Schon schwindet die Erinnerung.
In den Hörsturz. In das Ohrensausen. Bevor ich den Rest auch noch vergesse, versuche ich aufzuschreiben, was ich noch weiss. (Oder habe ich es gar nicht vergessen, sondern niemals gewusst ?)
Dunkelheit & später Abend. Einsame Straßen. Ein kleiner Ort. Ziellosigkeit, oder? Wie war ich hierher gekommen? Und warum? Vergessen. Ich ging an der Hauptstraße entlang, kleine Läden mit dunklen Schaufenstern. Wenige Laternen. Sommerliche Wärme.
Ein schmaler abschüssiger Weg führte vom Bürgersteig hinab zu einem Kino. Man bemerkte es kaum als solches. Keine Leuchtreklame; der Schaukasten war ebenfalls dunkel, ich erinnere mich nicht mehr an die Plakate, nicht mehr an die Aushangfotos. Aber es gab welche. Im Inneren des großen, alten Gebäudes brannte schwaches Licht; es war Zeit für die Spätvorstellung. Dachte ich, schätzte ich. Endlich irgendwo hinsetzen; ich ging hinein.
Alles sah nach den 50er oder frühen 60er Jahren aus; nichts schien jemals renoviert worden zu sein. Es roch alt. Und nach Staub. Und man sah niemanden. Die Kasse war unbesetzt. Auch hörte man nichts. Die Beleuchtung war ungemütlich. Der linke Flügel der Tür zum Kinosaal stand offen. Gleichmäßiges Flackern in der Öffnung; kein Ton. Ich bewegte mich darauf zu …
Der Saal (riesig – & hoch) war völlig leer – zumindest so weit ich ihn überschauen konnte, in dem schwachen Geflacker, das von der Leinwand & aus dem Vorführraum kam. Es lief: ein Countdown. Weisse Zahlen in einem weissen Kreis vor schwarzem Hintergrund. 983 …. 982 …. Nicht einmal eine Notbeleuchtung gab es.
(War das wirklich alles so – oder erinnere ich mich nur falsch? -)
Ich ließ die Tür hinter mir zufallen; sie machte keinerlei Geräusch. Ich ging ein paar Schritte den Mittelgang hinunter, suchte mir einen zentralen Platz. Unbequeme, cordbezogene Klappstühle aus dunklem Holz. Ich setzte mich. 874 …. 873 …. Ganz leise hörte ich nun doch das Surren des Projektors. Drehte mich um, schaute auf das kleine Fenster, durch das der Countdown geworfen wurde. Der Vorführraum war völlig abgedunkelt – so als gäbe es keinen Vorführer.
Und ich schaute wieder auf die Leinwand. 849 …. 848 ….
Was zur Hölle mache ich hier? All diese hochgeklappten Sitzflächen …. Die dunklen Ecken …. Ist dort vielleicht doch jemand? Und beobachtet mich? …. Aber ich spüre keinen Blick auf mir …. Habe ich sie noch in der Jackentasche? – Ja …. sie ist noch da …. & sie ist schwer …. & beruhigend ….
Die Zahlen hatten etwas Hypnotisches.
Bei 662 erschien eine Gestalt rechts in meinem Blickfeld. Zierlich. Lautlos. Soweit erkennbar, in Grau gekleidet; den Kopf in einer Kapuze verborgen, schritt sie den Seitengang hinab. Setzte sich mehrere Reihen unterhalb der meinen in den nächsten Sitzblock. Kopf in Richtung Leinwand.
Auch ich folgte weiter dem Heruntergezähle. Was, wenn der Countdown der eigentliche Film ist? Auf den nichts weiter folgt?…. Nichts als Dunkelheit…..
556 …. 555 ….
Zuhause wartete die Leere auf mich. Verhangene Fenster, Bücher, Filme, Musik. Wie weit war dieses Zuhause entfernt? Vergessen.
445 …. … …. … …. 442 ….
444 & 443 fehlten, stattdessen: 2 Sekunden absolute Finsternis. Und -: Die Gestalt saß woanders! – Zwar noch im selben Block, aber jetzt auf der gleichen Höhe wie ich. Wie kann sie in diesen 2 Sekunden der Finsternis…… Eine junge Frau, die auf die Leinwand blickte. Sie musste bemerken, dass ich sie beobachtete, aber sie schaute nicht zu mir herüber. Ein zartes Gesicht im Geflacker der Zahlen.
Ich wandte mich wieder dem Countdown zu. Ob sie jetzt zu mir herüber….? Habe nicht das Gefühl …. obwohl …. Würde ich es spüren?
Ich war hellwach. Merkwürdigerweise. Der einschläfernden Atmosphäre zum Trotz. SurrenSurrenSurrenSurren. Real. Reell. Reel. Surreal. 220 …. 219 …. SurrenSurrenSurren.
Blick nach oben: ein gewaltiger Kronleuchter. Erloschen.
14 & 13 fehlten.
