & warf das Buch so weit von mir wie möglich. Eine schwarze, beinahe handtellergroße Spinne! Und diese Spinne hatte Flügel, durchsichtig, von zarten roten Äderchen durchlaufen. Ich sprang auf. Das Buch war gegen eine Wand geprallt & lag nun, mit dem Rücken nach oben, einige Meter von mir entfernt auf dem Boden. Die Spinne kam darunter hervor. Sie war unverletzt. Sie bewegte sich langsam. Die Flügel waren angelegt. Angelegt auf ihrem fetten, unbehaarten Körper. Langsam, sie nicht aus den Augen lassend, ging ich zur Tür. Rückwärts. Ich fühlte, dass ihr Blick mir folgte; ergriff die Türklinke ….. Da bewegten sich die Flügel; wurden aufgestellt …. Ich drückte die Klinke nach unten … Die Spinne hob ab, im Flug bewegte sie die Beine … Als würde sie auf der Luft laufen … Ich riss die Tür auf …. Wollte sie hinter mir zuwerfen, meine Hand rutschte ab, die Tür bekam nicht genügend Schwung, ging nicht ganz zu … Ich rannte über den Flur, der Flur war dunkel bis auf das wenige Licht aus dem Wohnzimmer, ich spürte die Verfolgung der Spinne … Ich bin schneller als sie, sie kann mich nicht einholen, bitte, sie darf mich nicht einholen! Der Flur schien länger zu sein, als ich ihn kannte. Schließlich riss ich die Schlafzimmertür auf, und diesmal schaffte ich es, die Tür rechtzeitig zuzuknallen. Finsternis. Ich machte Licht.
Ja, die Spinne war draußen geblieben. Selbst meine Panik war außer Atem. Etwas boxte von Innen gegen meine Rippen. Ich legte mich aufs Bett. Sie ist da draußen. Sie wartet. Ich werde sie töten. Ich kann sie töten – warum stelle ich mich dermaßen an? Eine Spinne, eine blöde kleine Spinne. Sie kann fliegen, na schön. Aber sie kann auch sterben, wenn ich das will. Vielleicht ist sie die einzige ihrer Art, dann rotte ich mit ihr gleichzeitig ihre Art aus. Das wäre doch wunderbar. Das wäre Macht. – Aber was, wenn es Millionen davon gäbe? Eine neue Art, die sich längst ausgebreitet hat …. Meine Fantasie fing an zu spinnen. Netze aus Peitschen. Rasende Bilder, aufgepeitschte Vorstellungen.
Beruhige dich …. beruhige dich …. nur eine Spinne …. nur 1 Spinne ….
Langsam, ganz langsam, so langsam wie die fliegende Spinne – beruhigte ich mich. Ruhe. Ruhe.
Und dann hörte ich ein Geräusch. Ein Geräusch & noch ein Geräusch. Als stieße unter dem Bett etwas gegen das Lattenrost. Panik. Ich wagte es nicht, aufzustehen. Setzte mich dicht ans Kopfteil des Bettes. Du spinnst! Du bildest dir etwas ein! Du
Doch. Das Geräusch war da. Keine Einbildung.
Ich wartete. Wartete. – Ich musste nicht lange warten.
2 dicke schwarze Beine waren das erste, was ich von ihr erblickte. Und ich meine wirklich: DICK. Dann folgte: der Kopf – – –
Eine weitere Spinne. Und sie war schnell, so schnell. Nachdem ihre ersten Bewegungen noch tastend-langsam gewesen waren, huschte sie nun unter dem Bett hervor. Groß wie 2 Pizzateller. Sie drehte sich herum, wandte sich mir zu. Und sie hatte den haarlosen Kopf einer Frau. Einen kleinen Glatzkopf, der zwischen ihren Vorderbeinen, vorne an ihrem dickrunden, behaarten Körper saß. Und sie schaute mich an, und ich erkannte ihr Gesicht. Zitternd. Ein Gesicht aus der Vergangenheit. Ein Gesicht, das schöne Augen gehabt hatte. Damals. Heute waren die Augen schwarz & böse. Und sie erbrachen einen Blick, der zu lange mit dem Wahnsinn geflirtet hatte. Ihre Lippen bewegten sich, als spreche sie. Doch ich hörte nichts. Ich musste sie nicht hören, um zu wissen, dass ihre Worte wüteten. Wüteten gegen mich. Ich glaubte ihren Körper zu riechen; und er roch schlecht in meinem Glauben.
„VERSCHWINDE!“ schrie ich.
Da grinste sie sarkastisch.
Wie kann ich sie töten? Wie kann ich DIESE töten? So groß. So schnell. Und das Gesicht…… Ein Messer. Ein Küchenmesser. In den behaarten Leib…..
Ein Geräusch an der Tür. Ein lautes Kratzen von Außen. Das konnte die fliegende Spinne nicht sein.
Die Hölle! Ich werde in die Hölle blicken….
Die schwarzen bösen Augen der Glatzköpfigen (der Schein der alten Nachttischlampe spiegelte sich in ihnen) blickten wissend. Sie schien zu wissen, wer das Geräusch verursachte.
Sie grinste. Und ihre 8 langen Beine spannten sich an. Spannten sich an. Spannten sich an, als setze sie an – – – zu einem Sprung……..
Ich wartete auf das Springen meiner Rippen. Die Schläge von Innen waren hart. K.O. oder Tod …..
Nie wieder würde ich ein Buch in die Hand nehmen.
Sie setzte zum Sprung an.
Und die Türklinke wurde heruntergedrückt.


Einsamkeit macht dick

Als Du gingst, wog ich
63 kg –

Jetzt wiege ich
71 kg –


Gott, was haben wir gelacht!

Ich liebe den bösen bösen Humor
des Schicksals – – -.
Malcolm Lowry, der wohl unFassBARste
Säufer der Literaturgeschichte, hatte,
als man ihn obduzierte, eine völlig
intakte Leber.

Sein Vater –
zeitlebens Abstinenzler –
starb an
Leberzirrhose.

Gott, was haben wir gelacht!

06


Wortbruch

Mein zerstörter Schädel tauchte
auf aus Betäubung – frische
Blutflecken auf dem Kissen.
Das Gedächtnis lallte etwas von
Vodka, Bier, Tequila, Aspirin;
von Zahlen wollte es nichts wissen;
das Wieviel war Viel gewesen,
aber 1 Aspirin würde schon noch
gehen. Kein Wasser neben dem
Bett, also: trocken schlucken.
Ein geringer Preis für die Euphorie
der vergangenen Nacht.

Selbstexperiment : Selbstzerstörung :
die Unterspülung, Überflutung des
Wortzentrums : Platzregen der Ideen :
Aufbruch der Worte : Sprengung :
Fliegende Fetzen : Gedankengebäude :
Einstürzende Altbauten : Steinbruch :
AssoziaZonen : Das surrealistische
ManiFest : monomanisches Getippe

Gegen Mittag hatte der Handwerker
geklingelt. Der Wasserzähler sollte aus-
getauscht werden. Ich war so besoffen,
dass ich tatsächlich die Tür öffnete.
Ich stotterte ihm meinen Alk-Atem
entgegen. Wie kann man um diese
Uhrzeit dermaßen besoffen sein
, hörte
ich ihn denken. Er arbeitete schnell.
Offenbar wollte er schnell wieder weg;
mein Keller & die Treppe dorthin sind
wie das Set eines Horrorfilms; ich bin
verstörrte Blicke gewohnt. Man hält
mich für exzentrisch oder gemein-
gefährlich (alles Quatsch natürlich).
Außerdem trug ich ein T-Shirt, auf
dem der Schriftzug >PSYCHO<
prangte; das machte es nicht besser.
Er beeilte sich so sehr, dass er seine
Taschenlampe vergaß, obwohl sie
eingeschaltet war. Ich trug ihm sein Licht
hinterher. „Tschüss“ ist ein einsilbiges
Wort; das konnte ich gerade noch
sagen. Dann fiel ich ins Bett. Im Bett
lag die Ukulele, ich spielte noch
ein bisschen, dachte an die Ukulele
von Malcolm Lowry – – &
war weg.

Ich hatte mir kein
Versprechen gegeben, kein:
Morgen trinke ich weniger, morgen
trinke ich mehr – morgen morgen
morgen …..

Ich gebe keine Versprechen.

Worte
breche ich. Auf meine
Art.


