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Falsche Gläser

Bier trinke ich am liebsten
aus einem Weinglas.

Wein trinke ich am liebsten
aus einem Wasserglas.

Schnaps trinke ich am liebsten
aus einem Bierglas.

Wasser trinke ich am liebsten
selten.

Alles schmeckt mir besser, wenn
es dort ist, wo es nicht
hingehört.

Eigentlich.

Denn das erinnert mich …..


Vampir mit Knoblauchsucht

Wäre ich ein Vampir,
so wäre ich bestimmt süchtig nach
Knoblauch.

Viel mehr gibt es
über mich eigentlich nicht
zu sagen.

Außer vielleicht:
dass ich nur ein Mensch bin.

Und Knoblauch mag.

Und suche.


Je länger der Stiel

Je länger der Stiel
des Glases, und
je weiter unten
man ihn anfasst,
desto weniger
wird
die Temperatur
des Getränks
von der
eigenen Körpertemperatur
beeinflusst.

Aber
man denkt
nicht
immer
daran.

Und
vergreift
sich
ab
&
an.


Zu oft

Wenn ich ein Musikstück, das ich mag,
zu oft höre,
kann es passieren, dass ich anfange,
es zu analysieren.
Und wenn ich Pech habe,
finde ich heraus,
wie dieses Stück funktioniert,
und welche kompositorischen Tricks
mein Unterbewußtsein besonders
angesprochen haben.
Und schon schwindet der Zauber;
schon wird die Gänsehaut geglättet.
Zumindest ein wenig.
Und es gibt keinen Weg zurück in
den unbewußten Zustand des Hörens.
(Allenfalls im Vollrausch.)
Tragisch, wenn es ein Lieblingslied war.
Noch tragischer, wenn es einem
mit Menschen ähnlich geht.


Ein Regenbogen in mondlosen Nächten

Und dann ist das volle Glas
das Prisma, durch das
die Welt betrachtet wird,
und das weiße Licht
wird bunt im klaren Schnaps, wenn
der Winkel stimmt.
Die Eintönigkeit wird zum Akkord;
das Spektrum splittert.
Licht wird gebrochen.
Schatten brechen.
Ein Regenbogen, der sich
über mondlose Nächte
spannt.


Die Sängerin in der Bar

Es war Zufall.
Da saß diese schwarze Sängerin
aus Chicago in der Hotelbar;
an der Theke. In diesem
deutschen Kaff.
Trank. Und trank.
Im Saal nebenan: eine Betriebsfeier.
Langweilige Menschen.
Live-Musik.
Schrecklich Musik. Wie ich fand.
Die Sängerin nahm ihr Glas &
ging in den Saal, betrat
die geschlossene Gesellschaft.
Ich machte meinen Job,
oder das, was ich
& andere dafür hielten; an
der Rezeption.
Hin & wieder kamen Kollegen, die im
Saal bedienten, bei mir vorbei.
„Die ist komisch“, sagte einer. „Und
die macht eine der Backroundsängerinnen an.
Fällt allmählich auf.“
Ich sagte nichts.
Sie kam wieder zurück.
Setzte sich wieder an die Theke.
Trank weiter.
Redete mit dem Barkeeper.
Ich hörte ihre tiefe Stimme,
die Stimme, für die sie berühmt war.
Hin & wieder sprach sie auch
mit sich selbst.
Sie ging wieder in den Saal.
Kam wieder zurück.
Trank.
Irgendwann
kam sie zu mir.
Lächelte.
Sagte mir ihre Zimmernummer.
(Als ob ich die nicht gewusst hätte.)
Sagte: “If the girl from the band asks
for me, give her my room-number, please.

Sie lächelte. Ihre Augen ….
ein wenig glasig, ein wenig traurig.
Oder nein – sehr glasig, sehr traurig.
Ich lächelte zurück. Und das nicht, weil es
mein Job war, oder das, was ich & andere
dafür hielten.
Sie kam noch einige Male zu mir, um
sich zu vergewissern, dass ich ihre Bitte
nicht vergessen hatte.
Dann betrat sie den Aufzug. Die Türen
schlossen sich.
Irgendwann verstummte die schreckliche
Musik im Saal.
Die Gäste gingen.
Die Band baute das Equipment ab.
Schaffte es Stück für Stück, an der Rezeption
vorbei, nach draußen.
Ich hörte die Backroundsängerinnen, wie
sie sich unterhielten; mit ihren Durchschnitts-
stimmen. Die nicht immer den Ton getroffen hatten.
Sie machten sich lustig.
Lustig über die kleine Schwäche der
Betrunkenen.
Es war nicht mal Boshaftigkeit, was aus ihnen
sprach. Es war
etwas Schlimmeres.
Es war die Leere in ihnen; das,
was sie von der anderen
unterschied.
Ich stellte mir vor, wie sie da oben in
ihrem Zimmer saß
& wartete.
Aber vielleicht war sie ja auch schon
eingeschlafen.
Betrunken & einsam.
Das ist Jahre her; und es ist
immer noch seltsam, ihre Stimme zu hören,
oder sie im Fernsehen zu sehen – &
sich vorzustellen, dass diese
Backroundsängerin
sie vielleicht auch hört & sieht.
Und noch immer nichts
begriffen hat.


Im Auge der Fliege

Ich möchte wohnen im
Auge der Fliege –
im
Facettenreich

Die Fliege, die
in meinem Auge landet,
hatte wahrscheinlich
andere Wünsche

In meinem Auge
gibt es keine Facetten

Wenn die Fliege Glück hat
ertrinkt sie nicht

Wenn ich Glück habe
trinke ich


Und für jeden Text …..

Und für jeden Text, den ich schreibe,
trete ich 985 Mal in die Scheiße,
lese ich 476 Bücher,
verliebe ich mich in 13 Frauen,
sterbe ich 7 Mal,
trinke ich 666 Flaschen Gin,
rauche ich 43 Zigarren,
esse ich 54 Bratwürste,
höre ich 374 Symphonien,
spritze ich 94 Mal ab
& bleibe 64000 Mal unbefriedigt.

(So ungefair jedenfalls)


Ein allzu einfacher Traum

Im Nachhinein kam der Schlaf mir vor wie eine Vollnarkose; irgend
etwas traumlos-Schwarzes aus Alkohol, Nikotin, Kopfschmerz & As-
pirin. Und als ich aufwachte, konnte & wollte ich nicht aufstehen.
Noch mehr Kopfschmerz.
Ich blieb liegen, schlief wieder ein. Wieder erschien alles
traumlos-schwarz.
Gegen 1 Uhr Nachts machte ich mir schließlich Frühstück; Spiegel-
ei auf Toast, Grüner Tee & Aspirin.
Es gab keinen Grund, aufzustehen (wie fast immer), ich tat es
trotzdem. Fühlte mich wie ein stolpernder Schwindel.
Als erstes checkte ich, was für einen Mist ich mal wieder im Voll-
rausch geschrieben hatte. Es war wie immer: Manches ging so,
anderes war mehr als überflüssig. Egal. Den Kopf konnte ich nicht
schütteln – wegen der Schmerzen & des Schwindels; obwohl ich ihn
gerne geschüttelt hätte.
Und irgendwann war sie da – die Erinnerung an einen Traum.
Ich hatte mich geirrt. So traumlos-schwarz war mein Schlaf nicht ge-
wesen. Natürlich nicht.
Schwarz waren die Vogelspinnen meines Traums. Und sie waren überall.
Überall in meinem Haus, in dem die Möbel fehlten. Und sie huschten
über den nackten Boden, diese Spinnen. Und mit einer Schnapsflasche
ging ich umher; und immer, wenn mir eine Spinne zu nahe kam, erschlug ich sie
mit dem Boden der Flasche. Zurück blieben die zerstörten schwarzen
Körper.

Dieser Traum war so simpel,
seine Deutung ist so naheliegend,
dass ich glaube,
hinter seiner Einfachheit
muss
etwas
Anderes
verborgen
sein.

Irgend etwas
Anderes,
das ich
nicht
wissen
will.


Mir fehlt einfach Alles

Mir fehlt einfach Alles, was man braucht, um
ein Autor zu sein;
Alles, was man braucht, um
veröffentlicht
zu werden;
Alles, was man braucht, um
irgendwo
dazu
zu
gehören.

Formulare, die
innerhalb gewisser Fristen ausgefüllt werden
müssen,
lasse ich so lange liegen, bis
Strafen
angedroht werden;
& dann
lasse ich sie noch länger liegen;
Anrufe
nehme ich nicht entgegen.

Sprechen
tue ich ungern.

Vorlesen
tue ich nie.

Ich möchte nicht
gesehen werden,

nicht einmal in einem
Seitenweg.

Nicht einmal in
der Nacht.

Mir fehlt einfach Alles, was man braucht, um
ein Autor zu sein.

Alles, was ich habe, sind
ein paar Bleistifte,
ein paar Schreibmaschinen,
ein Computer
& Papier –

& ein paar
blöde Ideen, die
in der Schlaflosigkeit
des Besoffenseins
geboren werden.


In die Ecke geschmissen

Und dann schmeisst man seinen alten Seneca in die Ecke
& Epiktet hinterher, hämmert mit der Stirn seinen Schmerz
in die Wände um einen herum – & fühlt wieder irgend etwas
sterben.
Der Stoizismus ist mal wieder beim Teufel gelandet, und
der Teufel sieht jedes Mal anders aus.
All das, was man in
in Ruhe
gelesen hat,
bedeutet nichts, wenn
die Ruhe fort ist.
Man hatte das alles schon selber gewusst, noch bevor
man es las.
Und man wusste, dass es einem
nicht helfen würde, wenn es mal wieder so weit war.
Immer &
immer
wieder
ist es
dasselbe!
Ohne Dazulernen.
Gefühle –
Hormone –
chemische Abläufe –
was auch immer.
Mächte, die noch stärker sind als
die Worte;
noch stärker als
die Gedanken, die
klug sein sollen.
Die Bücher landen in der Ecke
wie ungezogene Kinder, die nicht getan haben,
was sie hätten tun sollen.
Man straft sie mit Mißachtung.
Besorgt sich eine Flasche Gin &
trinkt in Gegenwart der Bücher, die
versagt haben, als wollte man ihnen stumm zu verstehen geben:
‚Schaut her, darauf ist Verlass. Hey Seneca, hey Epiktet,
schaut her – Mr. Alexander Gordon hatte mehr drauf als Ihr!
Zum Teufel mit Euch!’

Aber natürlich –
irgendwann
irgendwann
geht man wieder in diese Ecke;
hebt die Bücher auf,
pustet den Staub von ihnen
& bettet sie dort, wo sie sich
geborgen fühlen.
Wieder ist etwas gestorben in einem.
Wieder sind frische Blutflecken an den Wänden um einen herum.
An den Wänden, die
Ecken bilden.
Aber man lässt die Kinder nicht
für immer
in der Ecke.


Der Finger

Er trank einen Scotch nach dem andern,
ich trank nur Kaffee – der nicht schmeckte.
Die Kneipe war ungemütlich & nicht besonders
sauber. Aber sie war die erste, an der wir vorbeigekommen
waren. Und sie war leer.
„Ich werde mir einen Finger abschneiden“, sagte er, „ich
weiß nur noch nicht, welchen.“
„Du spinnst“, sagte ich.
„Nein. Wirklich. Ich werd’s tun.“
„Was soll der Scheiß?“
„Erst wollte ich mich ja umbringen“, sagte er, „aber
dann hätte ich ja nicht mehr mitbekommen, wie sie sich
Vorwürfe macht. Und ich will das mitbekommen.“
„Du spinnst“, sagte ich.
Er schwitzte, und seine Augen glänzten.
„Du wirst es ja sehen. Ich glaub, der Kleine Finger der
linken Hand wäre ok, meinst du nicht?“
„Warum so halbherzig?“ sagte ich. „Wenn sie sich richtig
Vorwürfe machen soll, muss da schon ein bisschen mehr kommen.
Beziehungsweise gehen.
Ein Mittelfinger zum Beispiel, oder ein Daumen.“
„Mach dich nur lustig“, sagte er. „Das wird dir schon noch
vergehen.“
Er trank das Glas leer; bestellte das nächste.
Die weibliche Bedienung lächelte nett, als sie es vor ihn
hinstellte & das leere mitnahm. Wahrscheinlich hörte sie zu.
„Ich bin so blöd“, sagte er. „So blöd. – Eigentlich hat sie doch
von Anfang an die Wahrheit gesagt. Ich hab’s nur nicht geglaubt.
Sie hat gesagt, dass sie scheiße ist, und ich hab gesagt „Aber nein,
das bist du nicht“; wenn ich gesagt hab „Ach, wie süß“, hat sie
gesagt „Ich bin nicht süß“; sie hat gesagt, dass sie aus gutem Grund
keine Freunde hat; dass sie immer alles kaputt macht; dass sie
mich nicht so gern hat, wie ich sie, und und und …. Und das war
mir alles scheißegal, und ich hab’s nicht geglaubt. Ich bin so blöd.“
„Tja“, sagte ich. „Mag sein.“
„Und dabei hatten wir praktisch keine Gemeinsamkeiten; die meisten
Sachen, über die sie redete, interessierten mich gar nicht; alles so
Kleinmädchenkram, das muss man sich mal vorstellen.“
Er kippte den Scotch.
„Scheißgefühle. Verdammte Scheißgefühle. Allein ihr Anblick, ihre
Stimme…. Oh verdammt, ich will, dass sie leidet …. Ich werde mir
den Finger abschneiden.“
„Wie wär’s mit dem Schwanz?“ sagte ich.
„Und du bist auch ein Arschloch“, sagte er.
„Wenn sie so ist, wie du sagst, ist es ihr vielleich sogar egal, was du
dir abschneidest.“
„Nein“, sagte er. „Das glaube ich nicht. So ist sie nun auch
wieder nicht.“
„Auf jeden Fall wirst du länger etwas davon haben als sie. Nur gut,
dass du kein Instrument spielst.“
„Arschloch“, sagte er. Aber
grinsen musste er doch; auch wenn es
etwas verkniffen rüberkam.
„Weißt du, diese verdammte Einsamkeit“, sagte er. „Ich
meine, ich war ja vorher auch einsam, aber jetzt ist es halt
schlimmer. Noch schlimmer.“
„Das ist doch immer so“, sagte ich. „Das gibt sich auch wieder.“
„Ich weiß, aber vielleicht will ich das ja gar nicht.“
„Oh Mann, geht’s noch komplizierter?“
Er bestellte & bekam noch einen Scotch; einen 3fachen.
„Es ist einfach alles beschissen“, sagte er. „Ich
hol mir jetzt noch öfter einen runter als vor der ganzen Sache,
aber … das Dumme ist, dass sie dabei jedesmal in meiner
Fantasie auftaucht … als verdammter Überraschungsgast.“
Die Bedienung hinter dem Tresen tat zumindest so, als
würde sie nicht zuhören.
„Ich sag doch: du solltest dir den Schwanz abschneiden.“
„Ja“, sagte er, „sollte ich. Das sollten überhaupt alle. Wenn’s
nur so einfach wär.“
„Allzu einfach wird das mit dem Finger auch nicht“, sagte ich.
„Ich weiß“, sagte er.
„Und? Willst du ihn ihr dann per Post zuschicken?“
Er grinste. „Daran hab ich noch gar nicht gedacht.“
„Dafür bin ich ja da“, sagte ich, „für die guten Einfälle.“
Seine Rechnung war hoch.
Das Trinkgeld, das er gab, war übertrieben.
Der Kaffee war kalt.
Ich hatte noch mehr gute Einfälle, aber darüber schwieg ich.
Als wir nach Hause gingen, schwankte er ein wenig.
Ich ging zu mir nach Hause, er zu sich nach Hause.
Ich hatte keine Bedenken, ihn
allein zu lassen.


