Gigi, oder die Maus auf dem Rennrad

Wäre der Sarg nicht vom Sockel gerutscht, Thomas hätte niemals die Maus auf Katjas Slip gesehen. Er hätte Katja nicht bemerkt und nie erfahren, in welche Gegend es sie mittlerweile verschlagen hatte. Sie wäre eine seiner Erinnerungen geblieben.
Es war heiß, die Tür zum Geschäft stand offen. Er hatte den Eingang gerade passiert, da krachte, da schepperte es im Innern, und eine Frauenstimme rief „Aua!“, rief „Scheiße!, rief „Verdammt!“
Sonnenlicht verspiegelte das Schaufenster, so dass er nicht hindurchsehen konnte. Er sah nur sich selber mit einem Kruzifix im Gesicht. Über seinem Kopf der Namenszug des Beerdigungsinstituts. Passanten im Hintergrund. Er ging die paar Schritte zurück. Drinnen flitterte Staub in der Luft. Die Frau saß, mit dem Rücken zum Eingang, auf dem Boden und schob gerade den Sargdeckel von ihrem linken Fuß herunter. Ihr kurzes Sommerkleid war etwas verrutscht. Thomas sah das graue Mäuschen auf ihrer rechten Pobacke; es saß auf einem Rennrad. Ganz kurz nur sah er das Bild; schon die nächste Bewegung der Schenkel ließ es wieder hinterm Blümchenmuster verschwinden.
„Ist der Knöchel noch ganz?“, fragte er, als er in die stickige Hitze des Ausstellungsraumes trat.
An der Schnelligkeit, mit der sie sich umwandte, erkannte er, dass er sie erschreckt hatte.
Er sagte: „Jetzt sind wir quitt, jeder ist durch den andern an den Rand des Herstillstands gebracht worden.“
Sie lächelte. „Peinlich, peinlich. Wird aber nur blaue Flecken geben.“
Sie hielt den Saum ihres Kleides fest und stand auf.
„Ist doch wirklich zu blöde“, sagte sie. „Ich muss beim Staubwischen über irgendwas gestolpert sein. – Nur dass es hier gar nichts gibt, worüber man stolpern kann.“ Sie sah ihm in die Augen, Selbstironie bewegte ihre linke Braue aufwärts. „Ein Geist muss mir ein Bein gestellt haben.“
„Ist der richtige Ort dafür“, sagte Thomas.
Sie lächelte. „Bitte nichts verraten – in diesem Aufzug habe ich im Verkaufsraum eigentlich nichts zu suchen.“
„Alles klar.“ (Warum war sie dann alleine…. hier….?)
Er beobachtete sie genau, während sie die Lackierung auf Kratzer untersuchte. Sie hockte sich hin (Lichtreflexe auf ihren Beinen), sie stand auf, sie ging um den Deckel herum, ging um den Sarg herum (Lichtreflexe auf ihren Armen, ihren Schultern); sie wischte mit einer Fingerspitze, die sie zuvor mit der Zunge befeuchtet hatte, über die ein oder andere kritische Stelle –  – er beobachtete sie genau. Der Staublappen lag auf dem Boden.
Gemeinsam brachten sie den Deckel wieder an seinen Platz. Sie sagte: „Sie sind doch hoffentlich kein Kunde?“
„Im Moment noch nicht. Mich hat nur der Paukenschlag hergeführt.“
Ihre Augen funkelten. „Muss das bescheuert ausgesehen haben.“
„Ich hab’s leider nicht gesehen“, sagte er.
Sie lachte leise, kicherte. Keine Kratzer am Sarg.
Die funkelnden Augen … das Lachen … die makabre Umgebung … nicht lange, und sie schlossen sich in Thomas´ Vorstellung wie die Einzelteile eines Stromkreises zusammen …
Er zögerte.
Erst dachte er: Katie?
Dann sagte er es.