Die Knotin

Ich glaube, er hieß Keller & ging ins Badezimmer, und die Morgensonne verschwand hinter einer fetten Wolke. Zufall, kein kausaler Zusammenhang. Er war nackt. Er pisste, sitzend; ließ die Spülung rauschen, stellte sich vor das Waschbecken & schaute in den Spiegel. Desinteressiert, denn er kannte sich zu gut. Er griff zum Rasierapparat; der Scherkopf fraß Stoppeln. Geräuschvoll. Und gerade als er ihn über den Adamsapfel mähen ließ, sah er sie – – – die Erhebung, die Ausbuchtung über seiner linken Brustwarze. Wie eine Haselnusshälfte unter der Haut. Angstpuls. Er schaltete den Apparat aus, legte ihn beiseite. Betrachtete den Knoten zunächst im Spiegel & dann direkt von oben herab. Krebs, dachte er. Vorsichtig, ganz vorsichtig drückte er die Zeigefingerspitze auf den…..
„Aua“, – – sagte ein zartes, hohes Stimmchen.
Panik schlug sein Herz, in seinem Kopf rief es Wahnsinn! Wahnsinn! Es ist soweit, du bist wahnsinnig geworden!
Er blickte in den Spiegel. In sein Gesicht. In seine Augen. Sieht so der Wahnsinn aus?
Noch ein Versuch, ängstlich ….. Wieder tippte er mit der Zeigefingerspitze……
„Lass das, du Idiot“, sagte das Stimmchen. Leicht ungehalten. „Du hast dir nicht mal die Hände gewaschen.“
Die Stimme war ihm nah; sie kam definitiv aus dem Knoten. Eine weibliche Stimme (falls eine solche Definition an dieser Stelle zulässig war). Er selber spürte nichts.
Ich muss zum Arzt, dachte er.
„Du wirst nicht zum Arzt gehen“, sagte sie. „Du wüßtest ja nicht mal, zu was für einem Arzt; Internist, Psychiater.“ Sie kicherte.
In Filmen wachen sie irgendwann auf. In Romanen wachen sie irgendwann auf. Und dann ist da wieder die Realität. Aber dies hier, DIES HIER ist die REALITÄT!
„Denk nicht soviel“, sagte sie, „mach dich lieber fertig, du musst zur Arbeit.“
Ach ja, Arbeit, Menschen, Kollegen, normale Realität – wie lächerlich war das alles. Jetzt. Plötzlich. Er hätte sich krankmelden können; aber vielleicht würde ja die Ablenkung helfen.
Er rasierte sich weiter. Immer wieder zog Sie seinen Blick auf sich. Und darunter tobte sein Herz. Die Mechanik der Morgenroutine lief nebenher. Er duschte. Sparte Sie dabei aus. Sie sagte nichts. Er wusch sich die Haare. Und so weiter, und so weiter. Mechanik, Routine, Automatismus. Und über allem das schreiende Chaos in seinem Schädel. Schließlich verließ er das Bad, und die fette Wolke gab die Sonne frei. Zufall, kein kausaler Zusammenhang.
Das Frühstück ließ er heute aus. Er hätte nichts essen können; außerdem war er ohnehin spät dran. Er zog sich an. Knotete die Krawatte.
„Hat dir schon mal jemand gesagt, wie bescheuert du mit Anzug & Krawatte aussiehst?“ sagte sie. Die Stimme gedämpft durch die Kleidung.
„Ja“, sagte er (es war das erste, was er laut zu ihr sagte), „und zwar ich mir selber.“
„Dann ist es ja gut“, sagte sie.
Selbstgespräche, dachte er. Jetzt kommen die Selbstgespräche. Es sind doch Selbstgespräche – ?
„Sind es nicht“, sagte sie, „das wirst du schon noch merken.“
Als er aus der Haustür in die Sonne trat, fühlte er einen leichten Schwindel. Normale Menschen waren unterwegs. Jedenfalls äußerlich normal. Es verstörte ihn. Hatten auch sie etwas Verborgenes? Er setzte sich ins Auto & fuhr los. Ihm graute es vor dem Büro. Was, wenn sie dort plötzlich losplapperte? – Sie sagte nichts zu diesem Gedanken. Überhaupt sagte sie während der ganzen Fahrt nichts. Er versuchte sich auf den Berufsverkehr zu konzentrieren. Der übliche Stau an der üblichen Stelle. Jetzt hätte sie eigentlich etwas sagen können, um ihn zu unterhalten.

Im Büro. Man grüßte. Ein normaler Tag für alle. Wahrscheinlich. Aber man konnte ja nie ganz sicher sein. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, einer von 5. Und er tat all die Dinge, die er immer tat. Dumme, öde kleine Dinge; so hatte er es schon immer empfunden, aber heute empfand er es besonders stark.
Sag nichts, dachte er.
Sie schwieg.
Ein Kollege sprach ihn an. „Sag mal, Keller, geht’s dir gut? Siehst heute ein bisschen mitgenommen aus.“
Und schon schauten auch die anderen zu ihm herüber.
Er bastelte ein Lächeln. „Ja, alles prima. Bin letzte Nacht ein bisschen versackt; aber alles im Grünen Bereich.“
Eine Kollegin grinste. „Tz tz tz, mitten in der Woche versacken….“
Der Kollege sagte: „So ist das eben, wenn man keine Frau hat. – Stimmt’s Keller?“
Er antwortete nicht, beugte sich wieder über seine Papiere.
„Lass ihn in Ruhe“, sagte die Kollegin.
„Schon gut“, sagte der Kollege.
Die anderen sagten nichts.
Und alle arbeiteten weiter. –
Nach 1 Stunde hielt Keller es nicht mehr aus. Er musste nachschauen. Sich vergewissern. Musste – sie wiedersehen.
Er ging zur Toilette, schloss sich in eine Kabine ein. Öffnete sein Hemd (bei solchem Wetter trug er nichts darunter).
– – – ? ? – – ! : Der Knoten war verschwunden. Sie, die Knotin, war verschwunden. Er betastete die Stelle, wo sie gewesen war; drückte tief hinein. Nichts. Ein kurzer, ein vorübergehender Anflug von Realitätsverlust? Eine Überreizung? Eine harmlose Psychose? War es das gewesen? Nichts. Nichts. Nichts. Da war nichts. Nichts mehr. Oder vielleicht war dort niemals etwas gewesen …. Ein Stein fiel lachend von seinem…..
Hier bin ich“, sagte sie. Sie klang leiser; noch gedämpfter.
Wo, dachte er sie an.
„Auf dem Rücken, knapp über deinem Arsch“, sagte sie. „Ich musste mir mal etwas Bewegung verschaffen.“
Er hatte nichts davon gespürt.
Er tastete nicht nach ihr. Wozu auch. Sie war da; das war sicher. Er knöpfte das Hemd wieder zu, ordnete die Krawatte.
Willkommen in der Hölle, dachte er für sich.
Aber ihr war es egal, ob er für sich oder sie dachte. Wenn sie meinte etwas sagen zu müssen, sagte sie etwas.
„Wieso Hölle? Du wirst sehen: das hat mit Hölle nichts zu tun. Du bist nicht mehr allein; das ist doch nicht die Hölle. Wir können viel Spaß miteinander haben.“
Ob auch andere sie hören konnten? Oder nur er? Ob überhaupt….. Was für Fragen, die er stellte; sich; ihr; Fragen ohne Antworten. Fragen, die voraussetzten, dass er Sie, die Knotin, bereits als Realität akzeptiert hatte. Wessen oder was für eine Realität das auch immer sein mochte.
Er ging zurück an seine Arbeit.
„Mann, du bist echt blaß heute“, sagte der Kollege.
Blöder Fettsack, dachte Keller.
Die anderen schwiegen.
Keller hasste den Geruch des Büros. Immer schon. Aber heute ganz besonders.
Kannst du mich andenken? dachte er sie an. Aber es kam keine Antwort.
Irgendwie brachte er die Bürostunden herum. Unkonzentriert; aber er musste sich ohnehin nicht besonders konzentrieren, um seine öde dumme Arbeit zu erledigen. Er hatte es sogar geschafft, während der Mittagspause eine Kleinigkeit zu essen.
Hin & wieder ging er aufs Klo, dachte & sprach sie an, aber es kam keine Antwort.
Vielleicht schläft sie. Vielleicht schläft sie tagsüber.
Dann: Feierabend. Man verabschiedete sich.
„Und trink nicht soviel“, sagte der Fettsack.
Keller reagierte nicht darauf. Stieg in sein Auto & fuhr in den Feierabendverkehr, die rote Sonne im Rückspiegel.
Zuhause ging er sofort ins Schlafzimmer & zog sich aus. Komplett. Warf alles aufs Bett. Scheiss auf die Bügelfalten.
„Verdammt“, sagt er. Sie saß in seinem linken Oberschenkel.
„Wassn?“ sagte sie.
„Schon wieder gewandert.“
„Na und? Meinst du es ist so spannend, den halben Tag hindurch kurz über deinem Arsch zu sitzen?“
Beinahe hätte er gelacht, aber er befürchtete, dass es bereits wie das Lachen eines Wahnsinnigen hätte klingen können. – Er zog sich T-Shirt & Shorts an & ging in die Küche. Zum Kühlschrank. Der Beefeater lag im Eisfach. Er nahm ein Wasserglas. Schenkte es randvoll. Trank. Eisig.
„Du solltest nicht so viel trinken“, sagte sie.
Er setzte ab. „Jetzt fängst du auch noch an. Mit dem Refrain meines Lebens.“
„War ein Scherz“, sagte sie. „Du wirst meinen Humor schon noch kennenlernen.“
„Das befürchte ich auch.“ Er ersetzte die Schlucke, die er getrunken hatte, tat die Flasche zurück ins Eisfach & ging ins Wohnzimmer. Setzte sich aufs Sofa & schaltete den Fernseher ein. Zappte. Dreck, dachte er, alles Dreck.
„Dreck“, sagte sie, „alles Dreck.“
„Prost“, sagte er, „du hast recht.“
„Prost“, sagte sie, „ich weiß.“
Er schaltete den Ton aus. Buntflackernde Bildkulisse. Grinsende Fratzen. Das Glas war kalt & feucht in seiner Hand.
„Langweilig, was?“ sagte sie.
„Nein“, sagte er, „mir ist nie langweilig; außer im Büro natürlich.“
Sie sagte: „Ich meinte das übrigens nicht so, als ich dich Idiot nannte.“
„Schon okay, ich bin einer. Wie soll ich dich nennen – Krebs?“
„Sehr lustig.“
„Du wirst meinen Humor schon noch kennenlernen.“
„Das befürchte ich auch“, sagte sie.
Langsam schwand das rote Sonnenlicht. Er trank. Irgendein Nachbar hatte unerwartet guten Musikgeschmack. Tom Waits.
Keller sagte: „Aus was für einer Zelle bist du eigentlich entsprungen?“
Sie kicherte. „Wahrscheinlich aus derselben wie du.“
„Bist du betrunken?“ fragte er.
„Ja. Und du?“
„Etwas.“
„Ich könnte in deinen Schwanz wandern; vielleicht würdest du etwas spüren & Spaß haben.“
„Untersteh dich“, sagte er. „Ich hab Spaß genug. Außerdem spüre ich dich sowieso nicht.“
„Schade“, sagte sie.
Irgendwann war der Fernseher die einzige Lichtquelle. Keller wurde erinnert, dass man noch dümmer grinsen kann, als es die Menschen im Büro konnten. Die Ginflasche hatte Zimmertemperatur; quadratische Ränder auf dem Tisch.
„Wo bist du jetzt?“ fragte er.
„In deinem Bauchnabel.“
Er hob das T-Shirt an. Sie passte perfekt. Fast sah es aus, als habe er keinen Bauchnabel. Belly without blemish, fiel ihm ein.
Und sanft fuhr er mit dem Mittelfinger darüber, fast fühlte es sich glatt an (g-l-a-t-t), und sie kicherte.