Das Mädchen mit den Gedankenstrichen

Schneelose Winternacht. Dunkel wie das Innere einer leeren Mülltonne. Verhaltene Kälte. Trockene Straßen. Ein dünner Mann in langem, schwarzem Mantel humpelt durch eine enge Gasse. Er spricht zu sich – leise, unverständlich. Der Mond ist verschwunden. Wolken wie finstere Gedankenblasen aus einem Comic. Ein Comic, der auf einem Friedhof gezeichnet wurde. Der Mann trägt seinen Kopf voller Erinnerungen wie eine Bürde & eine Cognacflasche in der Manteltasche; es ist immer dieselbe, seit Jahren; niemals trinkt er aus ihr; sie ist seine Beruhigung – sonst nichts. Die Erinnerungen in seinem Kopf – sie sind keine Beruhigung; zu zahlreich sind sie, zertrümmert in viel zu viele winzige Splitter; ein Puzzle, das er nicht mehr zusammensetzen kann. Der Mann ist auf dem Weg nach Hause. Zählt die kaputten Laternen. Zählt die Finsternisse. Und spricht.
Und verstummt.
Plötzlich.
Und er horcht.
Hört ein Weinen.
Ein Weinen, das nach kleinem Mädchen klingt.
Er wendet den Kopf. Versucht, das Weinen zu orten. Düstere Häuserfronten. Mauern wie schmutzige Gedanken.
Das Weinen – es dringt durch ein verrostetes Geländer. Durch das Geländer einer Treppe, die zu einer Kellertür führt. Der Mann nähert sich dem Rost …..
Und er erblickt das Mädchen. Sitzend.
Auf der Treppe, die zu einer Kellertür führt.
Auf einer Treppe, die zu der Kellertür führt.
Er sieht den Rücken des Mädchens, zierlich, in einem dreieckigen Lichtfleck; ein Anorak aus Rot & Schwarz, eine Kapuze wie ein Zuckerhut. Leicht erschüttert vom Weinen.
„So schlimm?“ sagt der Mann.
Rotz, der hochgezogen wird.
„Mh“, ist die Antwort.
Ein Schütteln der Kapuze, wie das Schütteln eines Cocktailshakers.
„Hast du dich verlaufen?“ Fragende Linien auf der Stirn des Mannes.
„Nein.“
„Soll ich dich nach Hause bringen, oder wohnst du hier?“
„Ich will nicht nach Hause“, sagt das Mädchen.
„Aber hier kannst du doch auch nicht bleiben.“
„Egal.“ Das Mädchen nimmt ein Päckchen Papiertaschentücher aus der Anoraktasche, putzt sich die Nase, steckt das benutzte Tuch in die andere Tasche.
„Willst du erstmal mit zu mir kommen?“ sagt der Mann. „Dann können wir immer noch weitersehen.“
„Okay.“
Das Mädchen steht auf, dreht sich herum, faßt nach dem Geländer & steigt weiter ins Laternenlicht. Eine ernste, traurige Miene.
„Du brauchst keine Angst vor mir zu haben“, sagte der Mann.
„Hab ich nicht“, sagt das Mädchen.
„Gut. Es ist nicht weit, nur bis zur nächsten Querstraße.“
Das Mädchen geht, der Mann humpelt. Zieht das linke Bein nach. Keine Verbindung, kein Anderhandhalten. Die Straßen sind menschenleer.
„Was ist mit Ihrem Bein“, fragt das Mädchen.
„Ich weiß nicht. Ich gehe nie zum Arzt. Es schmerzt einfach.“
„Dann sollten Sie zum Arzt gehen.“
„Ja, sollte ich wohl.“
„Und warum gehen Sie nicht?“
„Aus Gewohnheit.“
„Versteh ich nicht.“
„Egal“, sagt der Mann. „Wie heißt du eigentlich?“
„Sina.“
„Schöner Name. Ich heiße Edward, und das ist ein blöder Name.“
„Find ich nicht.“
„Hmm, danke. Und wie alt bist Du?“
„11 ½.“
„Du wirst bestimmt längst vermisst. Deine Eltern werden sich Sorgen machen.“
„Nein. Die sind tot. Schon lange.“
„Tut mir leid. Aber irgend jemand wird sich Sorgen machen. Bei wem wohnst du denn?“
„Ich möchte nicht darüber sprechen. Nicht jetzt.“
„Okay“, sagt der Mann, „nicht jetzt. Aber später müssen wir darüber sprechen. Du kannst übrigens ruhig du zu mir sagen.“
Das Mädchen schweigt.

Die Wohnung lag im 2. Stock. Sie war klein, 2 Zimmer, Küche, Bad. Sie war unordentlich, voller Bücher & Staub. Bücher von toten Autoren; ausschließlich. Voll von Flaschen, die Wohnung. Viele alte Erinnerungen, wenig neue. Der Mann drehte die Heizung etwas höher & räumte Bücher & Zeitschriften von einem Sessel, damit das Mädchen sich setzen konnte. Anorak & Mantel lagen auf dem Sofa. Das Mädchen trug rote Jeans & ein schwarzes Sweatshirt. Es sah sich schweigend um, während der Mann damit beschäftigt war, Tee zuzubereiten. Seltsam & ungewohnt war es für ihn, jemanden in seiner Wohnung zu haben. Er hatte keine Tiere – abgesehen von denen, die vielleicht hinter den Bücherstapeln leben mochten. Seine Einsamkeit – er hätte sie als selbstgewählt bezeichnet, wenn er an den Freien Willen geglaubt hätte.
„Hast du Hunger?“ fragte er das Mädchen. „Ich hab hier noch Milchreis von heute Nachmittag.“
„Nein“, sagte das Mädchen. „Hab keinen Hunger.“
„Okay.“
Schließlich saßen sie sich gegenüber. Die Teekanne auf einem Stövchen zwischen sich. Das Mädchen nahm viel Zucker. Der Mann keinen. Das Mädchen pustete in die Tasse.
„Du hast viele Uhren“, sagte es.
„Ein kleiner Tick von mir“, sagte der Mann.
„Aber alle gehen falsch, oder?“
„Nein, eine geht richtig.“
„Warum?“
„Warum was? Warum geht eine richtig, oder warum gehen alle anderen falsch?“
„Warum gehen alle anderen falsch?“ sagte das Mädchen.
„Einfach so. Es reicht doch, wenn eine richtig geht.“
„Du bist komisch“, sagte das Mädchen – ernst.
„Manchmal“, sagte der Mann.
„Was arbeitest du?“ fragte das Mädchen.
„Ich bin arbeitslos“, sagte er.
„Und vorher?“
„Gelegenheitsjobs. Mal dies, mal das. Zuletzt in einer Tankstelle.“
Unter dem Tisch stand eine Rumflasche. Er kippte einen Schluck daraus in seinen Tee.
„Und warum arbeitest du da jetzt nicht mehr?“ fragte das Mädchen.
„Ich hab Schnaps geklaut“, sagte der Mann.
Pädagogischer Fehler, dachte er. Und grinste.
„Richtig geklaut?“
„Ja.“
„Dafür kommt man doch ins Gefängnis.“
Bin ich doch. Immer & immer & immer.
Er sagte: „Nicht für so ne Kleinigkeit. Eine Strafe gibt’s schon, aber kein Gefängnis.“
„Hmm.“ Das Mädchen schien zu grübeln.
Irgend etwas an ihm fand der Mann zutiefst merkwürdig. Befremdlich. Die Augen. Der Blick. Nichts in diesem Blick schien naiv oder kleinmädchenhaft zu sein. Und die Art, wie es sprach, passte nicht dazu; es war, als wollte es mit seiner Stimme & seinen Worten bewußt diese Befremdlichkeit ausgleichen -, und dadurch bewirkte es das genaue Gegenteil.- Dies waren nur verschwommene Gedanken, verschwommene Gefühle in ihm. Struppig wie die schulterlangen Haare des Mädchens. Beinahe verfilzt. Es war ihm egal.
Nicht kindlich, nicht kindisch, sondern – kinderesk.
Er trank die Tasse halb leer & füllte sie mit Rum auf. Er begann, sich gut zu fühlen. Die Gesellschaft gefiel ihm. Seltsam & ungewohnt, zu jemandem zu sprechen. Zu jemandem, der nicht er selber war.
„Du bist sehr alt“, sagte das Mädchen.
„Ja“, sagte er. „51.“
„Das ist wirklich sehr alt“, sagte das Mädchen.
Er lächelte.
Und immer wieder schaute Sina sich in dem Zimmer um, das nach Bücherstaub roch.
„Hast du keinen Fernseher?“ fragte sie.
„Nein“, sagte Edward.
„Echt nicht?“
„Echt nicht.“
„Und keinen Computer?“
„Nein. – Ich habe ein Radio, einen Plattenspieler & ein altes Tonbandgerät.“
Sie schaute sich um nach den Geräten.
„Sowas hast du wahrscheinlich noch nie gesehen“, sagte Edward.
„Doch, hab ich.“
Kurze Pause.
Dann fragte sie: „Und was machst du dann den ganzen Tag?“
„Entweder nichts – oder lesen & trinken & Musik hören.“
„Das könnte ich nicht“, sagte sie ernst.
Edward lachte. Sein linkes Auge juckte; er rieb über das Lid.
„Ist auch besser so“, sagte er.
Sina lächelte nicht.

Er fragt sie nicht.
Er fragt sie nicht.
Er fragt sie nicht.
Nicht jetzt.
Neugierig ist er. Ja. Aber er will nicht wissen, wo sie wohnt. Bei wem sie wohnt. Warum sie geweint. Warum sie auf der Treppe gesessen hat. Sobald er es erfahren würde, müsste er handeln.
Tätig werden.
Agieren.
Zuviel.
Es wäre zuviel für ihn.
Jetzt. In diesem Moment.
Und in dem nächsten wohl auch.
Einen weiteren Rum für ihn. Einen weiteren Tee für sie.
Und Sina niest. Es ist der Bücherstaub. Und sie verschüttet ein bisschen Tee dabei. Und es ist Edward egal.
Und zum ersten Mal lächelt sie.
Ein wenig.

Und wenn eines nie stimmt, ist es das Gefühl für die Zeit. Mein Gefühl für die Zeit. Wie in einer Kurzgeschichte, die nur als Roman funktionieren würde. Wie in einem Roman, der nur ein 2strophiges Gedicht sein dürfte. – Als würde ich mein Leben schreiben, und die Diskrepanz zwischen der Dauer des Schreibens & der Dauer des Lesens führte zu Verzerrungen …..

Edwards Wahrnehmung war verzerrt. Oder er nahm die verzerrte Wirklichkeit korrekt wahr. Er war sich nicht sicher. – Die Wirklichkeit war sich Edwards nicht sicher.

Sina schlief in Edwards Bett. In dem kleinen Schlafzimmer mit den gestapelten Büchern ringsum. Edward hatte das Bett frisch bezogen. Er selbst schlief auf dem freigeschaufelten Sofa. Halbnacht für Halbnacht. Und zu dem Schmerz im Bein gesellte der Schmerz im Rücken.

„Aber sag mal, was ist eigentlich mit der Schule? Dort wirst du doch bestimmt vermisst.“
„Vielleicht“, sagte sie. „Aber egal.“

Edward fühlte Vertrautheit mit Sinas Befremdlichkeit. Sina – ein Rätsel. Edward war an Lösungen nicht interessiert. Rätsel fand er schön, solange sie nicht gelöst waren.

Wurde sie vermisst? Irgendwo? Keine Meldung in den Radionachrichten. Er kaufte ihr eine Zahnbürste, hinkend, kaufte ihr etwas zum Anziehen – in Geschäften, wo man ihn nicht kannte (sie bestand auf rot & schwarz, auch bei Socken & Unterwäsche); er kaufte Tageszeitungen. Nichts. Nichts deutete auf ein Vermissen, nichts auf einen Verlust. Kein Zettel an der Korkwand im Supermarkt, wo er ihre Lieblingsschokolade kaufte. Außerdem kaufte er, zum ersten Mal seit vielen vielen Jahren, ein Frischluftspray fürs Klo – & war fast stolz auf sich, weil er daran gedacht hatte. Der Einkaufswagen war voller Schnapsflaschen & Dosenfutter & Tiefkühlkost.
Das Geld wurde knapp. Er schränkte sich ein. Noch mehr. Sina zuliebe.
Der Fernseher fehlte ihr nicht wirklich. Was fehlte ihr überhaupt? Edward wusste es nicht. Edward ahnte es nicht. Sie las in seinen verstaubten Büchern. In den Gedanken der Toten. In den Gedanken, die Edward vielleicht schon wieder vergessen hatte. Die meiste Zeit des Tages verbrachte sie so. Sie konnte es eben doch; so leben wie er. Mit Ausnahme des Trinkens. Aber sie sprachen niemals miteinander über die Bücher.

Tage vergehen wie Zeilen.
Zeilen vergehen wie Wochen.
Und längst wusste Sina, welche Uhr die richtige Zeit zeigte.

Meist gingen sie erst spät in der Nacht schlafen. Edward schlief schlecht. Er hatte immer schlecht geschlafen, aber auf dem Sofa noch schlechter. Und auch Sina sah manchmal, wenn sie gegen Mittag aufstanden, übernächtigt aus. Und blass. So blass manchmal. Blasser als er, wenn er verkatert war. Und das war er meistens.
Aus Gewöhnung wurde Gewohnheit, aus Gewohnheit Abhängigkeit, aus Abhängigkeit Verlustangst. Edward hing an Sina. Er bezweifelte, dass sie an ihm hing. Niemals berührten sie sich; eine Art schamhafte Zurückhaltung bestand zwischen ihnen. Sie sprachen sich niemals mit Namen an. Das einzige, was so etwas wie Nähe darstellte, war die Tatsache, dass Edward Sinas Anziehsachen in die Waschmaschine tat & anschließend aufhängte; auch ihre Höschen & Unterhemden. – Sina blieb immer in der Wohnung. Wenn er einkaufen ging oder sonst etwas zu erledigen hatte, tat er es allein. Und nie war er sich sicher, ob sie noch da sein würde, wenn er zurückkam.

Später Abend. Leise Musik. Mahlers Zehnte. Sina blättert in Zeitschriften. Im Schneidersitz auf dem Sessel. Ohne Schuhe, wie immer; und immer trägt sie eine rote & eine schwarze Socke. Edward trinkt Absinth, den er sich eigentlich nicht leisten kann. Lauscht der Musik. Betrachtet Sina.
Sie blickt auf.
„Warst du immer schon allein?“
„Nicht immer, aber meistens.“
„Und seit wann bist du’s diesmal?“
„Lange. Sehr lange. – So lange, dass ich es fast nicht mehr weiß.“
„Aber das musst du doch wissen“, sagt sie.
„Na ja, ich weiß es natürlich schon; aber ich möchte es lieber nicht sagen.“
„Hmm. Verstehe.“
Versteht sie? Versteht sie wirklich? Noch bevor sie geboren wurde, war ich wieder allein. – Wie soll sie das verstehen.
„Der schreckliche Mann, bei dem ich wohne, ist auch allein.“
Endlich. Endlich spricht sie.
„Du wohnst bei einem Mann? Wer ist er, und warum ist er schrecklich?“
„Der Bruder meines Vaters“, sagt Sina. „Er ist alt, sehr alt, und er trinkt viel, und dann wird er manchmal böse, und er vergisst alles; er weiß dann gar nicht mehr, was er gemacht hat & dass er böse gewesen ist.“
„Was tut er denn?“
Sie zögert.
„Ach, alles möglich halt.“
„Sag doch.“
„Nein, ich möchte nicht.“
„Okay“, sagt Edward. „Wenn du nicht möchtest.“
Er trinkt einen großen Schluck Absinth.
Dann sagt er: „Er trinkt also. Und er ist alt. Das heißt also, er ist wie ich.“
Sinas Mund lächelt leicht, ihre Augen lächeln nicht.
„Ja, fast wie du“, sagt sie. „Aber nur fast. Du bist ja nicht böse.“
„Stimmt, normalerweise nicht.“
„Bist du’s manchmal?“
„Manchmal. Ja.“
Sie sieht ihn forschend an.
„Und was passiert dann?“
„Was soll schon passieren? Ich trinke einfach etwas mehr, und dann beruhige ich mich wieder.“
Immer noch liegt die aufgeschlagene Zeitschrift auf Sinas Schoß. Eine Filmzeitschrift aus einer Zeit, als es Sina noch nicht gab.
„Und vergisst du dann auch, was du gemacht hast?“
Edward lächelt. „Ich glaube nicht.“
„Du weißt es nicht?“
„Es könnte doch sein, dass ich etwas so sehr vergesse, dass ich nicht mal weiß, dass ich es vergessen habe.“
„Das ist doch Quatsch“, sagt Sina, „das gibt’s doch nicht.“
„Na ja“, sagt Edward, „ein bisschen Quatsch ist es schon. – Aber wer weiß….“
„Hmm… Ich vergesse nie was. Glaub ich.“
„Manchmal isses ganz gut, wenn man was vergisst.“
Sina schaut wieder in die Zeitschrift, blättert weiter.
Mahler klingt aus, Absinth wird nachgegossen.
Ist Selbstzerstörung unvernünftig, oder ist sie nicht vielmehr ein Akt der Vernunft? – Oder ist sie ein Akt des Verstandes?
Der Tonarm des Plattenspielers bewegt sich zurück in die Ausgangsposition.
Und jetzt? Faurés Requiem oder Coltrane?
Er entscheidet sich für Coltrane, steht auf, humpelt, wechselt die Platte. Humpelt zurück. Lässt sich wieder aufs Sofa plumpsen. Sina blättert um & sagt, ohne aufzublicken:
„Trane.“
„Ich fass es nicht“, sagt Edward.
„Der schreckliche Mann hört das auch oft“, sagt Sina.
„Ich sollte ihn mal kennenlernen“, sagt Edward.
Sie schaut auf, schaut in seine Augen. „Lieber nicht“, sagt sie.
„Na gut. Ich lerne sowieso nicht gerne neue Leute kennen.“
„Wieso?“
„Weiß nicht. Vielleicht weil sie mich irritieren, irgendwie.“
„Wieso?“
„Keine Ahnung.“
„Irritiere ich dich?“
Edward grinst. „Irgendwie schon. Aber anders.“
„Wieso anders?“
„Einfach so.“
Pause. Sina scheint über Edwards Worte nachzudenken. Zumindest kommt es Edward so vor.
„Übrigens“, sagt sie, „ich würde morgen gerne mal baden statt zu duschen.“
Netter Themenwechsel.
„Okay. Kein Problem.“
„Aber erst abends“, sagt Sina.
„Gut. Aber nicht zu spät, wegen der Nachbarn.“

Nacht. Stille. Der Mann wälzt sich auf dem Sofa. Hin. Und. Her. Schmerz im Rücken. Absinth im Kopf. Bewusstsein & Halbträume enden in Albträumen. Das Mädchen schläft in seinem Bett. Im Bett des Mannes mit den Schmerzen. Der schreckliche Mann – wer ist der schreckliche Mann? Wo ist er? Was tut er? Was vergisst er? Der Raum ist finster. Der Mund des Mannes ausgetrocknet vom Absinth. Die Kehle brennt. Der Mann hustet. Halbwach. Sinkt zurück in den Schlaf. Wacht wieder auf.
Was für ein seltsames Mädchen …. Was für ein seltsames Kind …. Kein Kind könnte so seine Tage verbringen, herumsitzen in einer engen Wohnung, in der Wohnung eines Fremden …. Bücher lesen …. & was für Bücher, was für Bücher …. Musik hören … & was für Musik …. & vor sich hin starren ….. Vor sich hin starren wie ich …. wie ein alter Mann …. Was hat sie erlebt? Was zur Hölle hat sie erlebt? …..