Bei 12 saß sie direkt vor mir. Die Kapuze ragte in den Countdown. Ich erschrak nicht. Ich wunderte mich nicht. Ich neigte mich etwas vor, um sie vielleicht riechen zu können……
Die Null kam. Das hohle Ei im Kreis.
Dann:
Finsternis.
Lange. Lange.
Dann:
-13 ….
Sie saß links neben mir. Schaute mich an. Verletzliche Augen. Verletzte Augen. Geschichten. Gedichte. Ein vorsichtiges Lächeln. Flackern. Schüchternheit.
Plötzlich wurde es heller.
Wir schauten zur Leinwand. Der Film begann. Ohne Vorspann. Schwarzweiss.
Close up. Ein Mann (verwirrend ähnlich sah er mir) sitzt in einer Bar. (Nein, es war nicht ‚Casablanca’, aber es erinnerte daran…) Vor sich eine halbleervolle Flasche Whiskey, das gefüllte, auf dem Tisch stehende Glas mit beiden Händen umfassend. Er blickt in die Kamera. Blickt auf uns. Lange. Schweigend. Dann nimmt er einen Schluck. Klopft mit dem Glas 3 Mal auf die Tischplatte. Starrt weiter in den Kinosaal. Nichts ist zu hören. Die Bar scheint leer zu sein. Dann: zündet er sich eine Zigarre an, Ministreichholzexplosion, sein Gesicht hinterm Rauchvorhang. Er schüttelt das Flämmchen aus. Eine Stimme beginnt zu sprechen. Es muss seine sein, auch wenn er die Lippen nicht bewegt. –
„All diese Jahre. Oder waren es Jahrzehnte? Die Einsamkeit. Die unfassbare Einsamkeit. Die Selbstzerstörung. Die Betäubung. Die Taubheit.“
– – – Ein weiterer Schluck, ein weiterer Zug. – – –
„Und ich wette. Ich wette, ich wette, ich wette – sobald das Glück, oder wie immer man das nennen soll – an meiner Tür geklingelt hat, werde ich am Krebs verrecken. Oder an sonstwas. Ich werde verrecken an all dem, was die Einsamkeit mich tun lies.“ –
Er grinst in die Kamera.
Und eine Frauenstimme aus dem Off ruft: „Cut!“
Kurze Finsternis.
Dann:
-66 …. -67 ….
Wir schauten uns in die Augen. Stumm. Ängstlich. Lächelnd.
Nur kurz – & der Film begann von vorne.
„All diese Jahre …..“ – – – –
„Cut!“
Danach: keine Pause mehr. Der Film lief als Endlosschleife. Wir schauten nicht mehr hin.
Wie oft hörten wir die Sätze? Vergessen. Wir taten nichts außer uns anzusehen. Und Geschichten zu lesen.
Schließlich griff ich in meine Jackentasche. Schwer & beruhigend; der Revolver war ein Erbstück. Er hatte meinem Vater gehört. Ich wandte mich um, fixierte den linken Ellenbogen auf der harten Rückenlehne, spannte den Hahn, unterstützte mit der linken Hand die rechte, die den Revolver hielt. Sie schob ihre Hände in die Kapuze, um sich die Ohren zuzuhalten. Ich zielte. Auf das Fensterchen. Auf die Linse dahinter, aus welcher der Lichtkegel fiel. Staub tanzte im Geflacker.
Ich drückte ab.
Der Rückstoß, ich spürte ihn im Handgelenk. Der Knall, er schmerzte in meinen Ohren. Der Geruch des Schusses. Das Splittern des Glases. Die augenblickliche Finsternis. Der Projektor surrte weiter, aber ich hörte ihn nur noch dumpf – obwohl er nicht mehr durch die Glasscheibe gedämpft wurde. Pfeifen in meinen Ohren. Meine Stimme klang seltsam, als ich fragte:
„Alles ok?“
Keine Antwort.
Ich tastete in die Dunkelheit…… Nichts. Sie saß nicht mehr dort.
„Bist du noch da?!“ Ich sagte es laut. Vielleicht rief ich es sogar.
Keine Antwort.
Ich lehnte mich wieder an. Steckte den Revolver zurück in die Jackentasche. Spürte seine Wärme.
„Bist du noch da?“ Ich sagte es noch einige Male, während die Zeit ungezählt in der Finsternis verging.
Das ist es, was ich noch weiss. Es ist wenig. Der Revolver liegt neben mir auf dem Tisch. Zwischen der Whiskeyflasche & dem Aschenbecher. Meine Ohren pfeifen ohne Pause. Alle Musik klingt dumpf. Wenn jemand an der Tür klingeln würde – – würde ich es hören? Sicherlich.
Aber es klingelt ja niemand.
Und wenn, hätte ich wahrscheinlich Krebs.
Cut.
21. Dezember 2011 at 02:09
Ich schlinge. Atemlos.
Verwirrung und Empathie.
Der Countdown flackert vor meinen Augen und ich danke; danke Ihnen für die Worte.