»Warum hörst du mir eigentlich zu? Ich bin besoffen«, sagte er.
»Weil ich nüchtern bin«, sagte ich.
Später Abend. Stille. Vodka. Tee. Lampenlicht. Mein Wohnzimmer.
»Selber schuld«, sagte er.
»Ja, an allem.«
»Soweit würde ich nicht gehen. Aber auf jeden Fall an meinem Zustand.«
»Tja, der Schnaps muss halt weg. Ich habe zuviel davon.«
»Du meinst: du hattest zuviel davon.« Er grinste. Schluckte Klares. Freute sich über die Mehrdeutigkeit seiner Bemerkung. Oder hatte nur ich sie bemerkt?
Er sagte: »Egal. Wo waren wir grade? Äh, ach ja – beim Sex.«
Jetzt grinste ich. »Moment mal.«
»Hä? – Äh, ja, sehr lustig. Egal. Also, worauf ich hinaus wollte: ich mag doch eigentlich nur Frauen…..«
Ich sagte nichts. Ich wusste nicht, ob ich hören mochte, worauf er hinaus wollte. Ein Tisch voller Bücher stand zwischen uns. Die Vodkaflasche zwischen den Gedichten. Die Teekanne neben den Bildbänden. Augen aus Glas sahen mich an, rötlich zerfließend.
»Also, ich hab das noch nie jemandem erzählt. Wie gesagt: ich mag nur Frauen – aber: ich hatte öfter Sex mit Männern als mit Frauen.«
Dramatische Pause. Ein Geräusch von der Straße wäre jetzt richtig gewesen. Ein bellender Hund vielleicht, oder ein Hupen; gerne etwas Symbolträchtiges, das wie erdacht gewirkt hätte – aber man kann es sich halt nicht aussuchen; und so blieb es still.
Ich suchte nach einer intelligenten Erwiderung.
»Puh, das hatte ich jetzt allerdings nicht erwartet.« (Manchmal findet man eben nicht, was man sucht.)
»Na ja, nicht richtig«, sagte er. »Also, ficken würde ich nie. Auch nicht küssen. Oder kuscheln. Brrr.« Er schüttelte sich kurz. »Aber Wichsen & Blasen ist okay.«
»Warum erzählst du mir das?«
»Haha, keine Sorge, nur so. Weil ich besoffen bin & das mal raus will. Und – weil du dich mit Einsamkeit auskennst. Das ist nämlich der springende Punkt – die Einsamkeit. Das versteht nicht jeder. Und dass ich nur Frauen mag.«
»Ich glaube, jetzt wird’s kompliziert. Ich kann dir wohl nicht ganz folgen.«
»Na, ist doch klar. Ich war zu lange allein. Gewesen. Damals. Ist ja alles schon länger her. Allein, einsam – was auch immer; und je länger es dauert, desto höher wird dieses ganze Mauerzeugs um einen rum; und irgendwann kommt man an das, was man will, nicht mehr ran. Oder traut sich nicht mehr ran. Oder so. Na, ist doch klar, oder?«
»Klar.«
»Tja – aber Sex will man trotzdem.«
Ich starrte ins Teelicht. Es bewegte sich nicht.
»`ne Frau natürlich. Will man. Eigentlich. Aber mit so nem Kopf, so’m einsamen Kopf, der Angst hat, funktioniert das nicht. Selbst wenn’s in Wirklichkeit ganz einfach wäre. Und die Angst hat man ja nur, weil man zu lange allein war, und deshalb bleibt man noch länger allein. Und hat dann noch mehr Angst. Ach, scheiße. Kompliziert. Ja, hast recht: ist wirklich kompliziert….. Also, Frage: Was ist dagegen einfach? – Antwort: Was einem nichts bedeutet. Oder nicht viel, zumindest. Und was ist am allerallereinfachsten? – Notgeile Typen im Internet finden.«
Er lachte. Und trank. Trank. Und lachte. Und nur das Trinken überzeugte mich.