Der nächste Tag brachte den ersten Schnee. Sina interessierte sich nicht für Schnee. Sie warf einen kurzen Blick aus dem Fenster; das war alles. Dann machte sie das Frühstück, weil Edward zu verkatert war. Als sie am Tisch saßen, sagte sie:
„Und, erinnerst du dich an alles?“
Edward konnte nichts essen.
„Was meinst du?“
„Du hast doch so viel getrunken. Wenn du dich jetzt noch an alles erinnern kannst, dann war das doch wirklich Quatsch, was du gestern gesagt hast.“
Er grinste. Mühsam. „Ja. Ich glaub schon, dass ich mich an alles erinnern kann.“
Sina biss in ihr Marmeladenbrot.
„Siehste.“
Edward trank Grünen Tee.
Der Tag rieselte so dahin. Schneeschieber kratzten über die Gehwege. Edward erholte sich. Wie immer. Gemeinsam bezogen sie das Bett neu, damit Sina es nach dem Bad besonders angenehm haben würde.
Am Abend dann Faurés Requiem.
„Soll ich jetzt das Badewasser einlassen?“ fragte Edward.
„Ja bitte“, sagte Sina.
„Viel Schaum?“
Sie lächelte. Auch ihre Augen lächelten. „Ja.“
Er humpelte ins Bad, drehte den Warmwasserhahn auf, wartete, bis das Wasser richtig heiß war, und tat den Stöpsel in den Abfluss. Dann kippte er eine ordentliche Menge Badezusatz in die Wanne. Der Schaum dämpfte das Rauschen.
„Wie heiß magst du’s?“ rief er.
„Ziemlich heiß.“
Er nahm ein Badetuch & einen Waschlappen aus dem Schränkchen neben der Wanne. Legte beides oben darauf. Er zündete einige Kerzen & Teelichte an, die daneben standen, schaltete die Deckenbeleuchtung aus & eine kleine bunte Lampe ein, eine Art Laterne, die durch verschiedenfarbige Glasfensterchen das Zimmer in verschiedenfarbige Abschnitte unterteilte. Kitschiger Idiot, dachte er & ging zurück.
„Dauert ne Weile“, sagte er. „Der Wasserdruck ist hier manchmal ein bisschen schwach. Und ausgerechnet heute isses so.“
„Okay“, sagte sie, „macht ja nichts.“
Sie las in einer Anthologie expressionistischer Gedichte. Einleitung von Gottfried Benn.
Allmählich breitete sich der Geruch des Schaumbades in der Wohnung aus. – –
Schließlich tat Sina das Buch beiseite; aufgeschlagen.
„Hast du ein Gummiband für meine Haare?“ fragte sie.
„In der Küche; in der Schublade mit dem Besteck.“
Sina stand auf, holte sich ein Gummiband aus der Küche & verschwand dann im Bad. Die Tür ließ sie ein Stückchen offen, da es dort kein Fenster gab & die Lüftung für den Dampf nicht ausreichte.
Edward trank Rotwein, gemischt mit Weinbrand, Wodka & einem Spritzer Angostura. Er hörte Fauré, hörte, wie das Wasser abgedreht wurde. Hörte schließlich, wie Sina „Heiß heiß“ sagte & wieder Wasser zu rauschen begann. Er lächelte. Betrachtete den Dampf, der aus dem Türspalt direkt gegenüber dem Sofa schlierte. Er liebte diese Musik, liebte dieses Getränk, liebte diesen Geruch, liebte diese seltsame Zweisamkeit. Diese Zweisamkeit auf Distanz.
Als die Musik zuende war, lauschte er nur noch dem Plätschern, das aus der Wanne kam. In Intervallen. Er mixte sich einen weiteren Drink.
Vergessen Vergessen Ja wenn ich vergessen könnte Verdrängen Das Ende Das Nichtandauern Das Immergleiche Einfach mal geniessen könnte wie es ist Jetzt Jetzt gerade Ohne zu denken Ohne zu wissen Wer ist sie Was bin ich für sie Sie will doch gar nicht gehen Sie will doch hierbleiben Adoption Ach Quatsch Ich und Adoption Mir würde man jemanden anvertrauen Ja klar Ausgerechnet Arbeitsloser Säufer Dieb und wer weiß was noch alles Träumereien Immer diese Träumereien Aber sie sind das einzige Das einzige was ich immer habe Egal Seltsames Kind Seltsames Kind Seltsames Mädchen Und nirgends vermisst Ich hatte sie vermisst Wahrscheinlich Na klar Kitschiger Idiot Kitschiger alter Idiot Kitschiger sehr alter Idiot Das Buch Ha aufgeschlagen bei August Stramm ‚Welten schweigen aus mir raus’ Seltsames Kind Die Eltern tot Ich sollte sie danach fragen Endlich mal danach fragen Aber wenn sie nicht von sich aus Dann hats ja wohl keinen Sinn Sie wirds schon erzählen irgendwann Nicht mehr viel Wodka Verdammt Müsste einkaufen morgen Macht sie irgend etwas anderes wenn ich nicht da bin Liest sie wirklich nur Ich will nicht einkaufen Dieses verdammte Rausgehen Unter Menschen Und dann komm ich zurück und sie ist vielleicht wirklich nicht mehr da Das würde ich nicht Wie sollte ich das ertragen Aber wo sollte sie hin Zu dem schrecklichen Mann Schrecklicher Mann Wer weiß ob das alles stimmt Sie hat Fantasie Viel Fantasie Das Plätschern Wie süß Das kleine Mädchen in der Wanne Spielt mit dem Schaum wahrscheinlich Kleines zierliches Wesen Im warmen Wasser Ich könnte ihr den Rücken schrubben Na klar alter Idiot Sonst nochwas Ich sollte auch mal wieder baden Heiss ganz heiss Und mir dabei einen runterholen Und vergessen Das war doch ein guter Satz den ich ihr gesagt habe Mit dem Vergessen Nonsense Aber nicht nur Wie lang isses denn nun wirklich Das Alleinsein Egal Wenn ich nachrechnen würde wüßt ichs Aber warum sollte ich Es ist egal Egal
Er schloss die Augen. Ein rotes Karussell. Ein leichtes Schwindelgefühl war die Folge. Er öffnete sie wieder.
„Alles okay bei dir?“ fragte er.
„Yep“, kam die Antwort durch den Dampf.
Er lächelte. Wunderte sich, wie oft er doch lächeln musste. Überlegte kurz, ob er eine andere Platte auflegen sollte – verwarf den Gedanken, weil Musik das Plätschern übertönt hätte. Er fragte sich, ob die Nachbarn Sinas Stimme hörten. Wenn ja, was würden sie denken? Was vermuten? Er, der menschenscheue Sonderling – & aus seiner Wohnung dringt eine Kinderstimme…… Die Stimme eines kleinen Mädchens….. Sie waren nur Selbstgespräche gewohnt. Falls sie überhaupt etwas hörten. Er selber hörte fast nie etwas von ihnen.
„Du?“ rief Sina.
„Ja?“
„Kannst du mir ne Cola bringen?“
„Kommt sofort.“
Sein Herz pochte ein wenig schneller. Sein seltsames Herz. Er stand auf, etwas wacklig, und humpelte in die Küche. Füllte ein großes Glas. Humpelte zur Badezimmertür. Schob die Tür in den Dampf. Die Flämmchen tanzten. – Der kleine Kopf, gerötet & nass, ragte aus dem buntbeleuchteten Schaumpanzer. Kleine ….. Schildkröte. Die Gummibandfrisur stand ihr gut, halb Zöpfchen, halb Dutt. Sina lächelte. Zufrieden.
„Gemütlich, was?“ sagte Edward.
„Oh ja.“
Er trat an die Wanne & reichte ihr das Glas in die beschäumte Hand.
„Danke“, sagte Sina.
„Bitte. Aber trink nicht zu schnell; die ist sehr kalt.“
„Und ich bin heiss, ich weiss“, sagte sie & kicherte.
Edward grinste & wandte sich wieder um. Vor einem dunstblinden Spiegel. Hitze & Feuchtigkeit auf seiner Haut. Der Spiegel hing über dem Waschbecken, in das er so lange seine einsame Geilheit gewichst hatte. Er hob Sinas Klamotten auf, die sie auf den Boden geworfen hatte, und tat alles bis auf die Jeans in den Korb mit der Schmutzwäsche.
„Kannst die Tür offen lassen“, sagte sie, „ich ersticke sonst noch.“
„Okay. Bleib nicht zu lange drin. Nicht, dass du total verschrumpelst.“
„Ich verschrumpel gern“, sagte sie.
Er hinkte ins Schlafzimmer, legte die Hose ordentlich zusammen & ging zurück zum Sofa. Ließ sich fallen, trank einen kräftigen Schluck. Dann dachte er:
Jetzt, wo ich sie sehen kann, ist das Plätschern nicht mehr so wichtig. Also -: Musik.
Die Frage war, welche. Was passte zu dem Anblick, was zu der Stimmung? Einzelne Sätze hätten gepasst: der 4. aus Mahlers Fünfter Symphonie; das Air aus Bachs Suite Nr. 3 …. Aber die anderen Sätze hätten nicht gepasst. So ist es ja immer. – Er erinnerte sich an ein Tonband, das er vor Jahren, vor wievielen Jahren?, zusammengestellt hatte …. ‚Kerzenmusik’ hatte er es genannt & die Hülle so beschriftet. ‚Bademusik’ hätte er es ebenso gut nennen können. Er hatte vergessen, was alles darauf war, aber er wußte, alles war beruhigend & entspannend. Er hatte nicht allzuviele Bänder, also musste er auch nicht lange suchen. Er fädelte es ein, drückte auf die Starttaste & setze sich wieder.
Erik Satie, Gymnopedie No. 1 …. Als die Musik einsetzte, schaute Sina über den Wannenrand herüber. Nur ganz kurz. Dann spielte sie wieder mit dem Schaum. Kurz. Und schloss die Augen. Entspannt.
Kitschiger alter Idiot, dachte Edward.
Und trank.
Und trank.
Wenn ich jetzt pissen müsste ….. ungünstig ….. Müsste die Spüle benutzen …..
Grinsen.
Aber er musste nicht.

Die Mutter ruft:
„Eddie, Robert, Hände waschen! Essen ist soweit!“
„Wer zuerst fertig ist“, sagt Robert & springt vom Boden auf, wo das große Puzzle liegt; halbfertig. Ein Comic-Motiv. Donald Duck. Und seine Neffen. Wieviele Teile? Eddie glaubt, 1000. Robert glaubt, 500. Es gibt keine Verpackung mehr, wo man nachsehen könnte. Und sie wissen nicht, ob es noch vollständig ist.
„Hey, warte“, ruft Eddie, „das ist unfair!“
Er braucht etwas länger, um aufzustehen; läuft Robert hinterher. Ins Bad.
Wo das Wasser schon rauscht.
„Erster“, sagt Robert.
„Du hast geschummelt. Du schummelst ja immer. Wir hätten gleichzeitig starten müssen.“
„Du bist halt ne lahme Schildkröte. Du hättest sowieso nicht gewonnen.“
„Stimmt ja gar nicht.“
„Wohl.“
Die Mutter ruft:
„Wird’s bald?!“
Die beiden rufen, fast unisono:
„Wir kommen schon!“
Eddie ist 11, Robert 13.
Es gibt Reisbrei mit Zimt & Zucker. Ein Essen, das Eddie hasst. Und das er lieben wird, wenn er erwachsen ist.
„Robert“, sagt die Mutter, „nach dem Essen bringst du den Müll runter.“
Robert zieht eine Fresse. Eddie grinst.

Ninna Nanna in Blu, Ennio Morricone.
Wie seltsam …. Ich war immer derjenige, der gesagt hat, dass er heiraten will, viele Kinder will …. und er …. ‚Niemals’ hat er gesagt …. Und dann …. Aber so isses ja immer …. Oder war’s umgekehrt? …. Gott, bin ich besoffen …. Soviel Dampf, schlecht für die Bücher … Na und? Scheiß drauf! ….
Der Dampf hatte sich verteilt. Die Sicht im Badezimmer war wieder klar. Der Blick auf das genießende Köpfchen am Wannenrand. Und der Schaum wurde weniger. Nur Edwards Blick war verschwommen.
Und die Zeit verging in Musik.
Schließlich schaute Sina zu ihm herüber.
„Machst du bitte mal die Tür zu? Ich will jetzt raus.“
„Na klar.“
Er stand auf, ging zur Tür. (Irgend etwas von Angelo Badalamenti.) Er sah, dass der Schaum weg war, sah Sinas Schultern ….. Schwarze Striche darauf, auch unterhalb des Halses ….
„Was zur Hölle ist das?“
Sie sah ihn ernst an. Die überhitzte Röte war aus ihrem Gesicht gewichen.
Edward sagte: „Das da, an deinen Schultern – was ist das? Sieht aus wie Schnitte.“
Er wollte nähertreten.
„Nicht!“ sagt Sina & versucht, sich hinter ihren dünnen Ärmchen zu verstecken.
Er hält inne.
„Okay okay. Ich komm nicht näher. Aber nun sag schon, verdammt noch mal.“
„Ja. – Ja, es sind Schnitte.“ Ihre Stimme zittertert ein wenig.
„Oh mein Gott“, sagt Edward. „Wie …. Wer …. War das der Mann? Der schreckliche Mann?“
„Ja.“
Er hält sich an der Türklinke fest. Etwas in ihm krampft sich zusammen.
„Arme Kleine“, sagt er. „Du musst mir jetzt seinen Namen sagen & seine Adresse, unbedingt, ich geh zur Polizei, ich zeig das Schwein an.“
„Kommt er dann ins Gefängnis?“
„Mit Sicherheit. Dafür gehört er in den Knast.“
„Und er kriegt nicht nur so ne andere Strafe? So wie du?“
„Aber nein. Natürlich nicht. Oh mein Gott, sieh dich doch an. Dieses Schwein. Dieses verdammte Schwein. – Wo hast du noch überall… ich meine, wie weit runter gehen die Schnitte?“
„Ein bisschen am Bauch. Und ein bisschen an den Beinen.“
Edward ist kurz davor zu weinen; er hält sich zurück.
„Brennt das nicht im Badewasser?“
„Nein.“
„Also, sag schon, wer ist er?“
„Ich möchte nicht.“
„Sina bitte.“ Zum ersten mal spricht er sie mit Namen an. „Du musst es mir sagen. So jemand darf doch nicht frei rumlaufen.“
„Nein bitte“, sagt sie. „Vielleicht später. Aber nicht jetzt.“
„Immer später später später, und immer vielleicht. Du brauchst keine Angst zu haben.“
„Ich hab keine Angst. Und jetzt bin ich ja bei dir. Es ist doch alles okay so.“
Ein Grund. Dies ist ein Grund, sie erst recht hier zu behalten. Sie nicht mehr zurück zu lassen. Zurück zu diesem schrecklichen Mann.
Jetzt oder nie.
„Wie sind deine Eltern gestorben?“
Die Frage scheint ihr nichts auszumachen.
„Autounfall.“
„Wann?“
„Da war ich 2.“
„Und du bist sofort zu diesem … diesem Onkel gekommen?“
„Ja. – Bitte“, sagt sie, „ich möchte jetzt raus. Ich friere.“
„Ja. Ja natürlich. Sorry. Ich geh schon.“
Er macht die Tür zu.
Herzrasen & Schwindel. Gedankenchaos. Widerstreitende Gefühle. Und immer wieder Dieses Schwein! Dieses Schwein! Dieses Schwein! Diese Bestie! – Bilder von einem Besoffenen, der nicht mehr weiß, was er tut, der das kleine, hilflose, nackte Mädchen mit einem Messer… oder womit auch immer …..
Edward setzt sich. Nimmt einen tiefen Schluck. Steht wieder auf, humpelt zum Tonbandgerät, schaltet es aus. Setzt sich wieder.
Wahnsinn …. Alles Wahnsinn …. Aber ich darf sie nicht drängen …. Wenn ich sie dränge, sagt sie gar nichts …. Geduld, ich brauche Geduld ….. Und sie muss hier bleiben, sie muss hier bleiben …. Sie kann nicht zurück …. Aber ich würde zur Polizei gehen …. Ich würde mich überwinden, ich würde zur Polizei gehen …. Bestimmt …. Auch wenn ich nicht wüsste, wie ich alles erklären sollte, wie sie zu mir gekommen ist, und wann sie zu mir gekommen ist, und alles andere …. Ich würde gehen …. Warum zur Hölle ….
Die Badezimmertür geht auf. Sina kommt heraus, eingehüllt in das große weiße Badetuch, das ihr so bis unter die Knie reicht. Hinter ihr rauscht das Wasser in den Abfluss. Die Schnitte an den Schultern & unter dem Hals. Unwillkürlich schaut Edward auf ihre Schienbeine, auf ihre Füße, um nach weiteren Spuren zu suchen – nichts.
„Rubbelst du mir ein bisschen den Rücken?“ sagt Sina. Zurückhaltend.
„Äh ja, klar, komm her.“
Sie tapst heran. Dreht sich vor ihm herum. Sie riecht gut.
Edward sagt: „Auf dem Rücken hast du nichts? Irgendwas, wo ich dir weh tun könnte?“
„Nein“, sagt sie, „da ist nichts.“
„Okay.“
Er beginnt, vorsichtig mit beiden Händen über den Frotteestoff zu streichen. Kommt sich ungeschickt vor. Unbeholfen.
„Fester“, sagt Sina.
Er gehorcht. Sie fängt an zu kichern.
„Ja, so is gut. Weiter.“
Ungewohnte Nähe. Kontakt. Etwas, das aus seiner Erinnerung fast schon verschwunden gewesen war. Fast. Und der kleine Hinterkopf, und das Haar halb Zopf, halb Dutt; der Haaransatz, der schmale Nacken; die Waden (ohne Schnitte), die kleinen nackten Füße …..
Es könnte ewig so weitergehen …. Ewig, haha, ich werde nicht schlau aus ihr … Egal, warum auch …. Ewig ….
„So“, sagt Sina, „reicht. Danke.“
Sie geht zum Sessel, setzt sich, zieht die Beine auf die Sitzfläche.
„Nicht dass du dich erkältest“, sagt Edward, „du solltest dir wenigstens Socken anziehen.“
„Jetzt nicht“, sagt sie.
„Wir müssten mit den Schnitten etwas machen.“
„Nein, die sind schon fast abgeheilt. Sind ja älter.“
„Wie lange ist….“
„Ich möchte nicht darüber reden, okay?“
„Okay. Sorry.“
„Warum hast du die Musik ausgemacht?“
„Sie hat mich gestört plötzlich.“
„Hmm. Mach sie doch wieder an, oder warte, ich mach das.“
Sie steht auf, geht zum Tonbandgerät, drückt auf die Starttaste.
Badalamenti geht zu Ende; das Ave Maria folgt.
„Das ist schön“, sagt Sina & setzt sich wieder.
Das letzte Wasser vergluckert im Abfluss.