Und sie kicherte.
Tage vergingen.
Und er grinste.
Wochen vergingen.
Und sie kicherte.
Und sie kicherte.
Und er grinste.
Und Kollegen grinsten.
Und Kolleginnen kicherten.

Tuscheln in der Kantine. „Hat Keller ne Frau?“ fragte einer.
Der Fettsack sagte: „Könnte fast sein, so gut wie der im Moment drauf ist.“
„Also, ich weiß nicht“, sagte eine Kollegin.
„Was weißt du nicht?“ sagte der Fettsack.
„Naja, kann ich mir bei ihm einfach kaum vorstellen.“
„Ach Quatsch“, sagte ein anderer. „Also, ich bin mir sicher, dass er ne Frau hat. Und ich gönn’s ihm auch.“

Kollegen kicherten.
Keller grinste..
Sie kicherte.

Doch es ist ja so -: Kichern vergeht. Grinsen vergeht. Irgend. Etwas. Besteht.

„Lass mich in Frieden“, sagte Keller.
IN FRIEDEN!“ schrillte sie. – „Hahaha! In Frieden ruhen vielleicht.“ Sie hatte kein Stimmchen mehr. Nicht mehr zart. Und weniger hoch.
Zufällige Wolken. Unkausale Zusammenhänge.
Keller bekam nur noch wenig Schlaf. Sie redete auf ihn ein, wenn er im Bett lag. Oder, kaum war er eingeschlafen, fing sie an zu singen.
„Halts Maul“, sagte er, „oder ich steche dich ab.“
„Das wäre ein Fehler“, sagte sie. „Du würdest verbluten.“
„Das glaube ich dir nicht.“
„Versuchs doch“, sagte sie.
„Bitte bitte“, sagte er, „halt doch einfach dein Maul.“
Sie lachte & sang einen Schlager.
Manchmal fragte er sich, ob sie, wenn er denn doch einmal schlief, ihm vielleicht etwas zuflüsterte….
Das Kollegium bemerkte Veränderungen. Der Fettsack wagte nicht mehr, zu witzeln.
Keller wurde finster.
„Herr Keller“, sagte der Fettsack.
„WAS?!“
„Ich glaube, da ist Ihnen ein Fehler, ein kleiner, unbedeutender Fehler unterlau“
„Gib her!“ Keller riss ihm das Formular aus der Hand. „Ich guck mir die SCHEISSE noch mal an.“
Alle beugten sich über ihre Papiere.

Kellers Wohnung: ein schreiendes Chaos. Er soff, er brüllte & Nachbarn klopften. Dann schwieg er. Doch Sie schwieg nie. Und er wurde leise. Mit der Zeit. Leise. Noch leiser. Wochen vergingen. Er wurde unauffällig. So unauffällig, dass jedermann im Hause ihn wieder vergaß. Keller? Ein Nachbar? Ach ja, Keller. Nun ja…..

„Also, mir ist er ja nie so aufgefallen …. Nur eine Zeitlang … Ganz kurz …. Eigentlich war er nett …. Unauffällig ….. Grüßte immer so freundlich … Ich glaube, es ging ihm nicht immer so gut …. Aber in der letzten Zeit hatte er sich gefangen …. Er hatte ein nettes Lächeln …..“ :
TV. Eine Fratze, die versuchte Betroffenheit zu mimen. Oder war sie : betroffen ? Der Fernseher: die vielleicht einzige Beleuchtung in Millionen Wohnzimmern. Leere Bauchnabel allenthalben. Schlaglöcher. Unebenheiten.

Lokalpresse: Harzer Panorama Extra vom 30.08.2005
AMOKLAUF IN BAD HARZBURGER BEHÖRDE
>Edward K. (51), alleinstehend, betrat das Bürogebäude […] , in dem er seit 22 Jahren arbeitete. Zunächst schoss er mit einem alten Armeerevolver seinen Kollegen und Kolleginnen in die Beine, dann schlug er mit einer Axt auf sie ein. Niemand überlebte. […] „Es bot sich ein Bild des Grauens“, sagt der Polizeibeamte, Oberkommissar Jochen Nipkow. „Überall Leichenteile. So etwas habe ich in meinem über dreißigjährigen Berufsleben noch nicht gesehen. Eine beispiellose Tat.“ […] Nach dem Massaker begab K. sich auf das Dach des achtstöckigen Gebäudes und sprang in die Tiefe. Er war sofort tot. Über die Hintergründe der Tat ist bislang nichts bekannt. Nachbarn […]<

Die Sonne schien. Das Blut hatte man entfernt. Das Gehirn hatte man entfernt. Der Gehweg vor dem Bürogebäude war sauber. Keller war in der Pathologie gelandet. Seine Leber war nicht in bestem Zustand. Doch er war nüchtern gewesen. Keine Drogen. Keine Anomalien.
Frisch rasiert war er gewesen.
Die Sonne schien, und es gab keine Wolken. Zufall, glaube ich.