Auch Katjas Onkel hatte ein Beerdigungsinstitut gehabt. Vor einigen Jahren war er, wie Thomas jetzt erfuhr, sein eigener Kunde geworden. Das mochte am vielen Rotwein gelegen haben. Onkel Krause liebte große leere Rotweinflaschen, je größer, desto lieber. Er kaufte sie (solange sie noch voll waren), dann leerte er sie (in seine Kehle) und fügte sie seiner gewaltigen Sammlung hinzu, die sich in einem Schuppen hinter dem Haus befand; den Schuppen, der für nichts anderes mehr Platz bot, nannte er augenzwinkernd „mein Gehirn“. Er behauptete immer, die Flaschen mehr zu lieben als den Wein, und die Kinder, die oft rot wurden, wenn sie logen, waren sich nicht sicher, ob der Onkel log, denn dessen Gesicht war stets dunkelrot. Sonntags war er meist vollends benebelt. Da hatte er auch nichts dagegen, wenn die Kinder die beiden Ausstellungsräume mit den Särgen in ihr Spiel miteinbezogen. Tom bekam deshalb manchmal Albträume. In der Anfangszeit hätte er Katie niemals davon erzählt, aber irgendwann war ihre Freundschaft soweit, dass er es ihr gegenüber zugeben konnte, und ihre Freundschaft war soweit, dass Katie sich nicht über ihn lustig machte. Sie lachten nur miteinander.
Einmal aber wollte Tom sie vom Lachen abhalten. Sie spielten mit einigen anderen Kindern zusammen Verstecken, und obwohl es natürlich weder neu, noch besonders originell war, denn hier würde jeder doch zuerst suchen, hatten die beiden sich gemeinsam in einen Sarg gelegt. Es handelte sich um einen Sarg mit zweiteiligem Klappdeckel, so ließ er sich nicht allzu schwer öffnen und schließen. Sie liegen nebeneinander. Es ist derart eng darin, dass sie sich einfach umarmen müssen. sie atmen sich gegenseitig an, sie riechen sich gegenseitig (dem penetranten Geruch des neuen Sarges zum Trotz), und sie lauschen. Tom spürt, wie sein linker Arm einzuschlafen beginnt; er versucht ihn zu bewegen.
„Hey, was machst du?“ flüstert Katie. Er kann die Worte auf seiner Haut, auf seinem Gesicht spüren, warm und feucht.
„Mein Arm … der kribbelt.“
„Psst.“
Die andern kommen.
„Wetten, die sind hier“, sagt einer.
„Quatsch, so blöd sind die nicht“, meint ein anderer; er betont das wie ein schlechter Schauspieler.
Katie kichert, ganz leise. Aber Tom kommt es so laut vor, dass er ihr am liebsten die Hand auf den Mund legen würde. Den linken Arm kann er schon nicht mehr richtig bewegen, die rechte Hand ruht auf Katies Bauch, und dort will er sie auch lassen. Das Kichern dauert an. Sie hören, dass die da draußen sich an einem der anderen Särge zu schaffen machen.
„Still mal“, sagt der, der als erster gesprochen hat, „ich glaub, ich hab was gehört.“
Tom bewegt seinen Kopf nur ein bisschen vorwärts, stups!, ihre Nasen stoßen zusammen, dadurch scheint das Kichern noch lauter zu werden. Ihre Nasen sind klein und weich; etwas mehr Druck, und schon treffen sich ihre Lippen. Das Kichern bleibt.
Und dann wird es hell.