Und in der Nacht wälzt sich der Mann in Schmerz & Traum …. Messer Messer Messer …. zarte Haut …. eine Kindheit aus Gedankenstrichen, geritzt in einen kleinen Körper …. Schreie & Hilflosigkeit …. Das Ausgeliefertsein …. Die Tränen …. Das Blut …. Blut, das dunkel trocknet …. Ein Friedhof im schneeigen Licht des Mondes …. Das Doppelgrab der Eltern …. Die Einsamkeit des Hinterbleibens …..

Weitere Tage kamen. Weiterer Schnee. Weitere Beseitigung des Schnees.
Die Tage nach dem Badetag waren wie die Tage vor dem Badetag. Die Distanz dieselbe. Das Thema Tabu.
Und sein Bein schmerzte ihn immer mehr.
„Du solltest mal an die frische Luft“, sagte Edward.
Sina blickte nicht auf von dem Buch, von welchem auch immer.
„Ich brauch keine frische Luft“, sagte sie.
Edward schwieg.
Und immer, wenn er von Einkäufen & Erledigungen zurückkam, war sie noch da – hatte sie kaum ihre Position verändert. Er hatte ihr ein rotschwarz-gestreiftes Gummi für ihre Haare gekauft, weil er das halbe Zöpfchen, den halben Dutt so mochte; und ihr gefiel dieses Gummi, und es störte sie nicht, ihm eine Freude zu machen.
Einmal, als er nach Hause kam, lag ein altes Fotoalbum auf ihrem Schoß.
„Bist du das“, fragte sie & deutete auf einen kleinen Jungen.
Er stellte sich neben ihren Sessel – mittlerweile war es ihr Sessel.
„Nein. Das ist mein Bruder.“
„Du hast einen Bruder?“
„Ich hatte einen. Er ist tot. Lange her.“
„Verstehe.“
Versteht sie? Versteht sie wirklich?
„Ich dachte, das bist du“, sagte sie. „Sieht aus wie du. Ich meine, sieht so aus wie du als kleiner Junge, irgendwie.“
„Wir waren uns sehr ähnlich“, sagte Edward.
„Hmm. War er jünger oder älter.“
„Älter. 2 Jahre.“

„ROBERT!!!“
„Ja?“
„KOMM HER, SOFORT!“
Die Mutter steht da – mit ihrem schweren stabilen Holzlineal. 1 Meter.
Robert zittert. Eddie zittert mit ihm.
„Was habe ich gesagt?“ fragt die Mutter.
„Ich sollte…“
„Ja, genau, du solltest! – Los, komm her! Dahin!“
Und das Holzlineal …..

Sina lächelte.
„Dann bist du also der da.“
„Ja. Sorry.“ Edward lächelte auch.
„Süß“, sagte Sina. Sie trug schwarze Jeans & ein rotes Sweatshirt. Eine rote & eine schwarze Socke.
„Süß ist gut“, sagte Edward, „so hat mich damals, glaub ich, niemand genannt.“
„Ist das da deine Mutter?“
„Ja. – Was willst du heute essen?“
Sina sagte: „Pizza.“

Der Schnee verschwand.

Und dann –
irgendwann –
war sie da –
diese
Nacht …… :

Der Mann erwacht. Er weiß nicht, aus welchem Traum. Aber er glaubt, ein geträumtes Geräusch habe ihn geweckt. Dunkelheit & Rückenschmerz. Er greift nach dem Lichtschalter einer kleinen Lampe neben dem Sofa. Klick. 15 Watt in einem roten Schirm. Vorsichtig richtet er sich auf. Da ist noch ein Rest Wodka in der Flasche auf dem Tisch. Er schüttet diesen Rest in die leergetrunkene Teetasse des Mädchens. Trinkt, indem er seine Lippen dort ansetzt, wo die Lippen des Mädchens gewesen sein müssen. Fast kann er sie fühlen. Es ist ein billiger Wodka. Der Mann blickt auf die Uhr, die richtig geht. 3:53 Uhr. Und er sieht, dass die Schlafzimmertür einen schwarzen Spaltbreit geöffnet ist. Zum ersten Mal. Er befürchtet, sein Licht könnte das Mädchen wecken. Doch er hört ein Geräusch. Hört verschiedene Geräusche. Rascheln von Bettzeug …. Etwas wie ein Zischen, das aus einem kleinen Mund kommt …. Dann leises, ganz leises Kichern …. Und die Geräusche wiederholen sich; nur das Bettzeug raschelt nicht mehr …. Er steht auf, in T-Shirt & Shorts. Humpelt zum Türspalt. Horcht. Zischen. Kichern. Dann tippt er die Tür an ……
Langsam schwingt sie ins Innere des Zimmers. Der schwache rote Schein der Lampe reicht nicht weit. Und doch…..
Das Mädchen sitzt aufgerichtet im Bett, kaum mehr als eine Silhouette im fernen Licht … Die Decke zurückgeschlagen … Helle Haut des Oberkörpers, helle Haut der Beine, die dunkle Stelle, wo das Höschen ist … Das Mädchen hält etwas in der Hand … Ein dreieckiger Lichtreflex blitzt kurz auf, als es sich damit kurz über den Bauch fährt … Wieder das Zischen, das aus dem Mund des Mädchens kommt … Dann Kichern … Der Mann tastet nach dem Lichtschalter neben dem Türrahmen … Blendung …
„Sina!“ ruft er. Oder schreit er es?
Das Mädchen beachtet ihn kaum. Er ist wie ein kleines Nebengeräusch, das man überhört. Nur kurz blinzelt es in seine Richtung. Lächelnd. Das Messer ist ein langgezogenes Dreieck; zweischneidig, mit winzigen Flecken, die an Rost erinnern; der Mann hat es noch nie zuvor gesehen. Frische kleine Schnitte auf Bauch, Brust & Oberschenkeln des Mädchens. Rote Striche. Kleine Blutpunkte. Feine Rinnsale. Zwischen den schwarzen Strichen der Vergangenheit. Das Kichern ist beängstigender als das Zischen. Der Mann hinkt so schnell, so schnell zum Bett.
„Sina, nicht, komm, gib mir das Messer, bitte.“
Das Mädchen schaut ihm in die Augen, schneidet sich dabei, kurz oberhalb des Bauchnabels; zarte Haut wird zerteilt. Der Mann beugt sich über das Bett, streckt dem Mädchen die Hand entgegen ….
„Komm, gib es mir.“
Und so schnell, so schnell bewegt sich der dünne Arm des Mädchens. Und das Messer fährt in den Hals des Mannes. Ein verhaltener Schrei – mehr der Überraschung als des Schmerzes. Er greift nach der Stelle, aus der das Blut fließt. Die Schlagader. Er richtet sich kurz auf, stolpert dann vorwärts, fällt halb auf das Bett; das Mädchen zieht schnell die Beine weg, damit er nicht darauf fällt. Sein Blut trifft das Mädchen. Es nimmt den Griff des Messers in beide Hände. Dann sticht es in das linke Bein des Mannes. Mehrmals. Es ist anstrengend, es kostet Kraft. Der Mann zuckt. Der Mann windet sich. Tastet umher mit blutigen Händen. Berührt die Füße des Mädchens. Nur kurz. Hinterlässt Spuren. Aus zerfetzten Gefäßen pumpt es. Blut auf dem Laken, Blut auf dem Boden. Alkoholisiertes Blut. Das Mädchen kichert leise. Die Augen unbeteiligt. Noch einmal sticht es in das Bein. Lässt das Messer stecken. Bewegung fließt aus dem Mann. So lange, bis nur noch Ruhe zurückbleibt. Die Erinnerungen – enden.
Das Mädchen lehnt sich an das Kopfteil des Bettes, betrachtet den Rücken der Leiche. Das Gesicht der Leiche ist abgewandt. Das Mädchen ist ruhig. Es spürt die eigenen Schnitte nicht. Blutrot ist das Höschen, das es trägt.

Schneelose Winternacht. Dunkel wie das Innere eines Menschen. Verhaltene Kälte. Trockene Straßen. Ein Mädchen, zierlich, in rotschwarzem Anorak geht durch enge Gassen. Ganz still. Es sucht nach einer Treppe. Nach irgendeiner Treppe, die vor irgendeinem Haus zu irgendeinem Keller hinabführt.
Und es findet eine solche Treppe. Das Mädchen geht ein paar Stufen hinab. Es setzt sich.
Und S fängt an zu weinen.


Noch eine tote Katze auf der Straße

So wie mein Auto mittlerweile aussah,
wurden nicht mal mehr auf dem Supermarktparkplatz
Karten von osteuropäischen Händlern drangesteckt.
Das gefiel mir.
Ich schob meinen Einkaufswagen über den Parkplatz,
packte die Lebensmittel (Gordon’s Gin, Chips, Nudeln, Wein & Bier)
in den Kofferraum, brachte den Wagen zurück &
stieg in das rostige, vollgeschissene Etwas, das mein Auto war.
Der Auspuff hatte seinen eigenen Sound, ich mochte ihn.
Auf dem Weg nach Hause hörte ich eine Dichterlesung im Radio.
Langweilige Bilder, gesuchte Gesellschaftskritik,
ausgetrocknete Sprache…..
Meine Scheiße klingt besser, wenn sie in die Schüssel klatscht,
dachte ich.
Und dann lag auch noch eine fette weiße Katze
aufgerissen mitten auf der Straße; die nassen Gedärme über
beide Fahrstreifen verteilt. Es war nicht ihr Tag gewesen.
Meiner eigentlich auch nicht.
Aber ich hatte mein altes Auto, den Gin, und ich konnte
das Radio ausschalten.
Also ging es mir vermutlich doch besser
als der Katze.


Die Durchschaubarkeit der Gedanken

Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Also fasse ich die unklaren Gedanken.
Die trüben Gedanken.
Greife nach der Flasche mit dem klaren Getränk.
Vielleicht werden die Gedanken klarer –
es wäre unfassbar;
vielleicht werden sie noch trüber –
es wäre bedenklich.
Vielleicht sind die klaren Gedanken zu
durchschaubar;
vielleicht führt die Durchschaubarkeit der Gedanken
zu Trübsinn.
Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Ich betrachte sie von ferne –
& proste ihnen zu.


Euphorie

Wenn ich das leere Wodka-Glas
hinter mich werfe
wie ein besoffener Russe
aus Euphorie
klingt sein Splittern schön
Aber
es klingt nicht
einen Splitterbruchteil so schön
wie Dein Lachen
das mich
in Euphorie versetzt
& das schönste Mondlicht
das sich in den Splittern spiegeln könnte
kann niemals so schön sein
wie Dein Lächeln
wenn Du
meinetwegen
in Euphorie bist


Scheisse

Meine Scheisse sieht genial aus –
je nachdem, was ich gegessen & getrunken &
wie ich es verdaut habe …..

Ich wünschte,
meine Gedanken wären
Scheisse!


Das Wrack

Ich schaute mir das Foto sehr genau an –
& atmete tief durch …..
mehrmals …..
Was von dem Auto übrig geblieben war,
war bedeckt von einer Schlammkruste;
die Motorhaube unsauber gefaltet auf der
Windschutzscheibe; die Frontpartie dort,
wo die Motorhaube gewesen war ….
Wie ein höhnisch grinsendes Maul war
vorne alles offen. Die Stoßstange war die
sarkastische Oberlippe. Das Dach war eingedrückt,
aber nicht zu sehr. Glas war gesplittert.
Gesplittert wie ihre Erinnerung.
Es war der Wagen ihres Großvaters, und sie
hatte allein darin gesessen – & konnte sich
an den Unfall & wie es dazu gekommen war,
nicht mehr erinnern. („Retrograde Amnesie“,
sagte ich – Klugscheisser, der ich bin.)
Es war 2 oder 3 Jahre bevor wir uns kennenlernten
passiert; das Geschwafel von ‚Schutzengeln’ hatte sie
in dieser Zeit wohl bis zum Erbrechen oft gehört.
Denn es war ihr wenig passiert – ein bisschen Glas
in der Haut; Blutergüsse, Schrammen.
Angst.
Sie war nicht die erste junge Frau, die ich kannte,
die einen Autounfall dieser Schwere gehabt hatte –
aber die erste, die ihn überlebte hatte.
Ich atmete tief durch.
Mehrmals.
Ich hätte sie nicht nur nicht kennengelernt –
ICH HÄTTE VON IHRER EXISTENZ NICHT EINMAL
ETWAS GEAHNT. – – –
Und was tat ich damals? Zur Zeit des Unfalls? —
Was schon? – : Meine Gesundheit mit Füssen treten.
Mich selbst zerstören.
Mich überschlagen wie ein Auto, das
eine Böschung herabstürzt.
Gläser zerschlagen. Bis sie
splittern
splittern
splittern.
Und in niemandes Haut landen –
außer meiner eigenen.
Und wäre ich erfolgreich gewesen, hätte auch sie
nichts von meiner Existenz geahnt.
Doch auch ich habe Schutzengel.
Oder hatte sie bisher.
Und der Sarkasmus vergeht mir, wenn
ich ihre Oberlippe betrachte.
Und ich atme tief durch.
Nochmals.
Und grinse.


Ganz einfach.

Worauf man verzichten könnte:

Lesen
Rasenmähen
Staubwischen
Unterhaltung
Autowäsche
Tapeten
Sex
Fernsehen
Musik
Alkohol
Post
Mitmenschen
WC-Reiniger
Träume
Kalender
Fernbedienungen
Schaufensterpuppen
Fliegennetze
Rasierklingen
Marmelade
Grabsteine
Kameras
Brotschneidemaschinen
Thermometer
Gedanken
Brillen
Schnellkochtöpfe
Kerzen
Fotoalben
Pralinenschachteln
Gefallen wollen

Worauf man nicht verzichten kann:

Schlafen
Atmen
Essen
Trinken
Scheissen
Pissen

Im Grunde ist das Leben
ganz einfach.