Feuervogel in Alufolie

Das Radio weckte mich mit Strawinsky.
Viertelwach erkannte ich den Feuervogel.
Ich war müde; sehr müde. Auf halber
Strecke durch den Tagesschlaf hatten Worte
& Ideen mich ins Bewußtsein zurück
geprügelt. Ich hatte in der Finsternis gelegen
& mit geschlossenen Augen die Worte
nach dem Willen der Ideen geordnet. Es
dauerte. Als ich fertig war, speicherte ich
alles in meiner Sülze & schlief weiter.
Nun also: Wach. Ich mache Licht, stehe
auf. Gehe ins Wohnzimmer. Auf dem
Schlitten der Schreibmaschine – 1 leeres
Blatt Papier ist eingespannt – sitzt ein
Nachtfalter. Ich fahre Schlitten mit ihm.
Tippe das Kopfgespeicherte. Dem Falter
isses egal. Der Schlaf hat manches im
Text gestrichen, anderes hinzugefügt.
Fertig, ich gehe kacken.
Dann: Frühstück. Bereit machen für die
Arbeit; zumindest äußerlich bereit.
Ich steige ins Auto, fahre 45 Kilometer
durch die Dunkelheit in die Ödnis der
Fremdbestimmung & des Zeitraubs ….
Job Job Job Job (gut dass ich einen habe,
aber meckern über die Tatsache, einen
haben zu müssen, tue ich trotzdem)….
Alufolie [das Wort hat hier nichts zu
suchen & keinen Sinn, aber ich habe
Lust, es zu schreiben, also tu ichs –
TippTourette] …
Ich komme im Hotel an, spieße mein
Jackett mit dem Namensschild auf; bin
beschildert, gelabelt, gekennzeichnet.
Es ist Samstag. Nicht lange, und die
Lobby füllt sich mit Besoffenen, die aus
der Bar & der Stadt in Strömen fließen.
Eine Menge Vertretervisagen darunter;
Menschen, die unter der Woche kuschen,
und sich am Wochenende rächen. Es
fühlt sich gut an, neben ihnen nüchtern
zu sein. Unter der Woche bin ich ein
Säufer, aber wenn alle saufen, wenn
sowas säuft, vergeht mir die Lust. Wie laut sie
sind. Wie uninspiriert die Roten Augen tränen.
Alkohol weiß mit ihnen nichts anzufangen;
selbst dem Bier sind sie zu blöd. Blicke,
so hohl, dass sogar die Leere ein Echo hat.
Ich setze mich hin, öffne das Textprogramm
& tippe vor mich hin, die Arbeit kann
warten, in der Bar splittert ein Glas, das
Telefon klingelt, jemand reserviert für
nächste Woche, ein Schwarm Chinesen
betritt die Halle, auch sie besoffen, aber
anders, sie sind höflich, entern den Aufzug,
verschwinden, ich tippe weiter, eine
Vertretervisage tritt an die Rezeption,
beginnt mich zuzulallen, ich antworte höflich
wie ein Chinese, aber mein Gesichtsausdruck
veranlasst ihn, sich meinen Namen zu notieren, gut,
dass ich ein Namensschild trage, jetzt werde ich
vielleicht berühmt in irgendeinem Internet-
portal, fluchend schließt er sich wieder seiner
Herde an, ich tippe weiter, draußen Blaulicht
& Sirenen, es ist Samstag, Jetzt zuhause sein,
denke ich, mit dem Nachtfalter & dem Feuer-
vogel
, ich tippe das Ende, schicke mir das
Ganze per Email nach Hause, klicke auf das
Kreuz oben rechts ‚Wollen Sie speichern?’,
Nein, will ich nicht. Weshalb bin ich hier?
Ach ja, Arbeiten. Also arbeite ich jetzt. Inzwischen
redet man über Fussball. Gläser klirren. Die
Kollegin aus der Bar bringt Nachschub in die Lobby;
anzügliche Bemerkungen (schon jetzt ist klar, sie
werden ihr kein Trinkgeld geben, wir kennen
unsere Pappenheimer), auf dem Rückweg
lächelt sie mir zu & schaut gen Himmel.
2 Glasaugen nähern sich mir, aus dem Biermaul
sprüht ein Wort: „Toilette?“ Ich gebe eine
Wegbeschreibung (Kotz Blut! denke ich). Und
so geht es weiter weiter weiter. Job Job Job.
Stunde um Stunde. Bis es dämmert.
Dann nehme ich das Namensschild ab, es
fließt kein Blut aus den Wunden des Jacketts,
und ich fahre 45 Kilometer durch das Morgenlicht
in die Oase meiner Selbstbestimmung.
Der Nachtfalter hat den Schlitten verlassen.
Der Text ist noch da. Die Email ist eingetroffen.
Ich werde heute nichts trinken. Und auch auf
der Festplatte habe ich den
Feuervogel.


Erste Sätze

Ich habe verrückte Angewohnheiten.
Schrullen.
In manchen Nächten, seltsam-disparate
Musikmixturen donnern durchs Haus
(Heavy Metal, Swing, Klassik, Pop,
Bebop, Oper), Flaschen sitzen
locker wie die Colts eines Revolver-
helden, da tänzle ich durch die Räume,
vorbei an den Regalen, & ich ziehe einige
meiner Lieblingsbücher heraus, nur
um den jeweils Ersten Satz wieder
zu lesen – selbst wenn ich ihn auswendig
kenne; ich will ihn sehen. Ich liebe
Erste Sätze! Sie entscheiden. So wie
es manchmal der Erste Blick tut.

-Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.
-Dem Höhepunkt des Lebens war ich nahe, da
mich ein dunkler Wald umfing und ich, verirrt,
den rechten Weg nicht wieder fand.
-Stattlich und feist erschien Buck Mulligan am Treppen-
austritt, ein Seifenbecken in Händen, auf dem gekreuzt ein
Spiegel und ein Rasiermesser lagen.
-Angefangen hat das so.
-Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf das
Nichts des Neuen.
-„Was ist das. – Was – ist das …“
-Zwei Gebirgsketten ziehen sich in etwa nordsüdlicher
Richtung durch die Republik, und dazwischen breitet sich
eine Anzahl von Tälern und Hochplateaus aus.
-Zuerst dieses hauchend lange, pfeifende Heulen, mitten in der
Luft, als käme die Lokomotive, die Sie nirgends sehen, im
Bogen unter den Wolken hervor, die unbewegt niedrig über
dem Hügelrand warten, bis man sie nicht mehr erblicken wird.
-Da ist ja die Person, die ich gesucht habe.
-Es war in jener Zeit, als ich in Kristiania umherging und
hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verläßt, ehe
er von ihr gezeichnet wurde …
-Das Schauspiel dauerte sehr lange.
-Ende November bei Tauwetter gegen neun Uhr morgens
eilte der Eisenbahnzug Warschau-Petersburg mit Volldampf
seinem Endziel entgegen.
-Nichts Niemand Nirgends Nie !
-Ein heiterer Juniusnachmittag besonnte die Straßen der
Residenzstadt.
-Am Wahltag war es über mich gekommen.
-Hört meine letzten Worte.
-Der Captain rührte keinen Alkohol an.
-Dies hier ist ein erstes Kapitel, welches verhindern soll, daß
vorliegendes Werkchen mit einem Zweiten Kapitel beginne.
-Aus einer privaten Irrenanstalt in der Nähe von Providence,
Rhode Island, verschwand kürzlich eine höchst sonderbare
Person.
-Er stand vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses und war frei.
-Kaufleute, Autoren, Mädchen und Quäker nennen alle Leute,
mit denen sie verkehren, Freunde; und meine Leser sind also
meine Gast- und Universitätsfreunde.
-Es regnete, als ich um 5 Uhr morgens in New Orleans eintraf.
-Wir saßen an unseren Aufgaben, als der Rektor eintrat.
-Mehr als zwei Monate vergingen, bevor Des Esseintes in die
Stille seines Hauses bei Fontenay eintauchen konnte.
-Ich wohne in der Villa Borghese.
-Unglücklich ist derjenige, dem die Erinnerungen seiner Kindheit
nur Angst und Traurigkeit bringen.
-Mein Vater war ein Kaufmann.
-Heute ist Mama gestorben.
-Dann war das schlechte Wetter da.
-Das beste wäre, die Ereignisse Tag für Tag aufzuschreiben.
-Es gab in der Stadt zwei Taubstumme, die man stets beisammen
sah.
-Das Mondlicht fällt auf das Fußende meines Bettes und liegt
dort wie ein großer, heller, flacher Stein.
-Wahrhaftig! – reizbar – sehr, fürchterlich reizbar waren meine
Nerven gewesen, und sie sind es noch; doch warum meinen Sie,
ich sei verrückt?

