Tagesarchiv: 7. Februar 2013

Der Zimmerspringbrunnen

Die Katzen waren längst tot.
Am liebsten hatten sie das Wasser
aus dem Zimmerspringbrunnen getrunken, der
auf der Heizung stand.
Hellgrünes Plexiglas;
der Wasserstrahl beleuchtet
von einer 15-Watt-Glühlampe.
Und als wären sie sich nicht sicher gewesen,
hatten sie meist
zaghaft, fast zitternd
mit einer Pfote
den Strahl berührt,
bevor sie sich mit der rauhen Zunge daran
wagten.

Ein dumpfes Geräusch.
Über mir.
Ein Fleck,
der sich ausbreitete –
an der Decke meines Kellerzimmers.
Ein heiserer Hilferuf.

Ich hatte gelesen.
War in einer Welt
gewesen
außerhalb
des Kellers.

Der Ruf riss mich heraus aus dieser Welt.

Ich legte das Buch beiseite,
verließ
das Zimmer,
ging die Treppe hinauf …..

Betrat das Wohnzimmer
meiner Mutter.

Der Zimmerspringbrunnen auf der Heizung war
leer.
Eine Erinnerung an die toten Katzen, die sie
so oft gerufen hatte.

»Verdammt«, sagte ich.
Sagte ich, obwohl ich es hätte schreien wollen.
»Schon wieder!«

Die alte Antwort:
»Ich wollte ihn doch nur entkalken.«

»Dann sag doch Bescheid, verdammte Scheiße!
Dann trag ich ihn in die Küche.
Guck dir die Sauerei an –
& unten tropft es durch die Decke.«

»Warum bist du immer
so fies zu mir?« vibrierte ihre Stimme.

Ja.
Warum?
Warum?
Warum?

All diese Jahre
ihrer Krankheit.
Das Zittern.
Das Fallen.
Das Verschütten.
Die Hilflosigkeit.

Die Stunden in Wartezimmern.
Die Stunden in Krankenhäusern.

Geduld.
Geduld.
Geduld
am Ende.

Meine Nerven
am Boden
wie all das Wasser aus dem Zimmerspringbrunnen,
das in den Keller tropfte.

In der Sekunde, nachdem
ich meine Worte gesagt hatte, wusste ich,
dass sie mir leid tun würden.

Für lange
lange Zeit.

Später.

Und später
war
schon bald.


90 Jahre

Jemand hatte ein Glas zerbrochen;
die Scherben langen vor der Rezeption,
hinter der ich meinem Job nachging.
Ich wusste, wo Handfeger & Kehrblech lagen –
in dem Kabuff hinter der Hotelbar.
»Kein Problem«, sagte ich zu dem Jemand.
Es war ihm peinlich.
Ich ging in die Bar.
Öffnete die Tür zu dem Kabuff……
Die Schwester der Barfrau knöpfte ihre Bluse zu.
Auch sie arbeitete hier. Im Restaurant.
Sie hatte Feierabend.
Hatte sich umgezogen in dem winzigen Raum
neben Kühlschrank, Mikrowelle & Leergut.
»Mist«, sagte ich, »ich bin 1 Minute zu spät.«
Sie lächelte. Es war ihr nicht peinlich.
»Ja«, sagte sie.
Sie wusste, weshalb ich hier war. Sie hatte das
Klirren gehört.
»Scherben bringen Glück«, sagte sie.
»Die einen sagen so, die anderen so«, erwiderte ich.
Ich nahm den Handfeger, das Kehrblech
& einen Plastikeimer.
Ging zurück, fegte die Scherben auf, schüttete sie
in den Eimer.

Ich mochte die Schwester der Barfrau.
Eine Türkin. Schlank. Mit großer Nase.
Manchmal kam sie mit einem blauen Auge zur Arbeit,
das sie versucht hatte zu überschminken.
Ihre Brüder mochten es nicht, wenn sie
mit jemandem flirtete.

Eines Tages sagte sie zu mir:
»Ich kann Handlesen. Soll ich?«
Ich glaubte an nichts, außer an
Berührungen.
Ich gab ihr meine Rechte.
»Nein«, sagte sie, »die Linke.«
Ich gab ihr meine Linke.
Sie hielt sie in ihrer schmalen Hand.
Betrachtete die Linien.
»Und?« sagte ich.
Sie sagte: »Du wirst 90. Mindestens.«
Ich grinste
»Und in welchem Zustand?«
»Das kann ich nicht sehen.«
»Nee danke», sagte ich, »dann lieber nicht.«
Ihre Augen lächelten.

Von den weiteren 60 Jahren,
die dies damals bedeutete,
sind 20 vergangen.
20 Jahre Gegenwart.
20 Jahre Raubbau.
Und plötzlich sind da 20 weitere Jahre
Vergangenheit.
Ich habe keine Ahnung, wo
die Handleserin heute ist. Ob sie
überhaupt noch lebt; so wie ich noch lebe,
der ich schon immer älter war als sie.
Wahrscheinlich tut sie das.
Davongekommen
mit einem blauen Auge.
Ich sitze im selben Hotel, hinter derselben Rezeption,
die nur ein paar Kratzer mehr hat als damals.
Die Zahlen bleiben erschreckend.
Und unwahrscheinlich.
Ich glaube noch immer an nichts –
außer an Berührungen.
An das, was ich anfassen kann
oder wegfegen –
wie (zum Beispiel)
Scherben.