So cool

Ich bin so cool
so cool cool cool
wie die Müllmänner, die ich als Kind beobachtete,
auf ihren Plattförmchen, hinten am Müllwagen

Ich bin so cool
so cool cool cool
wie der Gin in meinem
Tiefkühlfach

Ich bin so cool
so cool cool cool
wie der Spiegel im ungeheizten Badezimmer
der meine Visage reflektiert

Ich bin so cool
so cool cool cool
wie Deine Antworten
auf meine Fragen

Ich bin so cool
so cool cool cool
wie die leere Ginflasche im Mülleimer

Die Flasche, die meine Visage reflektiert –
bevor die Müllmänner sie holen –
die Flasche, die leer ist & cool

wie Deine Worte


Das alte Kino

Schon schwindet die Erinnerung.
In den Hörsturz. In das Ohrensausen. Bevor ich den Rest auch noch vergesse, versuche ich aufzuschreiben, was ich noch weiss. (Oder habe ich es gar nicht vergessen, sondern niemals gewusst ?)
Dunkelheit & später Abend. Einsame Straßen. Ein kleiner Ort. Ziellosigkeit, oder? Wie war ich hierher gekommen? Und warum? Vergessen. Ich ging an der Hauptstraße entlang, kleine Läden mit dunklen Schaufenstern. Wenige Laternen. Sommerliche Wärme.
Ein schmaler abschüssiger Weg führte vom Bürgersteig hinab zu einem Kino. Man bemerkte es kaum als solches. Keine Leuchtreklame; der Schaukasten war ebenfalls dunkel, ich erinnere mich nicht mehr an die Plakate, nicht mehr an die Aushangfotos. Aber es gab welche. Im Inneren des großen, alten Gebäudes brannte schwaches Licht; es war Zeit für die Spätvorstellung. Dachte ich, schätzte ich. Endlich irgendwo hinsetzen; ich ging hinein.
Alles sah nach den 50er oder frühen 60er Jahren aus; nichts schien jemals renoviert worden zu sein. Es roch alt. Und nach Staub. Und man sah niemanden. Die Kasse war unbesetzt. Auch hörte man nichts. Die Beleuchtung war ungemütlich. Der linke Flügel der Tür zum Kinosaal stand offen. Gleichmäßiges Flackern in der Öffnung; kein Ton. Ich bewegte mich darauf zu …
Der Saal (riesig – & hoch) war völlig leer – zumindest so weit ich ihn überschauen konnte, in dem schwachen Geflacker, das von der Leinwand & aus dem Vorführraum kam. Es lief: ein Countdown. Weisse Zahlen in einem weissen Kreis vor schwarzem Hintergrund. 983 …. 982 …. Nicht einmal eine Notbeleuchtung gab es.
(War das wirklich alles so – oder erinnere ich mich nur falsch? -)
Ich ließ die Tür hinter mir zufallen; sie machte keinerlei Geräusch. Ich ging ein paar Schritte den Mittelgang hinunter, suchte mir einen zentralen Platz. Unbequeme, cordbezogene Klappstühle aus dunklem Holz. Ich setzte mich. 874 …. 873 …. Ganz leise hörte ich nun doch das Surren des Projektors. Drehte mich um, schaute auf das kleine Fenster, durch das der Countdown geworfen wurde. Der Vorführraum war völlig abgedunkelt – so als gäbe es keinen Vorführer.
Und ich schaute wieder auf die Leinwand. 849 …. 848 ….
Was zur Hölle mache ich hier? All diese hochgeklappten Sitzflächen …. Die dunklen Ecken …. Ist dort vielleicht doch jemand? Und beobachtet mich? …. Aber ich spüre keinen Blick auf mir …. Habe ich sie noch in der Jackentasche? – Ja …. sie ist noch da …. & sie ist schwer …. & beruhigend ….
Die Zahlen hatten etwas Hypnotisches.
Bei 662 erschien eine Gestalt rechts in meinem Blickfeld. Zierlich. Lautlos. Soweit erkennbar, in Grau gekleidet; den Kopf in einer Kapuze verborgen, schritt sie den Seitengang hinab. Setzte sich mehrere Reihen unterhalb der meinen in den nächsten Sitzblock. Kopf in Richtung Leinwand.
Auch ich folgte weiter dem Heruntergezähle. Was, wenn der Countdown der eigentliche Film ist? Auf den nichts weiter folgt?…. Nichts als Dunkelheit…..
556 …. 555 ….
Zuhause wartete die Leere auf mich. Verhangene Fenster, Bücher, Filme, Musik. Wie weit war dieses Zuhause entfernt? Vergessen.
445 …. … …. … …. 442 ….
444 & 443 fehlten, stattdessen: 2 Sekunden absolute Finsternis. Und -: Die Gestalt saß woanders! – Zwar noch im selben Block, aber jetzt auf der gleichen Höhe wie ich. Wie kann sie in diesen 2 Sekunden der Finsternis…… Eine junge Frau, die auf die Leinwand blickte. Sie musste bemerken, dass ich sie beobachtete, aber sie schaute nicht zu mir herüber. Ein zartes Gesicht im Geflacker der Zahlen.
Ich wandte mich wieder dem Countdown zu. Ob sie jetzt zu mir herüber….? Habe nicht das Gefühl …. obwohl …. Würde ich es spüren?
Ich war hellwach. Merkwürdigerweise. Der einschläfernden Atmosphäre zum Trotz. SurrenSurrenSurrenSurren. Real. Reell. Reel. Surreal. 220 …. 219 …. SurrenSurrenSurren.
Blick nach oben: ein gewaltiger Kronleuchter. Erloschen.
14 & 13 fehlten.
Bei 12 saß sie direkt vor mir. Die Kapuze ragte in den Countdown. Ich erschrak nicht. Ich wunderte mich nicht. Ich neigte mich etwas vor, um sie vielleicht riechen zu können……
Die Null kam. Das hohle Ei im Kreis.
Dann:
Finsternis.
Lange. Lange.
Dann:
-13 ….
Sie saß links neben mir. Schaute mich an. Verletzliche Augen. Verletzte Augen. Geschichten. Gedichte. Ein vorsichtiges Lächeln. Flackern. Schüchternheit.
Plötzlich wurde es heller.
Wir schauten zur Leinwand. Der Film begann. Ohne Vorspann. Schwarzweiss.

Close up. Ein Mann (verwirrend ähnlich sah er mir) sitzt in einer Bar. (Nein, es war nicht ‚Casablanca’, aber es erinnerte daran…) Vor sich eine halbleervolle Flasche Whiskey, das gefüllte, auf dem Tisch stehende Glas mit beiden Händen umfassend. Er blickt in die Kamera. Blickt auf uns. Lange. Schweigend. Dann nimmt er einen Schluck. Klopft mit dem Glas 3 Mal auf die Tischplatte. Starrt weiter in den Kinosaal. Nichts ist zu hören. Die Bar scheint leer zu sein. Dann: zündet er sich eine Zigarre an, Ministreichholzexplosion, sein Gesicht hinterm Rauchvorhang. Er schüttelt das Flämmchen aus. Eine Stimme beginnt zu sprechen. Es muss seine sein, auch wenn er die Lippen nicht bewegt. –
„All diese Jahre. Oder waren es Jahrzehnte? Die Einsamkeit. Die unfassbare Einsamkeit. Die Selbstzerstörung. Die Betäubung. Die Taubheit.“
– – – Ein weiterer Schluck, ein weiterer Zug. – – –
„Und ich wette. Ich wette, ich wette, ich wette – sobald das Glück, oder wie immer man das nennen soll – an meiner Tür geklingelt hat, werde ich am Krebs verrecken. Oder an sonstwas. Ich werde verrecken an all dem, was die Einsamkeit mich tun lies.“ –
Er grinst in die Kamera.
Und eine Frauenstimme aus dem Off ruft: „Cut!“

Kurze Finsternis.
Dann:
-66 …. -67 ….
Wir schauten uns in die Augen. Stumm. Ängstlich. Lächelnd.
Nur kurz – & der Film begann von vorne.
„All diese Jahre …..“ – – – –
„Cut!“

Danach: keine Pause mehr. Der Film lief als Endlosschleife. Wir schauten nicht mehr hin.
Wie oft hörten wir die Sätze? Vergessen. Wir taten nichts außer uns anzusehen. Und Geschichten zu lesen.
Schließlich griff ich in meine Jackentasche. Schwer & beruhigend; der Revolver war ein Erbstück. Er hatte meinem Vater gehört. Ich wandte mich um, fixierte den linken Ellenbogen auf der harten Rückenlehne, spannte den Hahn, unterstützte mit der linken Hand die rechte, die den Revolver hielt. Sie schob ihre Hände in die Kapuze, um sich die Ohren zuzuhalten. Ich zielte. Auf das Fensterchen. Auf die Linse dahinter, aus welcher der Lichtkegel fiel. Staub tanzte im Geflacker.
Ich drückte ab.
Der Rückstoß, ich spürte ihn im Handgelenk. Der Knall, er schmerzte in meinen Ohren. Der Geruch des Schusses. Das Splittern des Glases. Die augenblickliche Finsternis. Der Projektor surrte weiter, aber ich hörte ihn nur noch dumpf – obwohl er nicht mehr durch die Glasscheibe gedämpft wurde. Pfeifen in meinen Ohren. Meine Stimme klang seltsam, als ich fragte:
„Alles ok?“
Keine Antwort.
Ich tastete in die Dunkelheit…… Nichts. Sie saß nicht mehr dort.
„Bist du noch da?!“ Ich sagte es laut. Vielleicht rief ich es sogar.
Keine Antwort.
Ich lehnte mich wieder an. Steckte den Revolver zurück in die Jackentasche. Spürte seine Wärme.
„Bist du noch da?“ Ich sagte es noch einige Male, während die Zeit ungezählt in der Finsternis verging.

Das ist es, was ich noch weiss. Es ist wenig. Der Revolver liegt neben mir auf dem Tisch. Zwischen der Whiskeyflasche & dem Aschenbecher. Meine Ohren pfeifen ohne Pause. Alle Musik klingt dumpf. Wenn jemand an der Tür klingeln würde – – würde ich es hören? Sicherlich.
Aber es klingelt ja niemand.
Und wenn, hätte ich wahrscheinlich Krebs.
Cut.


Das Alte Luder

Ich habe immer ein bisschen Angst, dass jemand
mir meine Einsamkeit verleiden könnte –
denn eigentlich mag ich die Einsamkeit, dies
Alte Luder, ganz gern.
Ich habe mich an sie gewöhnt, und
allzu hässlich ist sie auch nicht –
sie bedeutet mir Ruhe, Verlässlichkeit,
Gleichförmigkeit (die ich schätze) &
Freiheit.
Ich kann mir das Alte Luder schöndenken,
schönreden, schönschreiben, schönsaufen.
Oftmals.
Ich behaupte es zumindest. Mir gegenüber.
Und ich glaube mir.
Oftmals.
Ich habe auch schon Anderes zu dem Thema
geschrieben – & in 10 Minuten werde ich vielleicht
wieder etwas Anderes darüber schreiben.
Denn vielleicht
wird Diejenige, die mir die Einsamkeit verleiden könnte,
in 5 Minuten aufwachen -; vielleicht aber
will ich dann in 10 Minuten gar nicht mehr schreiben.
Und davor habe ich auch ein bisschen Angst.


Ränder, Löcher & Rahmen

{ Das Schnapsglas hat einen Rand hinterlassen ….
Der Rand hat Form & Größe des Lochs in meiner Socke ….
[ heute noch meine rechte Socke, morgen vielleicht schon meine linke )
Ich besitze einen Bilderrahmen, der dieselbe Größe, die gleiche Form hat ….
( er liegt eingeschweisst & unbenutzt in einer leeren Schublade ]
Ich bin verwirrt …..
ergibt das einen Sinn?
Nein!
Ist es eine Verschwörung?
Vielleicht…..
Kann ich meinen Rand halten?
Nein!
Falle ich aus dem Rahmen?
Nein!
Brauche ich ein Loch?
Vielleicht…..
Ist mir alles egal?
Schon möglich…..
Ich starre auf Ränder, Löcher & Rahmen –
was sehe ich darin – – – ? – :
Nichts
( vielleicht – – – – – ]
Vielleicht auch:
meine Welt }


21.10.2011

Ich komme nicht mehr raus aus diesem Gebäude … Die Tür … sie ist nicht mehr da … Die Fenster … sie sind verschwunden … Es ist fast dunkel … Ein paar nackte Glühbirnen hängen verstaubt auf den Etagen … So viele Stockwerke … Wieviele? Ich habe es vergessen … Die Treppen sind schmutzig, die Stufen ausgetreten … Geländerteile fehlen … So viele Räume … Ich sitze im Erdgeschoss, in einem Zimmer, wo es nur 1 Stuhl & 1 Tisch gibt … Papier & 1 letzter Bleistiftstummel … Es ist völlig sinnlos, etwas zu schreiben – deshalb tue ich es … noch … Überall Dreck … Spinnweben, manche Fäden sind dick wie Seile … Ich weiß, was das bedeutet … Aber ich will es nicht … wahr? haben? … Ich kann mich erinnern, wie es hier früher war … Die offene Tür, die offenen Fenster, Luft, Licht, Leben, Lachen, Lust … Nichts davon ist übriggeblieben … Mir zittern die Hände … Meine Handschrift ist fast unleserlich, na und? Wer sollte sie entziffern wollen? Einer von Denen? … Denen in den oberen Stockwerken? … Manchmal höre ich ihre Geräusche, sie sind noch da … Ich könnte nachschauen, wie sie jetzt aussehen, könnte die Treppen hinaufsteigen … Vielleicht werde ich es tun … Irgendwann … Bald … Vielleicht schon nachher … Vielleicht schon gleich … Ist es Tag? Ist es Nacht? … Egal … Die Vorräte im Keller gehen zu Ende … In Kürze ist ohnehin alles vorbei … Ein paar Flaschen Schnaps sind noch da, billiger Fusel … abgefüllte Betäubung … Es wird schön sein, nicht mehr zu denken … Es wird schön sein, wenn der Bleistift am Ende ist … Wann war ich zuletzt dort oben? … Mein Zeitgefühl sagt irgendwas, aber es wird eine Lüge sein … Ich war dort oben, und wenn ich jemanden sah, habe ich ihn nicht wiedererkannt … Und dabei kannte ich sie doch irgendwann einmal alle … Diese seltsamen Wesen! … Menschen! … Menschen aus der Vergangenheit … Menschen, die wie Spinnen sind … Ich irrte dort oben durch den Staub, durch das Gespinst, und immer wieder sah ich in dem Trüben Licht ihre Hüllen am Boden liegen … Hässlich & vertrocknet & eingefallen … Aber ich erkannte immerhin einige von diesen Überbleibseln … Was aus diesen Hüllen, diesen Hülsen gekrochen war, war dann jedesmal ein wenig verändert, immer noch Mensch, aber schon ein wenig entstellt … Wie werden sie jetzt aussehen? … Nach so vielen weiteren Häutungen … Wieviele Hülsen werden dort wohl herumliegen? … Verdammte Neugier! … Die Neugier des Verdammten … Ob SIE wohl noch dort ist? … Doch, sie muss dort sein … Aber ich würde sie vermutlich nicht wiedererkennen; auch ihre Stimmen verändern sich … Aber SIE würde MICH erkennen! … & vielleicht SICH zu erkennen geben … Aber jede andere könnte das auch … könnte sich für SIE ausgeben … Zumindest am Anfang würde ich es nicht bemerken … & sie stecken doch alle unter einer Decke … Sie werden sich alle Alles erzählt haben im Laufe der Jahre … Alle kennen alle Geschichten aller anderen … (Plötzlicher Gedanke: Was, wenn ich wahnsinnig bin!?! Mir das alles nur einbilde … Aber nein, es ist wie es ist … & es ist wahr!) … „Warum liebst du mich nicht mehr?“ hat sie mal gefragt … & in der Ecke des Schlafzimmers lagen 2 ihrer Hülsen … Dieser Anblick … Ich sagte gar nichts, und sie warf mir mein Schweigen vor … Sie hätte dankbar sein sollen für mein Schweigen … Ich ging, und sie schrie mir irgendwas hinterher … Beinahe wäre ich über ihre Fäden gestolpert … Nur beinah … Egal … Es sind noch ganz andere dort oben … Vergessene sogar … vermute ich … Die würde ich nicht mal wiedererkennen, wenn sie die alten geblieben wären … Manche der Spinnfäden sind so stark – ich könnte mich an ihnen erhängen … Vielleicht sollte ich es tun … Aber nicht, bevor der Schnaps


An der Nadel

Behäbig & feist & alt war sie,
weiß- & langhaarig; und seit ihrer Jugend
steckte das Diabologeschoss eines Luft-
gewehrs direkt neben ihrer Wirbelsäule.
Irgendein Nachbar hatte auf sie geschossen
(wie Nachbarn halt so sind).
Immer wenn sie hörte, dass die
Spritze vorbereitet wurde, beflügelte es
ihre Schritte. Schnell kam sie herbei –
bei Fuß, fast wie ein Hund. Die
Kanülen waren kurz.
Sehr rasch hatte die alte Katze gelernt,
wie gut es ihr nach einer Injektion ging.
Geradezu beschwingt bewegte sie sich
anschließend. Wie ich. Nach einigen
Gläsern Absinth. Das Insulin wirkte schnell.
Jeden Tag. Über viele viele Jahre hinweg.