Ja, verrückt.
Ich habe verrückte Angewohnheiten.
Die Musik donnert durchs Haus.
Und die Flaschen sitzen locker.
Und ich werde noch lange unterwegs sein,
vor den Regalen.


Havarie

Ein Meer
das riecht wie
meine Kindheit

Wacholder

37 % Alkohol
manchmal auch 47

Heiligabend
der erste nach dem Tod
meines Vaters
ich war 13

Mein ältester Bruder
gerade aus dem Knast entlassen
gab mir Gin mit O-Saft

Liebe auf den Ersten Ruch

Ein Duft wie der
Nagellackentferner meiner
Mutter

Wiedergefundene
Zeit


Mal etwas Grundsätzliches

Damals war ich so verbissen wie ein ausgehungerter Hai. In fast allem. Aber besonders was das Schreiben anging. Jugend – auch ich hatte mal sowas. Ich saß in einem kleinen Kellerzimmer mit niedriger Decke vor einer Schreibmaschine aus den 50er Jahren. Drechselte & feilte. Feilte wieder. Schrieb um. Schrieb neu. Schrieb Fassung um Fassung. Schrieb langsam; so langsam. Schrieb seitenlange Sätze. Klebte Zettel in & an das Typoskript. Und um 100 Seiten fertig zu haben, hatte ich vermutlich 300 geschrieben. Wehe wenn ich irgendwo das leiseste Geräusch hörte. Ich rastete aus, lief fluchend in dem kleinen Zimmer umher; ich war sofort raus aus dem Fluss. Der Druck war gewaltig. Der Druck, den ich mir machte. Den Es-in-mir mir machte. Dabei schrieb ich nur für mich. Nur 2 oder 3 Menschen hatte ich mal einen winzigen Teil davon gezeigt. Mehr wollte ich nicht; mehr brauchte ich nicht.
Schreiben war Leiden. Und ich dachte, das müsse es auch sein. Selbstzerfleischung, Ringen um das mot juste. – Irgendwann war das Leiden aber so groß, dass ich mit dem Schreiben aufhörte. Oder Es hörte auf. Für Jahre. Viele viele Jahre. Ich konzentrierte mich auf die Musik. Natürlich verbissen. – Das Schreiben war gestorben. Punkt.
Jahre …. Jahre …. Jahre ….
Und dann kehrte es wieder. Als Zombie. In Fetzen. Eine chemische Reaktion? Radioaktiver Müll? Keine Ahnung. Egal. – Und alles war alles anders diesmal. Ich war schlampig geworden. Und es ist großartig, schlampig zu sein! Es gibt keinen Druck mehr. Nur noch Lässigkeit. Hingerotzte Worte; Texte wie Dartpfeile – & es ist mir egal, wo sie die Scheibe treffen. Ob sie die Scheibe überhaupt treffen oder in der Wand landen. Oder auf dem Boden. Ich sitze da, die Musik dröhnt gegen meine Gedanken an, und ich haue auf die Tasten – 10 Finger in einem seltsamen Rhythmus. Nebenher surfe ich im Internet, twittere, chatte, lese oder schreibe Emails. Ein Satz hier, ein Satz dort. (Moment, ich muss gerade mal staubwischen; bin gleich wieder da.) Draußen schreien Kinder. Oder ich schreibe bei der Arbeit, umgeben von grölenden Besoffenen in der Hotelhalle, die zwischendurch immer wieder etwas von mir wollen.
Wo ist das Leiden hin? Keine Ahnung; zumindest ist es nicht mit auferstanden. Es kann mir gestohlen bleiben. Tot. Die Besseren sollen ruhig weiter leiden, weiter suchen & sich quälen. Ehrgeiz im eigentlichen Sinne hatte ich nie; aber ich hatte so etwas Ähnliches mir selbst gegenüber. Und nun existiert auch das nicht mehr.
Ich schreibe schnell. Ebenso schnell lade ich es im Internet hoch & vergesse es wieder. Manchmal – aber das liegt dann an den Cocktails, die ich mir nebenher mixe – weiß ich schon am nächsten Tag nicht mehr, was ich zuletzt geschrieben habe. Dann schaue ich es mir noch mal an. Aus reiner Neugier. Was habe ich da wieder im Vollrausch verzapft? Fast lese ich es wie einen fremden Text. Selten ändere ich etwas. Es interessiert mich nicht mehr. Wichtig ist nur noch, dass ich mich bei & nach dem Schreiben gut fühle. Raus aus der Depression der Ausdruckslosigkeit. Einen anderen Sinn suche ich darin nicht mehr. Wenn es jemand anderem gefällt, schön. Wenn nicht, auch schön. Eigentlich müsste es nicht einmal mir gefallen. Ich will keinen Blumentopf damit gewinnen. Und ich möchte ihn mir auch nicht selber überreichen.
Tja, Jugend – schön & gut. Aber manches wird einfach besser, wenn man älter wird. Zumindest subjektiv. Und sollte es objektiv betrachtet schlechter sein, ist es einem scheissegal.
Und wenn ich mir ständig widerspreche, widerschreibe, ist es mir ebenfalls egal.
Das wollte gerade heraus, also habe ichs herausgelassen. Ich habe einen gräßlichen Kater im Moment. Mehr Grundsätzliches habe ich nicht zu sagen.

 

0000


Ey, Alter!

„Ey, Alter“, sagte er, „was ist
eigentlich mit dir los? – Du bist
der einzige Säufer, den ich kenne,
der im Vollrausch Shakespeare-Monologe
aufsagt. Und das auch noch auf deutsch
und englisch.“
„Tatsächlich?“ sagte ich. „Ich dachte, das
tun sie alle. Aber danke für
die Frage.“


Ungeschrieben

Ein Schild:
‚Wegen Selbstzerstörung geschlossen!’

An wievielen Türen es doch
gehangen hatte. Türen zu kleinen
kahlen Zimmern. Zimmern voll
von Papier; von Stiften & Gänsekielen;
Eine einsame Schreibmaschine. Voll von
Staub.

Die Zimmer meiner toten Helden.
Die jünger starben als ich heute bin.
Sie hatten keine Wahl. Die
Selbstzerstörung wählte sie,
erwählte sie. Um ihnen den Ausweg
zu weisen …. den letzten, den
einzigen Ausweg aus dem,
was ihnen zugeteilt worden war ….

Manchmal versuche ich sie zu
träumen: die Geschichten, die
Poe nicht mehr schreiben konnte;
die Gedichte, die Dylan Thomas
mit ins Grab nahm; die Romane, die
Malcolm Lowry ermordet hat ….
Die Liste führt ins Unendliche.
In die Unendlichkeit des
Menschseins, das die Besten
oftmals nicht ertragen können.

Ich erwache.
Wieder ist mir ein Traum
nicht gelungen.

Ich erwache.
Wahrscheinlich wird mir auch das Leben
nicht gelingen.

Ich erwache.
Und erhebe mein Glas

Auf
Euch

Ihr toten
Helden!


Die Goldwaage der Nüchternen

Und die Nüchternen erwachen morgens
nüchtern. Und sie hören, was ich sage –
wenn ich etwas sage. Und sie lesen, was
ich schreibe – wenn ich etwas schreibe.
Und sie legen meine Worte auf die
Goldwaage ihrer Nüchternheit. Und
sie wiegen nach. Nüchtern. Und die Maßeinheit
heißt Verletzung. Und die Verletzung wiegt
schwer. Obwohl meine Worte nicht
Gold sind. Meine Worte sind nur Blei.

Morgens.
Eine Nacht voller Cocktails liegt
hinter mir. Meine Munition. Ich bin
geladen. Mein Hirn ein Magazin von
Dum-Dum-Geschossen. Ich schieße
um mich, wild & rücksichtslos;
manchmal auch sentimental.
Pardon wird nicht gegeben.
Unsichtbares Blut läuft aus offenen
Wunden. Aus den Wunden der
Nüchternen, die gerade erwacht
sind; und die als erstes ihre
Goldwaage polieren.