»Du erzählst das doch keinem?«
»`türlich nicht.«
»Gut. Eigentlich isses ja egal – aber, ach, was weiß denn ich…. Jedenfalls kann sich’s bestimmt keiner vorstellen…. bezah…. beziehungsweise, es würde keiner erwarten.«
»Wie gesagt«, sagte ich, »ich hatte es nicht erwartet.«
Er grinste. »Ich könnt´ dir Geschichten erzählen….. haha, echt lustig.«
»Ganz ehrlich: ich weiß nicht, ob ich die würde hören wollen.«
»Schade. Da war zum Beispiel n Bulle, der mich 3 oder 4 Mal besucht hat. In voller Montur. Uniform & Knarre, haha. Früh morgens, vor Dienstantritt. Der meinte, ich würde besser blasen als seine Frau.«
»Scheiße, das will ich jetzt wirklich nicht hören. Lass ma gut sein.«
»Leidenschaftlicher! Er hat gesagt, ich wär leidenschaftlicher bei der Sache.«
»Oh Mann, bitte. Das muss jetzt nicht sein.«
Da könnte man was draus machen, dachte ich. Schreiben! Ich sollte es ja nur niemandem erzählen. Niemandem, den er kannte.
»Warum nicht?« sagte er. »Ist doch spannend, haha. Übrigens hat er irgendwann ein schlechtes Gewissen bekommen. Hat er zumindest behauptet. Wegen seiner Frau. Die weniger gut als ich…. hahaha. Das war’s dann jedenfalls. Ach ja, hätt’ich fast vergessen: nebenher hatte er noch ne andere Frau; die wollte er irgendwann mal mitbringen – fürn Dreier. Aber dazu kam’s nicht mehr. Schade. Hätte die Liebe meines Lebens werden können. Also – die Frau. Wer weiß.«
Pause. Er schenkte nach. Trank. Schaute ins Glas.
»Er hat mich mit nem Gürtel verprügelt. Konnte man 2 Wochen später noch sehen.«
Wie ein Erdbeben. Ein Erdbeben, bei dem die Erde sich nicht auftut, um einen zu verschlingen. Da könnte man wirklich etwas draus machen.
»Übrigens waren die immer verheiratet. Also, so viele waren’s ja nicht. Aber immerhin: alle verheiratet. War mir auch lieber so. Und der Bulle war der Letzte. Und Interessanteste.«
»Verprügelt?«, sagte ich.
»Ja.« Grinsen. »In beiderseitigem Einvernehmen.«
Man kennt niemanden. Niemanden!
Der Tee schmeckte nicht mehr. Ich spiegelte mich darin. Zu lange hatte er über der Flamme gestanden. Es stimmte: ich kannte mich aus. Aus mit der Einsamkeit. Aus mit dem Alleinsein. Aber mit Menschen? Aus? Aus.
Er wird sich daran erinnern, es mir erzählt zu haben. Es wird ihm peinlich sein, es mir erzählt zu haben. Hauptsache, es ist ihm nicht peinlich, WAS er mir erzählt hat. – Darüber schreiben? Details! Man müsste die Details kennen, um darüber schreiben zu können. Denn sonst – alles nur Skizze…..
Ich sagte: »Wie alt?«
»Ungefähr unser Alter.«
»’Länger her’, hast du gesagt. Und – wie isses heute?«
»Hörst du das?« sagte er.
»Was?«
»Klingt wie’n hustender Igel in deinem Garten.«
»Stimmt«, sagte ich. »Die hört man hier öfters.«
9. Mai 2014
Der hustende Igel – oder: Die Logik der Einsamkeit
Von flederzombie
Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am Freitag, 9. Mai 2014 um 06:40 und getaggt mit Alkohol, Einsamkeit, Kultur, Sex, Stories und veröffentlicht in Alles, Stories. Du kannst den Antworten zu diesem Eintrag per RSS 2.0-Feed folgen.
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