Und dann kam die Wassersucht; der
hängende Bauch & das Umkippen …..
& die kurze Nadel bewirkte nichts mehr.
Ein Mann mit Ledertasche betrat die Wohnung;
in der Ledertasche eine weitere Spritze.
Die Kanüle, die er aufsteckte, war lang –
sehr sehr lang.
Und ich machte einen Fehler –
: Ich betrachtete das Gesicht der Katze,
als der Mann die lange Nadel direkt
in ihr Herz stieß …….
Für einen Sekundenbruchteil krampfte sich
das Gesicht zusammen, als würde es
nach innen & zur Mitte hin gezogen.
Dann entspannte es sich.

Der Absinth bewirkte nicht viel;
an diesem Tag.

Vielleicht liegt unter der Erde
noch immer das Diabologeschoss –
nach all den Jahren –
irgendwo – ganz einsam
& verlassen. Und
kalt


Das Chaos spritzt Wassertropfen

 „I stepped inside an Avalanche, it covered up my soul…”
 Leonard Cohen

„Hast du gar nicht gehört, wie ich letzte Nacht mein Sterbchen gemacht habe?“ sagte mein Vater.
Er saß lächelnd am Frühstückstisch. Mir gegenüber. Bereit, mich zur Schule zu fahren.
Ich verneinte. Ich hatte fest geschlafen. – Er hatte die halbe Nacht hindurch gekotzt. Irgend etwas. Wahrscheinlich Metastasen. Vielleicht Blut. Die Verniedlichungsform sollte es mir leichter machen.
12 Jahre später betrat ich den Friedhof. Er lag auf einem Hügel. Die Sonne schien. Ich war mir sicher, das Grab auf Anhieb zu finden, obwohl ich zuletzt vor 10 Jahren hier gewesen war. Zielsicher ging ich aufwärtsführende Wege …. Grabsteinlesend …. Im Kopf eine Mundharmonika …. Ein Labyrinth … Der Geruch der verwelkten Blumen erinnerte mich an einen anderen Friedhof. An den Friedhof, wo der Vater meines Vaters begraben war; oft hatte ich meinen Vater dorthin begleitet. Immer kaufte er zunächst einen Strauß Blumen in einem kleinen Laden in der Nähe. Auf dem Friedhof wickelte er ihn aus & warf das zerknüllte Papier in einen der Mülleimer. Die Mülleimer waren voller Blumenleichen & kreisender Fliegen. Ich beobachtete alte Frauen bei der Grabpflege. Kaninchen zwischen den Hecken. War fasziniert von allem. Ich war gerne hier. Mochte die Stimmung, in der mein Vater war …. Ich suchte …. Suchte …. Hatte ähnliche Blumen in der Hand. Sie konnten ihn doch nicht verlegt haben. Der Friedhof war gewachsen in den 10 Jahren. Der Tod hatte sich ausgebreitet. Seit 1 Jahr hatte ich den Führerschein; dies war die erste längere Strecke (knapp 500 km), die ich zurückgelegt hatte. Und nun konnte ich das Grab nicht finden. Der Plan, den die Erinnerung in mir gezeichnet hatte, war nichts als die völlige Verwirrung der Wirklichkeit.
Ich schaute auf die Uhr. Damals trug ich noch eine Uhr. Es wurde Zeit. Ich musste zurück zum Parkplatz. Ging abwärts. Wenigstens den Ausgang fand ich.
Ihr Auto stand neben meinem. Sie stieg aus, als sie mich kommen sah. Im leichten kurzen Sommerkleid. Lächeln spiegelte sich. Umarmung. Küsse. Gerüche. 12 Monate waren vergangen. Zwischen uns. Sie hatte keinen weiten Weg gehabt.
Irgendwann sagte ich:
„Ich hab’s noch nicht gefunden. Ich war mir ganz sicher, wo es sein müsste. Seltsam.“
„Ich weiß, wo es ist“, sagte sie.
„Ein Glück“, sagte ich.
„Ich wollte eigentlich nicht dabei sein, wenn du’s besuchst. Ich mag sowas nicht.“
„Du störst doch nicht.“
„Trotzdem.“
„Komm schon“, sagte ich. –
Hand in Hand. Sie wusste wirklich genau, wo es lang ging. In ihren offenen Schuhen. Das Grab war dort, wo ich es zuletzt vermutet hätte. Ich verfluchte meine Erinnerung. Wir standen stumm davor. Sie etwas abseits. Ich nahm Verwelktes aus der in die Erde eingelassenen Vase & tat meine frischen Blumen hinein.
Ich dachte einen Monolog. […] –
„So. Wir können“, sagte ich.
Auf dem Weg zurück warf ich Papier & Blumen in einen Mülleimer. Alte Frauen waren mit Gießkannen unterwegs.
Wir setzten uns in ihr Auto. Redeten. Küssten. Fühlten. Abendsonne. Auf dem Parkplatz des Friedhofs.
Wir ließen meinen Wagen dort stehen & fuhren in die Stadt. Zur Konzerthalle. Das Konzert war der Vorwand gewesen. Deshalb hatte er sie – allein – fahren lassen; er interessierte sich nicht für Leonard Cohen.
Von oben rechts schauten wir auf die Bühne hinab. – – –
Nach dem Konzert saßen wir in einer Bar & tranken etwas.
„Der ist ganz schön alt geworden“, sagte sie.
„Da hat er ja wohl ein Recht zu“, sagte ich. (Ein seltsamer Satz – finde ich heute. Abgesehen von der miesen Grammatik.)
Es war wenige Monate vor seinem 51. Geburtstag.
Sie sagte: „Was ich nicht verstehe, ist, dass er ‚So long, Marianne’ nicht gesungen hat, obwohl die Leute immer wieder danach gerufen haben.“
„Vielleicht kann er den Song gerade nicht ertragen“, sagte ich; „kann doch vorkommen, wenn man über das eigene Leben schreibt. Wer weiß, was mit der Frau gerade ist….“
„Da ist was dran“, sagte sie.
Der Friedhofsparkplatz lag im Schein einer einzelnen Laterne. Bis auf meinen Wagen war er leer. Die Scheinwerfer ihres Autos kegelten mit Licht. Der Abschied war so grauenvoll wie alle anderen davor & alle anderen, die noch kommen würden. Noch ein Kuss. Noch ein Kuss. Noch ein Kuss.
„Ich muss“, sagte sie.
„Ich weiß“, sagte ich.
500 Kilometer.
Der Friedhof war nun abgeschlossen.
Ich fuhr ihr so lange hinterher, wie es ging … Rote Rückleuchten ……. Bis sich unsere Wege trennten …. Lichthupe zum Abschied …

Sterbchen …. Sterbchen ….
Das Grab meines Vaters existiert nicht mehr. Meine Mutter hat den üblichen Zeitraum von 30 Jahren nicht verlängern lassen.
Mein Großvater hat meinen Vater geschlagen; mein Vater hat uns Brüder geschlagen – & allmählich wird das gleichgültig.
Immer wieder kam er aus dem Krankenhaus nach Hause. Immer wieder wurde er auf der Trage aus dem Haus gebracht, während ich daneben stand, und immer wieder sagte er zu mir:
„Es ist nicht so schlimm.“
Einmal stand er vor mir. Im Bademantel. Mit eingefallenen Wangen. Blaß.
„Wie alt bist du jetzt?“ fragte er.
„12“, sagte ich.
„Hmm. – – 12“, sagte er & schien darüber nachzudenken.
2 Jahre zuvor hatte er eine Pendeluhr gekauft & hier im Flur aufgehängt. Die Pendelbewegung war laut. Und sobald die Uhr nicht absolut waagerecht hing, nur einen halben Milimeter beim Staubwischen bewegt worden war, blieb sie stehen.
Irgendwann hörten wir es nur noch, wenn sie stehengeblieben war.
Früher hatte mein Vater mich manchmal mitgenommen, wenn er seine Freundinnen besuchte. Ich mochte die hübschen jungen Frauen. Und ihre Beine. Von denen man damals nicht viel zu sehen bekam. Und die hübschen jungen Frauen fanden den Knirps niedlich.
Ich saß auf seinem Schoß & er ließ mich an seinem Bier nippen. (Mein Vater trank wenig. Es hatte ihn immer abgeschreckt, wenn sein Vater trank.) Das Bier war bitter & widerlich. Es war in der Kneipe, die einer seiner Freundinnen gehörte. Sie schenkte mir Schokolade.
Manchmal saß ich auch im Auto auf seinem Schoß & durfte das Lenkrad halten. Als hätte ich gewußt, wo’s langgeht.
Wußte er bereits, dass er bald sterben würde, als er sich langgehegte Wünsche erfüllte? Er reiste allein nach Afrika. Er kaufte sich ein Motorrad. Meistens saß ich auf dem Sozius. War Sozius, stolz. Furchtlos. 2 leuchtend-gelbe Helme hintereinander (seiner hatte einen lilanen Streifen in der Mitte).
„Halt dich gut fest“, sagte er.
Je schneller, desto besser.
Ich wurde bevorzugt; das wußte ich.
Und ich erkannte sie wieder; die Freundinnen am Grab meines Vaters. Death of a Ladies´ Man …..
Seine Leidenschaft für Bücher fühlte ich, bevor ich lesen konnte. Und ich konnte lesen, bevor ich in die Schule kam.
Zu zweit machten wir einen Kurztripp nach Belgien. Seebad Knokke. Noch im Dunkeln gingen wir spazieren. Das Meer in der Finsternis; Rauschen & Geruch. Laternen auf der Promenade.
Aus einem dunklen Hauseingang trat eine junge Frau hervor. Sie tippte auf ihr linkes Handgelenk & fragte auf französisch nach der Uhrzeit.
Mein Vater antwortete ihr, und wir gingen weiter.
„Niedlich“, sagte er. –

Keiner meiner Klassenkameraden durfte so lange aufbleiben wie ich. Ich kannte Fernsehserien, die sie nicht kannten: Invasion von der Vega; Nummer 6; High Chaparral; Solo für O.N.C.E.L. – – – Der Schulweg dauerte zu Fuß etwa eine ¾ Stunde; morgens wurden wir mit dem Auto gebracht, mittags aber spazierten wir nach Hause. Und immer mußte ich dabei die einzelnen Folgen der Serien nacherzählen.
Damals gab es noch Sendeschluss & Testbild. Einmal stand mein Vater vor dem Fernseher, als in der Spätausgabe der Tagesschau der Wetterbericht lief; er wartete -; und als die Sprecherin freundlich „Gute Nacht“ gesagt hatte, sagte er „Gute Nacht, Süße, träum was Schönes“ & schaltete den Fernseher aus. Das gefiel mir; ich musste grinsen …

Ich verbrachte viele Stunden im Krankenhaus, als sie auf die Entbindung wartete. Ich liebte sie. Sie, die ich kurz nach dem Tode meines Vaters kennengelernt hatte. Ich erinnere mich genau an dieses Kennenlernen. Ich blätterte durch das Angebot der Poster im Kaufhaus. Blieb hängen an einem Poster von Marilyn Monroe in Netzstrümpfen; betrachtete es lange – mit dem Blick der Pubertät. Und plötzlich standen sie & mein Bruder neben mir. Sie lächelten. Mein Bruder stellte sie mir vor. Ich wurde rot. Wir gaben uns die Hand. Sie war mit ihren 1,60 größer als ich.
Während ich im Krankenhaus an ihrem Bett saß – sie 18, ich 14, und wir redeten & redeten & redeten, wie wir es von Anfang an getan hatten – fickte mein Bruder eine andere.
Ihr erster Krankenhausaufenthalt: Falscher Alarm – mein Neffe wollte noch nicht kommen.

Ich wurde Babysitter. Neffensitter. Liebte seinen Geruch. Er war aus ihr gekommen. Onkel mit 14. Wickeln, baden, füttern. Ich verbrachte mehr Zeit mit ihm als sein Vater es tat. Mein Bruder wollte sich amüsieren; ausgehen. Und sie musste dabeisein. Sie vertraute mir ihren Sohn an. Weil sie alles wusste. Zwischen uns war ewiger Kurzschluss : Kennen, Wissen & Funken.
Einmal, der Kleine schlief bereits, saßen wir zu dritt beim Kartenspiel. Eine Tafel Schokolade zwischen uns. Ich hasse Kartenspiele; hasse Spiele überhaupt – egal. Wir spielten. Aßen Schokolade. Irgendwann nahm sie einen kompletten Riegel, biss davon ein Stück ab & legte den Rest zurück aufs Papier. Ich wartete kurz. Es musste beiläufig wirken. Wie ein Versehen; wie eine Unachtsamkeit. Schließlich nahm ich den Riegel & biss meinerseits ein Stück davon ab.
Sie sagte: „Ich hatte davon abgebissen.“
„Oh“, sagte ich, „jetzt werde ich bestimmt sterben.“
Ich aß den Riegel auf.
Sie grinste.
Mein Bruder grinste.
Und ich spielte schlecht.

Mein Vater erzählte von einer Geschäftsreise. Es war Ende der 60er. 69, glaube ich. Er & seine Kollegen waren eines Abends ins Kino gegangen. Er erzählte von kotzenden Zuschauern. Erzählte von einer Erste-Hilfe-Station im Kino. Erzählte von einem widerlichen Film. Erzählte von seinem Ekel & seinem Unverständnis. In diesem Film, so erzählte er, fraßen Leichen sich gegenseitig auf. Nachts, im Dunkeln, lag ich im Etagenbett unter meinem Bruder & stellte mir alles vor. Ich wollte schreien. Heute weiß ich: es war Night of the living dead.
Kurz vor seinem Tod fuhr mein Vater mich zum Kino; ein kleiner Familienbetrieb, der nicht mehr lange zu leben hatte. Auf dem Weg dorthin überholten wir einen Mofafahrer. Er hatte lange Haare. Mein Vater hasste lange Haare. Ein ständiger Kampf zwischen ihm & seinen Söhnen.
„Der ist bestimmt auch auf dem Weg ins Kino“, sagte er & lachte.
Auch ich musste lachen.
Im Kino lief: Die Nacht der Reitenden Leichen.
Der Film war ab 18 – aber sie ließen mich in alle Filme, nachdem meine Mutter dort einmal telefonisch ihr generelles Einverständnis abgegeben hatte. (1 Jahr zuvor hatte sie mich – auf mein Drängen – in Wie schmeckt das Blut von Dracula begleitet …. Ich spürte ihren prüfenden Blick auf mir, als Christopher Lee auf das goldene Kreuz fiel & seine Augen bluteten…)
Mir verging das Lachen im Angesicht der Reitenden Leichen. Nach den ersten 5 Minuten wollte ich fliehen. Aber ich hielt durch. Und erzählte meinem Vater den Inhalt.
Der Inhalt erinnerte ihn an seine Geschäftsreise.
Kurz nach seinem Tod sah ich zum ersten Mal Mario Bavas ‚I tre volti della paura’; und das entstellte Gesicht der Leiche in der Episode vom ‚Wassertropfen’ (sie dauert nur 20 Minuten) erinnerte mich an das entstellte Gesicht meines Vaters, als ich ihn im Sarg liegen sah. –
Mit 17 endeckte ich in der Schrankwand meiner Mutter zufällig eine Monatsschrift. Blätterte darin. Fand das Foto meines Vaters. Dasselbe Foto, das auf dem Nachttisch meiner Mutter stand. Es war ein Nachruf -:

Zum Tode von Dr. Jürgen L.....
Obgleich man wußte, daß Dr. Jürgen L. seit einigen Monaten schwer
 krank war, traf die Nachricht von seinem Tod am 13. Dezember 1973
 doch völlig unerwartet ein. Wir alle werden Zeit brauchen, um wirklich
 zu begreifen, daß Dr. L. nicht mehr unter uns ist. Das gilt natürlich 
 in erster Linie für die Mitarbeiter des Kölner Büros, dessen 
 wissenschaftlicher Leiter er während der letzten sechs Jahre war, das 
 gilt aber auch für alle anderen, die ihn kannten und mit ihm zu tun 
 hatten.
Jürgen L. wurde 1925 in Rummelsburg in Pommern geboren, er ging
 in Königsberg und Tilsit zur Schule und wurde 1945 zur Wehrmacht
 eingezogen. Nach Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft
 studierte er 1947 bis 1948 an der Bergakademie Clausthal, 1948 bis
 1952 an der Universität Marburg/Lahn Naturwissenschaften mit
 Zoologie als Hauptfach. Er schloß seine Studien 1952 mit der Promotion
 zum Dr. rer. nat. ab. Dr. L. gehörte aber nicht zu denjenigen, die 
 sich im Elfenbeinturm der Wissenschaft abkapseln. Mit dem sicheren 
 Blick für die Bedeutung ökonomischer Zusammenhänge - gerade in der 
 Phase des Wiederaufbaus nach dem verlorenen Krieg - studierte er von 
 1949 bis 1954 außerdem Volks- und Betriebswirtschaft.
Von 1952 bis 1959 war Dr. L. Assistent und zeitweise Lehrbeauftragter
 für vergleichende Physiologie am Zoologischen Institut der Universität
 Marburg/Lahn. In diese Zeit fallen auch seine Veröffentlichungen über
 Tierpsychologie und Tierphysiologie.
Wer die Situation an den Hochschulen der fünfziger Jahre kennt, weiß,
 welch hartes Brot das Assistenten-Dasein damals war. Es bedeutete
 daher einen guten Schritt voran, als Dr. L. am 1. Dezember 1959 als
 wissenschaftlicher Mitarbeiter in die [...] eintrat. Konnte er doch 
 hier sowohl seine naturwissenschaftlichen wie auch seine wirtschafts-
 wissenschaftlichen Kenntnisse sinnvoll einsetzen. Nach der damals
 kurzen Einarbeitungszeit begann Dr. L. 1960 seine Außendienst-
 tätigkeit im Raum Aachen. Aufgrund seiner fundierten Kenntnisse
 und seiner guten Auffassungsgabe wuchs er schnell in seine neue
 Aufgabe hinein. Der Erfolg blieb nicht aus, und mit der Ernennung
 zum wissenschaftlichen Leiter des Kölner Büros am 1. Januar 1968
 wurden Einsatz, Mühe und Erfolg gelohnt.
Aber auch als Büroleiter verstand sich Dr. L. weniger als Chef, 
 als vielmehr als Primus inter pares. Stets hilfsbereit, wenn jemand
 seinen Rat brauchte, stets voller Verständnis für die Anliegen
 seiner Kollegen, gleichwohl mit ernsten Worten nicht sparend,
 wo diese ihm notwendig erschienen, erwarb er sich das Vertrauen
 derer, die mit ihm zusammenarbeiteten.
In Anerkennung seiner Verdienste um die Führung des Kölner
 Büros stand Dr. L. unmittelbar vor seiner Beförderung zum
 Prokuristen. Der Tod ist dem zuvorgekommen. Er hinterläßt
 eine Lücke, die schwer zu schließen sein wird. Noch begreifen
 wir nicht, daß Dr. L. - im Alter von 48 Jahren - von uns gegangen
 ist. Wir wissen nur, daß wir ihn nicht vergessen werden.