Sie sollten sie in Zahlung geben,
diese Goldwaage. Sie bedeutet nur
Schmerz. Vielleicht
bekommen sie dafür eine
schusssichere Weste. Ich wünsche
sie ihnen.

Und manchen von ihnen würde ich
sie sogar gerne
schenken.


Die Zigarre

Der Mann war seltsam, keine Frage.
Er stand vor mir, an der Hotelrezeption & textete mich zu mit Banalitäten. Ich war das gewohnt. Die seltsamsten Menschen kamen Nacht für Nacht vom Hauptbahnhof herüber, nur um zu quatschen. Für sie ist der Nachtportier ein Psychiater oder Beichtvater. Sie laden ab, was sie abzuladen haben. Meistens Müll. Müll, der sie belastet. Und wehe, sie merken, dass sie ein Ohr vor sich haben. Dann finden sie kaum ein Ende. Und ich bin ganz Ohr.
Was dieser Mann erzählte, es war unwichtig. Für mich. Für ihn war es: die Welt. Er hielt mich von der Arbeit ab. Und ich mag es, von der Arbeit abgehalten zu werden. Ich hörte ihm zu, und als er alles abgeladen hatte, was er hatte abladen wollen, fragte er:
„Rauchen Sie Zigarren?“
„Ja“, sagte ich.
„Gut“, sagte er, „ich habe gerade eine geschenkt bekommen. Von einem Freund, der Vater geworden ist. Aber ich rauche nicht. Dafür, dass sie so nett zugehört haben, werde ich sie Ihnen geben.“
Ich habe keine Skrupel, ich nehme an, was ich kriegen kann; und ich sah es auch so: er hatte mir eine Menge Dreck erzählt – ich verdiente es, dafür belohnt zu werden.
Er reichte mir das Metallröhrchen. Tiefschwarz mit goldener Schrift. Ich nahm es an. Grinste. Freundlich.
„Danke.“ (Nein, ‚Das wäre doch nicht nötig gewesen’, sagte ich nicht, denn es war nötig gewesen.)
Er ging. Und als er auf der anderen Seite der Straße angekommen war, konnte ich mich schon nicht mehr an sein Gesicht erinnern.
Ich brachte den Rest der Nachtschicht herum.
Fuhr nach Hause, aß Kuchen, trank Milch & legte mich schlafen. Verschlief den Tag. Wie immer.

Das schwarze Röhrchen mit goldener Schrift lag im Wohnzimmer.

Endlich. 4 Tage später hatte ich frei. Die Arbeitsnächte hatten mich abgefüllt mit Sinnlosigkeit, Dummheit & einer weiteren Schicht Routine.
Frei! Frei!
Im Bett liegen. Gin trinken. Lesen. Träumen. Dunkelheit genießen. Fantasie trinken. Und den Sinn des Nichtstuns erneut entdecken.
Irgendwann stand ich auf; in der Nacht. Hungrig. Gierig nach Olivenöl, Knoblauch & Zwiebeln. Zwiebeln finden meine Freudentränen & locken sie hervor. Ich kochte Spiralnudeln. Ließ sie im Sieb abtropfen. Warf sie in die Pfanne, in den aufzischenden Olivenölsee. Bewarf sie mit Knoblauch & Zwiebeln, Oregano obendrauf & Pfeffer in allen Farben. Roch, was zu riechen war. Zusammengebrutzeltes Glücksempfinden.
Ich aß. Aß. Aß. Roter Wein als kurzes Intervall. Spiralen. Ölig glänzend. Die 3 Kerzen auf dem Eßtisch.
Satt. Dann war ich satt. Was fehlte? Eine Zigarre. Die Zigarre zum Rotwein, zum Cognac, zur Sättigung.
Das schwarze Röhrchen.
Die goldene Schrift.
Ich dreht den Verschluss ab. Die Zigarre war in Zellufan eingeschweißt. Ich befreite sie. Schob sie unter meiner Nase vorbei. Sie roch GUT. Wie irgendein (fast) vergessenes SpeiseEis meiner Kindheit.
Sie war zu schön & zu gut für ein Feuerzeug. Also nahm ich ein Streichholz. Goldblaues Geflacker. Glut. Rauch. Graue Schlieren.
RAUCHEN!
Das Rauchen malt den Atem. Ein graues Gemälde.

Ich trank. Ich rauchte. Blies den Rauch in die Kerzenflammen. Beleuchteter Qualm.
Anheimelnd & gemütlich.

RAUCHEN!

Dann: wurde der Rauch – plötzlich – ungemütlich. Und unheimlich.
Über den goldblauen Flammen nahm er Formen an. Formen…… Ein Gesicht…. Ein graues, breites Gesicht, mit Augen. Augen, die sich vor Bosheit schlitzten. Vor Hinterhältigkeit. Und Gemeinheit. Darunter: eine wabernde Nase. Ein dunstiger Mund.
Und der Mund sprach. Im Licht der Kerzen.
Er sprach Worte, die ich vergaß. Ich weiß nur noch: sie waren boshaft; sie waren niederschlagend; sie waren düster; sie waren schwarz. Sie waren häßlich; so schauderhaft, dass ich fror.

Ich rauchte weiter. Weiter, während das Gesicht seine Form verlor & sich im Raum verteilte. Bei jedem Zug fragte ich mich, welches Grauen ich diesmal ausatmen würde. Ich zitterte & konnte es doch nicht lassen; ich musste sie aufrauchen. Nichts passierte. Ihren winzigglühenden Rest warf ich in den Aschenbecher. Aus der letzten, sterbenden Glut stieg der letzte Qualm, dünn wie ein Faden. Aber dieser Faden wurde das dicke Seil, das sich um meinen Hals legte. Um meinen Hals, der verstummte. Und keine Luft mehr bekam. Zu wenig Atem für einen Schrei.

Die Zigarre war seltsam. Keine Frage.


Bekanntschaft

Eine Bar in ungemütlichem Licht.
Nach dem 8. oder 9. Vodka-Martini auf
nüchternen Magen war ich in
Erfinderlaune. Ich sagte zu meiner
Bekannten:
„Siehst du den alten Typen da drüben,
im Holzfällerhemd? Das ist ein
berühmter Schriftsteller; ein berühmter
schwuler Schriftsteller, kenne ich ausm
Fernsehen.“
Sie nippte an ihrem Rotwein, schaute
kurz hinüber.
Ich sagte:
„Und weißt du was; ich glaube, ich
werde zu ihm rübergehen & ihm an-
bieten, seinen Schwanz zu lutschen.
Vielleicht besorgt er mir dann einen
Verleger.“
Ich hatte ein Lächeln erwartet; aber
mich traf nur der kalte Blick der
Humorlosigkeit.
„Das würdest du tun?“ sagte sie. „Du
würdest dich prostituieren?“
Ich war nicht in der Stimmung,
einzulenken. „Na klar, tief in mir
drin bin ich eine Nutte. Ein Stricher.
Wußtest du das nicht? Und ich bin
nicht mal schwul. Aber was solls; man
muss Prioritäten setzen.“
Offensichtlich konnte ich Rotwein
in Essig verwandeln.
Da wurde mir klar, dass wir uns nicht
kannten. Vielleicht niemals ein
Wort des andern richtig verstanden
hatten.

Wenn ich einen Brief abzuschicken habe,
gehe ich nachts zum Briefkasten; ich
will nicht gesehen, nicht angesprochen
werden von Nachbarn. Ich will meine
Ruhe, Ruhe. Ruhe!

Für andere nur schemenhaft
existieren…..

Anonymität
Versteckspiel
Untergang in der Masse
Unkenntlichkeit
Schweigen. –
Das ist es, was ich brauche.
Nichts sonst.

Ehrgeiz?
Ich verstehe das Wort nicht.
Ehre …. Geiz ….
Verschwindet!

Schon in der Grundschule
schwieg ich oft, wenn die
Lehrer mich etwas fragten –
vor allem wenn ich die Antwort
wußte.
Ich schwieg nicht aus
Schüchternheit. Ich
sah keinen Sinn im Antworten.

Der Pubertätstraum der
Prominenz verschwand mit
der Pubertät.