Ihm gefiel Katjas Wohnung. Auf einem Kaminsims ohne Kamin stand eine große leere Rotweinflasche.
„Die letzte Überlebende aus der berühmten Sammlung“, sagte Katja.
Gleich daneben ein abscheulicher Porzellanengel.
Thomas sagte: „Und Kitsch gehört dazu.“ – Das war einer von Krauses Standardsätzen gewesen: Kitsch gehört dazu, ohne Kitsch wär der Tod nur halb so schön – und das Leben erst recht.
Katja lachte. „Den hat er mir zum Geburtstag geschenkt, ich glaub, gleich nachdem ihr weggezogen wart.“
Das war kurz nach dem Versteckspiel gewesen.
Sie setzten sich einander gegenüber.
„Sieht man ihm gar nicht an. Das Alter, mein ich.“
„Klaus … mein Freund … sagt immer: Häßlichkeit ist zeitlos.“
Es kam Thomas lächerlich vor, dass die Worte mein Freund ihm einen kleinen Stich versetzten. Er grinste, denn sie hatte ja etwas Lustiges gesagt. Oder war es vielleicht gar nicht lustig? Egal. Sie schlug die Beine übereinander.
Hinter ihr stand die Tür zum Balkon offen. Selbst am Abend kühlte es sich kaum ab. Die Dämmerung lag rötlich über den Dächern. Thomas und Katja tranken Weißwein und erinnerten sich. Thomas erinnerte sich, dass er kurze Hosen getragen hatte, damals im Sarg, und sie hatte, wie heute, ein Sommerkleid angehabt. Und er dachte an ihre dünnen Beinchen, stets voller Kratzer und Schrammen. Und sie sprachen auch über andere Freunde aus jener Zeit; über die, die sie ebenfalls zufällig wiedergetroffen hatten im Laufe der vergangenen Jahre.
„Seltsam“, sagte Katja, „- aus den interessantesten Kindern werden oft die uninteressantesten Erwachsenen.“
„Na, ich weiß nicht – – kann sein.“
Katjas Augen funkelten. Es waren Katies Augen.
Sie hatte ihn nicht ganz so schnell wiedererkannt. Und sie waren sich auch nicht in die Arme gefallen. Sie hatten sich die Händ gereicht und über den Zufall gesprochen.
Sie nippte an ihrem Weißwein. Dann sagte sie:
„Pass auf, gleich sitzen wir hier wie zwei alte Leute: Oh, weißt du noch….“
„Ja klar, und ich mach auf Maurice Chevalier: Oh yes, I remember it well.
Und ein bisschen war es so. Sie wußten es noch. Beide. Alles. Fast alles.
Und irgendwann fragte sich Thomas, ob die Erinnerung an ein Gefühl selbst schon so etwas wie ein Gefühl ist.
Oder war es Katja, die sich diese Frage stellte?
Wie auch immer, es gab keine eindeutige Antwort.
Es gab den Freund, der Häßlichkeit für zeitlos erklärt hatte. Thomas hoffte, dass er ihn nicht würde kennenlernen müssen, denn er mochte die Vorstellung nicht, dass ihm der Bursche (so nannte er ihn in Gedanken) hätte sympathisch sein können. Das lag wohl daran, dass er schon seit geraumer Zeit alleine war. Aus diesem Grunde auch war ihm die Vergangenheit wichtiger geworden als die Gegenwart, und so schlug er die Zeit tot mit dem Ausgraben lebendig verscharrter Erinnerungen.
Und irgendwann saßen Katja und Thomas nebeneinander auf der Couch. sie wurden entspannter. Prost, Onkel Krause!
„… da hätt ich mir fast in die … ich meine, dass hat mir ganz schön angst gemacht“, sagte sie. „… das Gebiss … und die Augen, die nicht richtig zugehen wollten, das war schon ganz schön gruselig, kann ich dir sagen, und ich dachte immer, gleich kommtse und holt mich, weil sie mich damals eben doch gesehen hat, in ihrem Garten, obwohl ich ja gar nichts davon gehabt habe, weil die Birnen ja doch alle hingefallen sind, und das Knie hab ich mir auch noch gestoßen, und damit hab ich immer versucht mich zu beruhigen, ich hab mir immer gesagt, das war doch Strafe genug, da brauchtse doch nicht mehr aufzustehen, um mich zu holen, da kannse doch ruhig tot bleiben …“
„Welches Knie war’s denn?“ fragte er.
„Das hier.“
„Mmh, ja, das war seltsam.“ (Sein Blick blieb auf ihren Knien.) „Aber mir ist auch was Seltsames passiert.“
„Ach ja?“ Sie zündete einige Kerzen an, die auf dem Tisch standen; der Weißwein begann zu leuchten.
„Ja. du wirst es nicht glauben. Ich mein, ich glaub’s ja selber kaum. Aber – ich hab mal ne Maus aufm Fahrrad gesehen.“
Funkel, funkel. Sie lehnte sich wieder zurück. Blicke stupsten aneinander.
„Hey, die kenn ich. Man könnte sogar sagen, dass wir alte Freunde sind.“
„Mensch, die Welt ist klein.“ Er trank einen Schluck. „Leider hab ich sie nur ganz kurz gesehen. wir sind uns ja auch nicht offiziell vorgestellt worden.“
„Tja, das ist Pech. So ist das halt. Wenn ich sie mal wieder sehe, werd ich sie von dir grüßen.“
Die erste Mücke war übern Balkon gekommen, Candlelight-Dinner auf schimmerndem Oberschenkel – denkste, Katja schnippte sie rechtzeitig weg.
„Ich mach lieber die Tür zu“, sagte sie. Die Flämmchen zuckten, als sie aufstand.
Vielleicht wär’s besser gewesen, wenn ich weitergegangen wäre. – Thomas dachte so, ich bin sicher.
Er beneidete mich.
Aber ich – – ich beneidete ihn. Denn in Wirklichkeit hatte ich gesagt:
Kitsch ist zeitlos.
Doch das hat Katja schon immer verwechselt.

* * * * *

(Geschrieben 1996)


One response to “Gigi, oder die Maus auf dem Rennrad

  • WhoEver7up

    Versunken. Ich war ganz versunken. Lass es mich rechtzeitig wissen, wenn Du ein Buch schreibst. Dann melde ich alles andere ab.

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