Im bewegten Licht des Fernsehers saßen wir uns gegenüber, während mein Bruder in der Badewanne lag. Es war ein Ritual seit langem: die Blicke in die Unendlichkeit. Die unendlichen Blicke. Es war der Jähzorn meines Vaters gewesen, der mich Gegenstände zerbrechen ließ – aus Eifersucht, aus Sehnsucht. Einmal, vor Jahren, hatte sie mich vorsichtig umarmt. Und gesagt: „Du bist zu jung.“
Jetzt ……
umarmten wir uns wieder. Ich ließ sie nicht los. Sie ließ mich nicht los. Ihr rechtes Ohr an meiner Nase, ihr Haar an meiner Nase, Wange an Wange, streichend ….. bis der –
(ich hatte geträumt von ihm, immer und immer wieder)
KUSS
geschah – –
zunächst traf meine Zungenspitze auf Lippen
dann auf Zähne
& endlich
auf ihre
Zunge – – – – – –
„Das darf er niemals erfahren“, atmete sie warm in mein Gesicht. – –
Es dauerte vielleicht 10 Minuten, bis er es erfuhr. – Da wir nicht aufhören konnten, uns zu küssen.
In der Schwangerschaft hatte sie sich oftmals auf meinen Arm gestützt. Hatte gesagt: „Ich fühle mich schwach…..“ (Später lächelte sie, als sie sagte: „Alles Quatsch! Ich wollte Dich fühlen.…“)

Mein Bruder packte mich am Genick. Ganz sanft. Als ich 6 oder 7 war. Wenn er mich über die Straße führte. Durch die Gefahr der Autos. Ich liebte seine Hand in meinem Nacken. Er war mein Vorleser, als ich noch nicht lesen konnte. Und er las aus 1001 Nacht.
Und als mein Neffe 6 oder 7 war, las ich ihm vor. Aus Alice im Wunderland & Alice hinter den Spiegeln. – Und wenn er das Frühstücksei im Becher sah, sagte er: „Das ist der Goggelmoggel; denn so war Humpty-Dumpty ins Deutsche übersetzt worden.

Wenn ich erkältet war & meine Mutter meinen Rücken mit Wick-Vaporub einrieb, war es wie Sandpapier auf meinem Rücken; denn ihre Hände waren rauh. Wenn mein Vater es tat, war es weich & angenehm. Meine Mutter schlug nie, ihr Streicheln war hart; mein Vater schlug oft, sein Streicheln war zart.
Solange er im Außendienst tätig gewesen war & sich die Arbeit selber hatte einteilen können, war er Mittags immer nach Hause gekommen; und nach dem Essen legte er sich für eine Weile ins Bett, um zu lesen. Niemals, auch später nicht, sah ich ihn außerhalb des Bettes ein Buch lesen, egal zu welcher Tageszeit; und so verbrachte er oftmals das komplette Wochenende im Bett.

Sie bemühte sich, leiser zu stöhnen als sonst. Sie wußte, dass ich im Nebenzimmer saß. Immerhin, sie bemühte sich. Ich mußte ihnen zuhören, er hörte uns nie zu. Ich saß einfach nur da. Das Auf- & Ablaufen hatte ich längst hinter mir. Irgendwann war es vorbei. Ich sah, wie sie nackt aus dem Schlafzimmer kam & ins Bad ging. Ihre Zigaretten lagen auf dem Tisch vor mir. Schließlich kam sie aus dem Bad, um sie sich zu holen. Ihr Blick sagte mir: Du hast kein Recht sauer zu sein. Nur ein kurzer Blick. Ich folgte jeder ihrer Bewegungen. Sie gab mir einen sehr flüchtigen Kuss, und ich beobachtete ihren Hintern, als sie ins Schlafzimmer zurück ging. – –
Wir lagen im Bett. Das Fenster war weit geöffnet, die Sonne schien. Wir lachten & überhörten zunächst das Telefon. Dann hörten wir es. Sie beeilte sich ranzugehen. Natürlich. Er war’s. Kontrollanruf. Hatte er gestoppt, wie lange es dauerte, bis sie sich meldete? Knappe Belanglosigkeiten wurden ausgetauscht, dann kam sie zurück ins Bett. Nichts in meinem Leben roch so gut wie sie. Nach höchstens einer ¼ Stunde hörten wir einen überdrehten Motor, quietschende Reifen, dann einen Aufprall. Sie sprang aus dem Bett & lief ins Bad. Ich war wie gelähmt, blieb einfach liegen. Hörte Schritte, hörte Klopfen, hörte Wut. Dann stand er an meinem Bett. „Du kannst deine Koffer packen.“ So jähzornig er war, niemals hätte er mich geschlagen. Zuviele Jahre, zuviele Erinnerungen, zuviel gemeinsame Kindheit.
– – Jahre zuvor:
Immer hatten sie Streit deswegen. Sie wollte nicht anziehen, was er ihr kaufte. Alles was er kaufte, sagte: Seht her, meine Frau (und nur ich darf sie ficken)! – Er setzte sich immer wieder durch. Sie gingen Billard spielen, und sie trug den kürzesten Minirock & einen durchsichtigen Slip. Wenn sie sich über den Tisch beugte ….. Ich sah die Blicke der Typen ringsum. Außerdem liebte mein Bruder durchsichtige Blusen. Durchsichtige Blusen waren sein Fetisch; ohne etwas darunter; natürlich. Er wollte ihre Titten zeigen. –
Ich durfte bei ihnen einziehen, dafür musste ich im Gegenzug meinen Schulabschluss nachholen. Meinen 16. Geburtstag hatte ich in einer geschlossenen Abteilung verbracht, weil unsere Mutter sich nicht mehr anders zu helfen wußte; er wollte mir etwas Gutes tun. Wie oft waren wir Verbündete gewesen! Gegen den Vater, gegen die Welt. (Außerdem war es praktisch für ihn, stets einen Babysitter parat zu haben.)
Zunächst trug sie noch ein Höschen in der Wohnung ……
Eines Tages, als sie wieder so herumlief, wir 3 waren in ziemlich alberner Stimmung & der Kleine bei seiner Großmutter zu Besuch, packte mein Bruder sie am Handgelenk. Er legte sie übers Knie, zog ihr den Slip herunter & versohlte ihren nackten Arsch. Sie lachte. Das Klatschen; das Lachen; der Anblick – ich saß genau richtig, ihre Beine in meiner Richtung. Der Slip hing an ihren Oberschenkeln. Sie versuchte, ihn wieder hochzuziehen. Der Stoff riss. Als mein Bruder sie loslies, stand sie auf & zog den Fetzen hoch. Der Riss war hinten, sie hielt ihn irgendwie zusammen & verschwand kurz in Richtung Schlafzimmer. Als sie zurückkam, trug sie noch immer diesen Slip. Vorn war er intakt. Sie grinste. Machte:
„Ta Daaaa!“ & drehte sich herum. Sie hatte durch Schnitte & Knoten ein kunstvolles Guckloch geschaffen; die Arschritze verlief exakt durch dessen Mitte. Cut up. Es hatte etwas Unschuldiges. Niedlich, fühlte ich.
Ab diesem Tag machte es ihr nichts mehr aus, in meiner Gegenwart nackt herumzulaufen. Das dunkle schöne Kräuselhaar; die kleine weiße Reißleine einmal im Monat.

Ich schlief in meinem schmalen Bett, das ins Zimmer meines Neffen gestellt worden war. Sie schlief nebenan im Ehebett. Allein. Ich erwachte. Ich stand auf. Ihre Tür stand offen. Sie nur im Schlaf zu beobachten……..
Irgendwann saß ich auf dem Bett & schnupperte an ihren Haaren. Begann sie zu streicheln. Traute mich zunächst kaum, die Decke zu bewegen. Zentimeter. Für. Zentimeter. Das erste Mal, dass ich einen Hintern küsste.
Und es dauerte lange – – bis sie mir sagte, dass sie nicht geschlafen hatte.

Man muss nicht schwimmen können, um das Meer zu lieben. Im Ruderboot, meinem Vater gegenüber. Geblendet von Sonnenblitzen auf der Wasseroberfläche. Das Geräusch der Ruderblätter …. Der Geruch nach Salz & Algen …. Mein Bruder paddelte in einiger Entfernung neben uns her; in einem kleinen roten Schlauchboot. Im Gegensatz zu mir konnte er schwimmen. Ich hatte einen gelben Eimer dabei, dessen Boden aus Plexiglas bestand; manchmal, wenn ich ihn während einer Ruderpause, ins Wasser drückte, konnte ich durch den Boden einen Fisch sehen.

Die Erinnerung ist kein ruhiger Fluss. Keine Ordnung von Tropfen. Kein 1 nach dem andern. Irgend etwas peitscht die ruhende Oberfläche, und das Chaos spritzt. Spritzt ungeordnet – wie die Verwirrung der Wirklichkeit.

„Ich liebe dich“, sagte ihre alte Stimme. Zum ersten Mal. Glaube ich.
„Ich weiß“, sagte ich. Mehr war nicht drin. Es war ein 2-Bett-Zimmer; im Nebenbett lag eine andere alte Frau & lauschte.
Über ihrem durchscheinenden Totenkopf trug meine Mutter die Parkinson-Maske. Wenn ich zitterte, hatte das andere Gründe. Abgründe.
Ich beugte mich zu ihr hinunter, um mich zu verabschieden.
Nichts wie raus. – 4 Stunden hatte es gedauert, bis sie endlich ein Bett zugewiesen bekommen hatte. Immer wieder hatte sie gesagt: „Fahr doch nach Hause. Du musst nicht die ganze Zeit über warten.“
Verdammte Krankenhäuser! – Es gab nur eine Zeit in meinem Leben, wo ich gerne ins Krankenhaus ging; es kaum erwarten konnte. Und es war eine schwere Geburt gewesen; damals. Ihr Damm musste genäht werden. Und der Arzt sagte zu ihr: „Ich werde das so machen, dass sie künftig viel Spaß haben werden.“ Und wir hatten viel Spaß.

Als er die Gelegenheit bekam, sich zu rächen, tat er es. Sie arbeitete nachts, schlief tagsüber, und er war für den Einkauf zuständig. Sie frühstückten außer Haus, und mit den anderen Mahlzeiten verhielt es sich ebenso. Das Söhnchen nahmen sie mit. Ich blieb allein. Er schaffte es, jeglichen Kontakt zwischen ihr & mir zu unterbinden. Das war leicht, da es ihm reichte, dass sie arbeitete. Er tat nichts, außer sie zu kontrollieren. Sie hatte keine Ahnung, dass es im ganzen Haus nichts zu essen gab. Und ich hatte kein Geld. Nichts. Manchmal legte er mir 5 oder 6 Zigaretten auf den Küchentisch. Das war alles. Immerhin.
Ich trank also Leitungswasser, und aß ein paar Löffel Zucker am Tag. Meine Gedanken kreisten nur noch ums Essen. Stundenlang lief ich draußen herum. Mit gesenktem Blick. Die Bürgersteige absuchend. Irgend jemand musste doch mal etwas verlieren. Ein paar verdammte Münzen. Eine Münze. – In der ganzen Zeit fand ich absolut nichts. Schnorren kam nicht in Frage. Ich versuchte, so viel zu schlafen wie möglich. Aber ich wachte immer wieder auf. Von dieser Faust im Bauch.
Sie arbeitete nachts. Hinter der Theke. Neben der Theke gab es eine Leinwand, auf der Pornofilme liefen. Er saß die ganze Nacht an der Theke, und kontrollierte sie. Genoß die Blicke der anderen Männer. Sie trug ein durchsichtiges Oberteil, nichts drunter. Und Hotpants. Die schönsten Beine in dem ganzen Laden. Und die einzigen, die nicht angefaßt werden durften. Blicke. Nichts als Blicke. Blicke für sein Selbstbewußtsein.
Sein Bett & mein Kinderbett standen Kopf an Kopf. Spät abends bauten wir dort aus unseren Decken eine Höhle, und beim Licht der Taschenlampe las er mir vor. Nie wollte ich einschlafen. Immer nur zuhören…..
Aber irgendwann schlief ich.

„Sein Schwanz ist größer als deiner“, sagte sie. Sie sagte es so wissenschaftlich, dass ich lächeln musste. Unter der Decke. Wo es ihretwegen so gut roch. Sie gab mir etwas, was er nicht bekam. (Wenn er mich provozierte, sagte ich in Gedanken zu ihm: „Hey, weißt du eigentlich, dass sie bläst & schluckt?“ – Sie hatte es nicht gemocht. Leckte ein bisschen, nahm in nicht in den Mund. Sie hatte mir erzählt, dass sie einmal dabei einen winzigen Spritzer von ihm auf die Wange bekommen hatte; hysterisch war sie ins Bad gelaufen.) Da war also etwas, das nur wir hatten. „Nur bei dir“, sagte sie…. Beim ersten Mal war sie noch aus dem Bett gesprungen, rüber zum Tisch, wo eine Flasche Jim Beam stand, und hatte einen kräftigen Schluck direkt aus der Flasche genommen. Dann hatte sie gelacht. –
Das Geld war knapp, da nur sie arbeitete. Es lief etwa ein Jahr lang nach demselben Muster ab. Er hörte auf, die Miete zu zahlen. Das bedeutete praktisch einige Monate gratis wohnen, bevor wir rausgeschmissen wurden. Dann mietete er etwas Neues. Immer waren es schöne, große Häuser. Wenn sich einer aufs Blenden verstand, dann er. Viele Umzüge. Schließlich packten wir nur noch das Nötigste aus. –
Er saß im Knast, als der Vater starb. Betrügereien. Die versammelte Familie hatte sein Foto bei Aktenzeichen XY gesehen. „Der Täter ist bewaffnet“, hatte es geheißen. Es gab nur 3 Fernsehsender, und am Tag darauf hörte ich in der Schule immer wieder den Satz „Du kannst ja nichts für deinen Bruder.“
Er wurde vorzeitig entlassen, um an der Beerdigung teilnehmen zu können. – –
Er hatte eingekauft. Endlich. Es war ein kleiner Karton, der auf dem Küchentisch stand. Ich packte ihn langsam, langsam aus. Damit es länger dauerte ihn auszupacken. Um mich darüber hinwegzutäuschen, dass nicht viel darin war. Ich wußte nicht, wie lange ich damit würde auskommen müssen. Als erstes schob ich eine Minipizza in den Ofen. Kaum größer als eine Untertasse. Ich wußte, ich würde sie sehr, sehr langsam essen. Sie würde kalt sein, bis ich zum letzten Bissen gelangte.
Der Geruch war der zweitbeste meines Lebens.

Mein Vater aß Muscheln. Mein Vater aß Krabben. Mein Vater aß alles, was unter Wasser lebte & über Wasser starb. – Ich war fasziniert davon, aber niemals hätte ich es über mich gebracht, etwas davon zu probieren. – Erst Jahre später, als ich Hemingway las, bekam ich durch dessen Beschreibungen solchen Appetit auf alles Fischige, dass ich es einfach probieren musste. Und es wurde Liebe daraus.