Ich wollte nur dasitzen &
vor & für mich hinkritzeln
& -tippen. Keine
einzige Seite aus meinen
Papierbergen hätte ich jemals
in einen Briefkasten gesteckt.
(Wenig Resonanz von wenigen
Menschen war gut & genug.)

Man kennt sich nicht.
Man versteht sich nicht.

Ich trank noch einen
Martini.
„Übrigens, die Frau, die sich
dahinten unterhält, ist eine berühmte
Schriftstellerin. Ich werde ihr
anbieten, sie zu ficken. Dann kann
ich vielleicht zwischen 2
Verlagen wählen…..“

Ungemütliches Licht.

Eine Bekannte.
Eine entfernte Bekannte.
Eine Bekannte, die sich
entfernte.


Angstschweiß

Ich finde sie schön, deine
hohe Stirn
Noch schöner finde ich sie
im Glanz des Angstschweißes,
glitzernd & reflektierend.
Ich verstehe ihn,
den Schweiß der Angst;
Angst vor dem Leben,
Angst vor dem Ende &
dem Nichts.
Ich lecke ihn ab, bevor ich
ihn mit Tequila
hinwegspüle.

Das Leben ist sauer,
& deine Angst ist
salzig.

Und ich finde sie
schön & ich
finde sie
süß.


Die 5beinige Spinne

Bei einer 5beinigen Spinne frage ich mich immer,
was ihr unterwegs passiert sein mag. Das Leben ist hart.
Mit Verlusten ist zu rechnen. Hungrige Katzen
lauern überall. Wie ängstliche Menschen.
Wehe, man verlässt sein Netz. Aber
nicht mal dort ist man sicher.
Die Spinne geht auf 5 Beinen, und ich
bemerke ihr Hinken nicht. Sie ist schnell,
noch immer. Vielleicht haben wir etwas
gemeinsam. Vielleicht nur das Erschrecken der
anderen, vielleicht die Hässlichkeit in den
Augen der Betrachter – denn auch ich
erschrecke, wie bei dem Blick in den Spiegel.
Ich stehe bereit –
mit dem Schuh; oder mit der Flasche,
um uns zu erlösen ….
sie von ihrem reduzierten Dasein,
mich vom Schrecken & der grundlos-abgründigen
Angst.
Aber vielleicht
werde ich es mir noch
anders überlegen.


Klar

Ich bin nicht der Märchenprinz
aus dem Reich der Wattebausch-Poesie.
Ich wasche nicht meine Gedanken
in Unschuld (oder wie immer die Lauge
heißen mag).
Ich bürste nicht die Erde von den Worten,
die ich benutze oder mißbrauche;
egal, wo ich sie ausgegraben habe.
Sie brauchen nicht sauber zu sein,
solange sie klar sind.

Klarer
als mein Verstand
nach 13 klaren Schnäpsen

Klarer
als die rosarote Brille
der Mißverständnisse

Ich bin es nicht.

Ich bin es nicht.

Und es tut mir nicht
leid.


Gerümpel

Gerümpel liegt auf dem Weg –
sperrig & unnütz, manchmal schön,
angesammelt in den Zeiten des
wachsenden Bewußtseins,
Zeiten des Erkennens, was
am Ende des Weges wartet …..
Der Blick auf dieses Ende
soll verstellt werden.
Die Gedanken sollen sich ver-
fangen in Nichtigkeiten, in
Tand, in Blendwerk.
Den meisten Menschen gelingt
es meistens. Manchen Menschen
gelingt es manchmal. Wenigen
Menschen gelingt es nie.

Manchmal bin ich versucht,
das Gerümpel mit reinem Alkohol
zu übergießen & meine glühende
Zigarre daran zu halten …..
Aber wozu? Was
würde es ändern?
In der Summe:
Nichts.

Jedem seine Blindheit!
Vielleicht saufe ich mich blind
mit reinem Alkohol – &
zur Sicherheit staple ich die
leeren Flaschen auf den
Weg, denn

das Glas
bricht auch meinen
Blick.


Die Vermisstenanzeige

Die Vermisstenanzeige spare ich mir;
die Suchtrupps sollen zuhause bleiben &
es sich gemütlich machen;
es gibt keine Spürhunde für das, was
mir längst nicht mehr fehlt.
Abgesoffen in einem umgekippten Tümpel;
versunken in Moor oder Treibsand;
verbuddelt in gefrorener Erde.
Entlaufen, entführt, verirrt? Egal.
Eine Suche, die nicht begonnen wird,
kann nicht eingestellt werden.
Das gefällt mir.
Glück, Liebe, Erfolg, Ruhm….
Ich bin zufrieden.
Friede meiner Asche.
In allem kann ich sehen, was
eigentlich nicht da ist. Das Gesicht
in der Maserung; die Tiere am
Abendhimmel; die Augen im
Schaum.
In der Wasserflasche könnte Gin
sein. Also macht mich ihr Anblick
zufrieden.
Die Vermisstenanzeige spare ich mir.
Nichts wird eingestellt.
Nichts wird aufgegeben.


Die einfachsten Cocktails

& dann gehe ich an meine Hausbar
& sage : „Hey, wir Flaschen sind wieder unter uns.
Wir kennen uns, ihr schillernden Schätzchen.“

& mit den Cocktails ist es wie mit so vielem
anderen im Leben :
Das Einfachste ist oftmals das Beste

2 Tropfen Wermut
& ½ Flasche Gin

Das ist klar
Das geht klar

Weg mit den bunten
Komplikationen

Fort mit den Schnörkeln

Noch einfacher :
Vodka pur

aus Russland

klar wie die Sätze
der
russischen Literatur

Ваше здоровье!


Das Pochen

Ein dumpfes Pochen wie
die verzweifelten Faustschläge eines
Lebendigbegrabenen in seinem Sarg

Das Pochen lebte in meinem Schädel
Vergangenheit, die ich für tot erklärt hatte
obwohl sie es nicht war

Sie wollte wieder hinaus
diese Vergangenheit, aber
die Schrauben & Nägel saßen fest

Ich nahm eine Kopfschmerztablette
& das Pochen verstummte
Dann flutete ich den Sarg mit Whiskey


Die Todesspinne

Die Todesspinne setzte sich auf mein Gehirn
& begann zu weben
Gedanken verwoben sich in ihren Fäden
wurden unbeweglich & ausgesaugt
wie blauschimmernde Fliegen
Die Beine der Spinne waren 8 & schnell
Benetzt & gefangen war mein Geist
Schwarz zuckend saß sie auf grauem Grund
Ihre Gründe ergründete ich nicht
Sie grinste wie die Spinne von Redon
die über dem LeseSessel von Huysmans hing
Tief unten & Gegen den Strich
war sie mir
sympathisch wie
der kühne Schwung der
Sense
über dem gelben Feld der
Eintönigkeit
wo unter dem kalten Blick der
Raben
der Maler sich
erschoss


Das Mehr

Jeder Tag ist mehr als der vorherige …
Ein Meer aus Alkohol …
Ein Mehr an Betäubung …
Ein Meer der Zerstörung …
Ein Meer aus Worten …
Das Mehr des Meeres …
Ein Meer aus Scheisse &
vielleicht
Liebe

Jeder Tag ist mehr als der vorherige …

Ein Meer aus Schmerz &

vielleicht

Das Tote Meer


Der Mantel

Selbst im Sommer trage ich meinen Mantel;
schwer-geschultert ruht er schwarz.
Schutz gegen Kälte in der Hitze.
Die Taschen vollgestopft mit optischem Gerät:
Lupe, Mikroskop, Visier & Zielfernrohr.
Entferntes nagele ich ans Fadenkreuz.
Nahegehendes trinke ich aus dem Vergrößerungsglas.
Das Staubkorn will erlebt werden.
Das Zwinkern der Insekten kann wichtig sein.
Die Kontaktlinse hilft nicht aus der Einsamkeit,
aber das Kaleidoskop splittert bunt.
Ich exe den Klaren aus Glasaugen &
fische im Trübsinn.
Es surrt das Reale hinter meiner Waschbrettstirn,
muskulös vom Gedenken.
Träume platzen wie reife Blasen.
Im kugelsicheren Westen geht die Sonne unter
wie Seife in der besoffenen Badewanne.
Wie tief bin ich betrunken!
Eier presse ich aus wie die Früchte des Zorns.
Der Korn wächst auf leuchtenden Zusammenhängen,
besonnt vom Mond, glühend wie ein brennender Galgen.
Ich ziehe Asse aus dem Ärmel wie Zitate &
pokere mit Höchsteinsatz.
Die Lust behandelt mich unfair.
Ich weiß, ich weiß, ich weiß, ich schwarz.
Schwarz wie der Mantel
auf meinen schweren Schultern
im Sommer, wenn der Regen
splittert wie
Glas.


Murmeln

Die Freitagsschlange im Supermarkt.
Alte Menschen bei zähklimpernder Kleingeldsuche.
Ich schob meinen Flaschenwagen ans Laufband;
Alkoholvorrat für die nächsten Wochen.
Es gab mal wieder irgendeine lächerliche
Kundenlock-Aktion: für so&soviel Umsatz
bekam man etwas. Kleine Tütchen mit irgend
etwas Dickem, Rundem darin. Da ich
eine Menge Sprit kaufte, bekam ich 7 oder
9 von diesen Dingern & warf sie 8los in
den Wagen. Ich zahlte. Dann schob ich mich & den
Wagen in Richtung Ausgang; folgte den
kahlen Stellen auf den Köpfen der Rentner.
Flaschenklirren.
Ein kleiner bebrillter Junge auf dem Parkplatz.
Sein Roller lehnte an einem Geländer, am
Lenker eine Plastiktüte. Der Junge sprach
mich an. „Sammeln Sie Murmeln?“
„Nein.“ Ich war müde & verkatert, ging
weiter. Er mir nach.
„Haben Sie welche bekommen?“
Ich hielt an. „Was meinst du?“
Ein winziger Zeigefinger deutete auf die Tütchen
zwischen meinen Flaschen. „Die da.“ Ich war
müde & verkatert & begriffsstutzig – aber
dann machte es doch noch Klick!
„Ach so“, sagte ich. „Die brauch ich nicht,
kannst du haben.“

Ich klaubte die Tütchen zusammen, er
machte eine kleine Schale aus seinen Händen.
Als ich die Tütchen hineinfallen lies – es waren
fast zu viele für sein Fassungsvermögen -, kicherte
er glücklich. Er war 5 oder 6 Jahre alt &
grinste mich durch seine Brille an.
„Dankeschön.“
Da wusste ich: Mein Trinken hat
eine helle Seite, die leuchten kann.

Ich fuhr nach Hause. Und
grinste dabei.


Die Nacht ist Rum

Die Nacht ist Rum
Der Tag ist Wasser
Manchmal weiß ich nicht
was ich im Glas habe
Vielleicht kalten Grog
ohne Zucker
Und ich weiß nicht
wie spät
Und ich weiß nicht
ob es hell oder dunkel ist
dort draußen
Falls es das Draußen
wirklich gibt
Es ist gleich
Es ist gültig
Es ist gleichgültig
Es ist jetzt &
Es soll mir niemand sagen
wie spät es ist


Nichts los

Mit dieser Nacht war nichts los,
oder mit mir war nichts mehr los.
Ich hasse solche Nächte, die
nach der Euphorie kommen;
hasse den tiefen Absturz nach
den Höhenflügen.
Ich fand alles scheisse, was ich
jemals geschrieben hatte, ich wollte
alles klammheimlich verschwinden
lassen, auslöschen. Ich
dachte daran, dass ich am nächsten
Morgen auf den verdammten
Handwerker warten musste, der
den Stromzähler austauschen wollte;
ich dachte daran, dass ich
einkaufen musste, dass ich
tanken musste, dass der Wagen
vielleicht nicht anspringen würde;
ich dachte daran, dass ich abends
wieder zur Arbeit fahren musste.
Haare waschen, rasieren, Männchen
machen. Alles widerte mich an.
Dazu kam all das, wozu ich mich
wieder nicht hatte aufraffen können:
Wäsche waschen, Staubsaugen,
Haare schneiden. Es war
lächerlich. Ich war lächerlich.
Diese Nacht war lächerlich.
Aber am lächerlichsten war es,
sich hinzusetzen & darüber zu
schreiben.


Der alte Teppich

Der alte Teppich kannte
die Zahl meiner Schritte

Der alte Teppich zählte
die Schlucke, die ich verschüttet hatte

Der alte Teppich schluckte
unsere Orgasmen

Der alte Teppich kannte
die Einsamkeit

Der alte Teppich wußte
wohin

Der alte Teppich wies
mir den Weg

Der alte Teppich war
alt

Er war wie

ich


Schwarzes Papier

Die schwärzeste unter den Nächten
verschluckte die Mondscheibe &
fraß Laternenlicht. Schwarze
Perlenketten wurden aufgeschnitten.

Die Nacht schrieb ein Gedicht
mit schwarzer Tinte auf schwarzes
Papier; & nannte es Tod der
Erinnerung
.

Ich wankte durch Dunkelheiten &
spuckte in den Rinnstein: Schwarzes
Blut. Schwarze Tiere mit schwarzen
Zungen leckten es auf.

Das Etikett der Flasche war schwarz.
Ich trank die Nacht. In meinem Kopf war
schwarzes Papier. Ich schrieb ein Gedicht
darauf; & nannte es Egal.

Die schwärzeste unter den Nächten
konnte es entziffern; sie hatte den
schwarzen Schlüssel zur Geheimschrift
meiner Gedanken.

Ich schluckte, was sie schluckte;
ich schrieb, was sie schrieb;
Pulsadern wurden aufgeschnitten &
aus schwarzem Blut formten sich Worte.

Die schwärzeste unter den Nächten
war stumm wie eine Perle, & sie
erkannte mich; denn
sie hatte mich geboren.


Mein kostbarster Besitz

Mein Hirn: eine matschigfaule Frucht
Ein Kater schnurrte darin &
spielte mit seiner Schwanzspitze
Die Sonne tat was ich wollte: Sie ging unter

Was war passiert
letzte Nacht oder
am Morgen bevor ich
schlafenging?

Ich erinnerte mich
dunkel

Ein Gefühl war gekippt
wie billiger Wein der
zulange offen steht

Essig

Ich konnte wieder klar
sehen

Nicht dass mir an der Klarheit
viel gelegen wäre
Aber ich gehörte wieder
mir selbst

Mein kostbarster Besitz

Ich machte mir mein
abendliches Frühstück:
Eier mit Schinken auf Toast
Ketchup
1 Liter Grüner Tee &
ging damit zurück ins Bett

Schaltete das Radio ein
atmete unfrische Luft &

fühlte mich gut

Gedanken kehrten zurück
in meinen Schädel
Sie waren mein Eigentum
Gedanken wie reife
Eiterbeulen

Und diejenigen
die nicht von alleine platzten
konnte ich
ausdrücken

Die nächste Nacht
stand bevor

Mehr brauchte ich nicht

Mehr brauche ich
nie


Nichts Besonderes

Ich betrachtete die Fleckenfratzen auf der Theke,
versuchte etwas in ihnen wiederzuerkennen;
gute alte UnBekannte. Die sich aus dem Staub
gemacht hatten. Staub, in den man zeichnen
konnte, mit Fingern der Langeweile.

„Du hättest etwas aus deinem Leben machen können“,
sagte er.
„Das Leben hat etwas aus mir gemacht“, sagte ich. „Und
das ist mir wichtiger.“

Das Bier schmeckte nicht besonders. Ich grinste.
„Ansonsten hat sich niemand etwas aus mir gemacht.“
„Das ist ja wohl nicht wahr“, sagte er.
„So wahr wie meine Wahrheit sein kann.“
„Also nicht besonders wahr.“
„Stimmt“, sagte ich. „Nicht besonders. Aber
es klang schön. Und das ist die Hauptsache.“

Gegenüber saß eine junge Frau neben einem
sehr viel älteren Mann. Sie unterhielten sich
angeregt. Der Mann war etwa
in meinem Alter. Hin & wieder sah die Frau
zu mir herüber; blickte mir tief in die Augen.
Ich las in ihnen: Du bist nichts Besonderes.

Ich bestellte noch 2 Bier.

Worauf wollte ich hinaus?
Keine Ahnung. Auf Nichts wahrscheinlich.
Ich will meistens auf Nichts hinaus.
Ich kenne mich aus im Nichts & mag es.

Wir schwiegen. Wir tranken.
Ich blickte auf die Flecken, betrachtete die Augen.
Hörte auf Nichts.

Dann
machten wir uns aus dem Staub.