Immer wenn ich 20 Minuten zur Verfügung hatte – oder mich langweilte – sah ich mir ‚La Goccia D’Acqua’ an.

Er packte sie am Handgelenk & zog sie hinter sich her. Sie war nackt. Es war spätabends, düster im Haus, wenige Lampen waren eingeschaltet. Nur ihre langen blonden Haare leuchteten.
„Lass sie doch in Ruhe“, sagte ich. Beschwörend.
Er sah mich kurz an. Seine Stimme, ruhig & bedrohlich, sagte:
„Du bist ganz still.“
Dann ging er mit ihr die Treppe runter, ich hörte ihre nackten Füße auf den Stufen.
„Was soll der Scheiß“, sagte sie. Aufgeregt. „Laß mich was anziehen. Bitte. Schatz.“
Unten wurde die Terrassentür aufgezogen. Ich lief nackt an mein Fenster, öffnete es in die Dunkelheit. Die Außenbeleuchtung ging an. Ich sah, wie er sie zum Auto zerrte … hinein zwang … hörte Drohungen … er stieg ein … der Motor heulte auf … die Scheinwerfer wurden aufgeblendet … rückwärts raste er die Auffahrt hinunter … unten quietschte es, der Wagen machte eine Vierteldrehung … dann Kickdown (es war ein Camaro Automatik mit ich weiß nicht wieviel PS, mit einer Beschleunigung, die man in den Eingeweiden spürte) … ich sah die Rückleuchten …
Ich zog eine Hose an & setzte mich auf das Fensterbrett. Adrenalin überall. Die Ortschaft war nicht groß, ich hörte Aufheulen, Quietschen, Aufheulen, Quietschen. In der Nähe. In der Ferne. Wieder in der Nähe. Das Autorennen eines Wahnsinnigen. Alle mußten es hören. Es schien keine anderen Geräusche zu geben. Ab & zu sah ich die Scheinwerfer & Rückleuchten in der Ferne, auf höher gelegenen Straßen.
Ich wartete. Es war warm. Meinem Fenster direkt gegenüber war das Fenster eines Klassenkameraden; in der Schule saßen wir nebeneinander. Er machte manchmal Andeutungen, aber wenn ich nachhakte, tat er immer so, als wisse er nicht, wovon ich sprach. Sein Fenster war dunkel. – Vorsichtig waren sie & ich nur meinem Bruder gegenüber, wir versuchten es zumindest. Der Rest der Welt war uns scheißegal. Sollten alle sehen, hören, denken, was sie wollten.
Irgendwann wurde es leiser draußen.
Und irgendwann bewegten sich die abgeblendeten Scheinwerfer wieder auf die Auffahrt zu. Ich schloß das Fenster, blieb dahinter stehen. Sie stieg als erste aus. Nackt ging sie auf das Haus zu. Zitternd. Er schloß den Wagen ab & folgte ihr.
Die Terrassentür wurde zugezogen, die Außenbeleuchtung ging aus, ich hörte, wie sie die Treppe hochkamen. Wie sie wortlos im Schlafzimmer verschwanden.
Ich war knapp 17, er 27.
Sie war 21. – –
Am nächsten Tag starb Elvis.
Mein Bruder sagte zu mir: „Wir unterhalten uns jetzt mal.“
Wir gingen ins Wohnzimmer & setzten uns. Sie war noch oben. Ich wartete. Ich war gespannt.
Er fing an. „Also, du weißt ja, dass es in unserer Familie sowas noch nie gab. Eine Frau & 2 Männer. Bei uns hat der Mann eher mehrere Frauen.“
Ich grinste. Wahrscheinlich grinste ich blöd. Dachte nur: Scheiße, wie ich dieses Klischee hasse!
„Wir haben uns letzte Nacht unterhalten“, sagte er. „Kurz & gut, wir werden es mal versuchen.“
Ich sagte nichts; machte aus meinem Gesicht ein Fragezeichen.
„Tagsüber, wenn ich nicht da bin, hast du sie, und abends, wenn ich nach Hause komme, hab ich sie. So einfach ist das. Ok?“
Verwirrter hätte mein „Sicher“ nicht klingen können. Er, der Eifersüchtigste der Eifersüchtigen …. Was sollte das?
Schließlich kam sie ins Zimmer.
„Und?“ sagte sie. „Alles geklärt?“
„Alles geklärt“, sagte er.
Sie lächelte.
Wir frühstückten.
Dann verließ ich das Haus wie immer. Aber ich ließ die Schule sausen. Ich wartete im Verborgenen, bis mein Bruder zu Arbeit fuhr. Dann ging ich zurück.
„Das war klar“, sagte sie strahlend, als ich zur Tür herein kam.
Ein langer Kuss.
„Was war das denn jetzt?“ sagte ich schließlich. „Was ist passiert, wie kann das sein?“
„Ich bin mir auch nicht sicher, was er vorhat“, sagte sie. „Aber vielleicht ist es ja wirklich sowas wie schlechtes Gewissen.“
Sie erzählte. Sie waren auf die Böschung bei der Eisenbahnbrücke zugerast. „DAS WAR’S!“ schrie er. „ICH KILL UNS BEIDE!“ Der Abhang kam immer näher, im Fernlicht. Der Motor so laut. Sie, nackt in den Sitz gepresst …. Erst im allerletzten Moment fing er den Wagen ab, rutschend, kreischend, ausbrechend. Es war Millimeterarbeit. Er hielt an. Legte die Hände um ihren Hals. „Wenn ihr noch einmal … NOCH EINMAL …..“
Man konnte nichts erkennen an ihrem Hals.
„In der Nacht haben wir dann lange geredet“, sagte sie. „Tja, und das Ergebnis siehst du.“
Wir gingen in mein Bett. Unser Bett.Wir jagten uns nackt durch das Haus, vor offenen Fenstern. Liefen nackt in den Garten. Wir gingen zusammen in die Badewanne. Wir gingen wieder ins Bett. Aßen im Bett, tranken im Bett. Wir mussten es nicht neu beziehen; oder Handtücher unterlegen. Ich liebte die Flecken auf dem Laken. Wir sahen im Bett Dokumentationen über Elvis. –
Was für Tage! Es war unglaublich. Morgens gab sie mir vor seinen Augen einen Begrüßungskuss. Alles leuchtete. Selbst die Schule leuchtete. Wenn ich mal hinging. Mein Kumpel deutete an, ich fragte nach, er grinste nur. Mir gefiel das. Der Weg nach Hause leuchtete am meisten. Es kann in jenen Tagen keine Wolken gegeben haben. Immer lief sie auf mich zu. Immer zogen wir uns sofort aus.
Abends saßen wir zu dritt vorm Fernseher, oder wir spielten mal wieder Karten. Dann war nur noch sie nackt. Wir lachten. Er begrabbelte sie ab & zu. Ich lachte trotzdem.
Wenn ich sie nachts stöhnen hörte, lachte ich nicht mehr. Aber noch schlimmer war es, wenn ich es morgens hörte. Es war, als wollte er sie, bevor er das Haus verließ, noch mal ordentlich durchficken, damit ich weniger von ihr hatte. So dachte er, ich war mir sicher. Eine Rechnung, die nicht aufging.
Nach ungefähr einer Woche war es vorbei. Er nahm sie einfach mit. Kein tagsüber hast du sie mehr. Sie war tagsüber nicht mehr zu Hause. Abends verschwanden sie sofort im Schlafzimmer; ich hatte keine Gelegenheit, mit ihr zu sprechen. An diesen Tagen ging ich durch die Zimmer. Ich drehte die Musik auf. Unsere Musik. Musik, die mich noch weiter runterzog. Leonard Cohen. Ich setzte mich ins offene Fenster. Hin & wieder wechselten mein Kumpel & ich einige Worte von Fenster zu Fenster, aber er wußte, wie ich drauf war, und ließ mich in Ruhe, als er merkte, dass ich nicht reden wollte. Ich versuchte zu lesen, dort auf dem Fensterbrett. Es war mein Lieblingsplatz, wenn sie nicht da war. Wenn es Dunkel wurde, blieb ich dort sitzen, machte kein Licht, überblickte den Ort & wartete auf das vertraute Motorengeräusch. –
An einem dieser Abende hielt der Camaro, und auf der Beifahrerseite stieg eine Frau mit dunkler Kurzhaarfrisur aus.
Ich wußte, dass sie es war. Und ich wußte, es war vorbei.
Sie kamen ins Haus, sie gingen ins Bad.
Ich klopfte an die Badezimmertür.
„Ja?“ sagte mein Bruder.
Ich öffnete die Tür, beachtete ihn nicht, sagte zu ihr (meingott, wie sieht sie aus!):
„Kommst du mal, ich muss mit dir sprechen.“ Ich machte sofort kehrt, ohne auf Antwort zu warten. Ging in mein Zimmer, setzte mich aufs Bett.
„Ich erklär’s ihm nur“, hörte ich sie sagen.
Sie kam herein, setzte sich neben mich.
„Bitte nicht“, sagte ich & fing sofort an zu heulen. Zitterte.
Sie weinte. „Ich kann nicht mehr“, sagte sie, „es hat keinen Sinn. Das mußt du verstehen.“
Irgendwelche Sätze folgten. Alles verschwamm.
Er rief nach ihr. Mit bestimmtem Ton.
Sie ging ………….
Die Tage wurden trübe. Viele Tage. Eine Woche : das sind viele Tage. Eine Woche, in der ich wie im Nebel ging.
Für meinen Bruder war die Sache geklärt. Aus der Welt. Aus seiner Welt. Alles normalisierte sich wieder.
An dem ersten Tag, an dem er wieder alleine zur Arbeit fuhr, stand sie plötzlich hinter mir. Sie nahm mich in den Arm, ich drehte mich herum. Ein Kuss. Ein Kuss. Ein Kuss.
„Es tut mir leid“, sagte sie.
Wir gingen ins Bett. Mit Angst. Angst, die stark war. Aber nicht stark genug.
Wie seltsam war es, diese dunkle Männerfrisur zwischen meinen Beinen zu sehen. Wie seltsam, in dieses Haar zu fassen, während der Kopf sich auf & ab bewegte. Und ich das Schlucken hörte.

„Möchtest du reiten?“ fragte meine Mutter.
„Oh ja“, sagte ich.
Es war ihr 2. Kuraufenthalt auf Norderney. Nun war ihr Mann eine Leiche, und ich wollte reiten.
Das Pferd erschien mir riesig. Ich fühlte mich so klein. Es nickte mit dem Kopf, als ich neben ihm stand. Ich streichelte – vorsichtig – seine Blässe.
Der Typ, der dieses Touristengeschäft betrieb, sagte:
„Es scheint dich zu mögen.“
Das gefiel mir; ich musste grinsen. – Er hob mich hinauf.
Ich ritt im Kreis. In einer Gruppe. Ab & zu gab es eine Diagonale. Ich federte. Wie man es mir erklärt hatte.
Ausblick von oben.
Leichter Trab. Mehr war es nicht.
Aber Leichter Trab erschien mir schnell. –
Meine Mutter hatte ein kleines Appartment gemietet. Als wir Abends zurückkehrten & das Licht einschalteten, wurden die Kakerlaken hysterisch; sie versteckten sich …. unter den Fußleisten …. hinter dem Herd …. hinter Schränken; eine, auf der Suche nach einem Versteck, lief über meinen Schuh – ich unterdrückte einen Schrei.
Es gab einen Kühlschrank voller Minibarfläschchen. Ich roch am Whisky. Trank ihn. Fand ihn eklig. Ahnte, dass ich ihn – irgendwann – lieben würde. Und alle seine Brüder & Schwestern. Und Schwägerinnen.
Ab & zu gingen wir kegeln.
Es war das Jahr, als ABBA den Grand Prix gewannen. Wir sahen es hier, in diesem Apartment. Und die beiden Mädels machten mich geil.
Aber dazu gehörte nicht viel.

Mein Vater konnte seine Schwiegereltern nicht leiden. Die genauen Gründe erfuhr ich nie. Aber mein Großvater war ein überzeugter Nazi gewesen, und schon das allein mußte meinen Vater abstoßen.
Sie waren sehr einfache Leute. Lasen keine Bücher. Mein Großvater roch nach filterlosen Ägyptischen Zigaretten & billigen Zigarren. Ich liebte diesen Geruch & seinen Humor. In einer alten Zigarrenkiste bewarte er seine Nazi-Memorabilien auf.
Seine ersten Lebensjahre verbrachte mein Bruder dort bei den Großeltern. Denn er war in die Lebensplanung meiner Eltern geplatzt. Ein Kondom war geplatzt. Es war kein Platz für ihn. Damals.

Charles Bronson. Lässig. Der öde weite Platz aus Sand. Die Sonne. Die hellen Klamotten, die er trägt. Die Bewegung der Kamera. Aufbau der Spannung. Morricone … Morricone … Morricone ….. Die erschreckende E-Gitarre, als Henry Fonda seitlich ins Bild kommt. Schwarz gekleidet, angespannt. Blicke in Techniscope.
Mein Vater lag auf dem Sofa. Schaute TV: Kennen Sie Kino? Sah diesen Ausschnitt. Er kannte den Tod aus der Nähe. Aber er kannte ‚Spiel mir das Lied vom Tod’ nicht. Meine Mutter & ich hatten den Film gemeinsam im Kino gesehen.
„Na“, sagte mein Vater, „sieht so aus, als müsste Henry Fonda gewinnen. Bronson ist zu lässig.“
„Und hat zu lange Haare“, sagte ich.
Mein Vater lächelte.
Meine Mutter sagte: „Das verraten wir dir nicht. – Schließlich musst du den Film unbedingt noch selber sehen.“
Wenige Wochen später war mein Vater tot. Er starb in dem Glauben, dass Henry Fonda gesiegt habe.

Ich griff nach der kleinen Reißleine. Zog langsam den Tampon heraus. Weiches Gleiten. Es war nicht allzu viel Blut daran. Ich legte ihn auf das Silberpapier, das von der Tafel Schokolade übriggeblieben war, die wir zuvor gegessen hatten. Schob das ganze unters Bett.
Sie lächelte. „Ich hoffe, du weißt was du tust.“
„Ich weiß nie, was ich tue“, sagte ich.
Ich fing an, sie zu lecken. Im alten Ehebett meiner Eltern. In dem manchmal auch eine Freundin meines Vaters mit-übernachtet hatte. In dem mein Vater so viele Bücher gelesen hatte.
Dies Schlafzimmer befand sich im Keller. Direkt unter dem Schlafzimmer meiner Mutter. Die nun ein Einzelbett hatte. Freud persönlich hätte es nicht treffender arrangieren können. Wir konnten ihre Schritte hören. Über uns. Sie hörte unsere Stimmen. Unter sich. Hörte das Stöhnen.
Der Kleine schlief ebenfalls oben – in dem Zimmer, das meines gewesen war. In meinem alten Bett.
Mein Bruder tröstete sich mit anderen Frauen. 500 Kilometer weit weg.
Meine Zungenspitze an ihrem Kitzler …… Heftiges Atmen …… Ihre Finger in meinen Haaren …… Dann: 69 … sie oben …… Meine Hände auf ihren Arschbacken …. Mein Schwanz in ihrem Mund ….. Keine Angst, keine Angst ….. Keine Furcht, erwischt zu werden, keine abgelenkte Aufmerksamkeit, kein Lauschen auf den Schlüssel, der ins Schloss fährt, kein Erschrecken, kein Aufspringen, keine gestammelten Erklärungen …… Ekstase … Fick … Rücksichtslosigkeit … Entspannung …… Spritzen …. (‚Kleiner Tod’ ? = ‚Sterbchen’ ?) ……
& da war nur wenig Blut an meinem Schwanz.
Und es war besser als Karten spielen.

Einige Spinnen & Asseln im Keller sind meine Gesellschaft. Die Pendeluhr habe ich angehalten; denn irgendwann, ganz plötzlich, nach Jahrzehnten, nahm ich sie wieder wahr – & sie schien immer lauter zu werden; so sehr, dass ich es nicht mehr ertragen konnte.
Das Kellerzimmer mit dem Ehebett meiner Eltern ist voll von Gerümpel. Alles Unliebsame habe ich dort einfach hineingeschmissen; auf das Bett, unter das Bett, neben das Bett. In einer Ecke schimmelt die Wand.
Die Geister sind ausgetrieben. Gründlich.
Das ehemalige Schlafzimmer meiner Mutter wird bevölkert von Schaufensterpuppen; meine (kleine) Hommage an Mario Bava. Bunte Lichter. Eine Matratze auf dem Fußboden. Für gelegentlichen anonymen Sex. Für alles, was nicht in meinem Bett stattfinden soll. Und letztlich nichts bringt.
Ein weiteres Zimmer im Keller ist vollgestopft mit den alten wissenschaftlichen Büchern meines Vaters. Nur in diesem Zimmer rauche ich. Die ursprünglich weißen Tapeten sind fast schon braun. Braun wie die Zigarrenkisten meines Großvaters. Die Bücher riechen nach Zigarrenqualm. Nach Staub. Ihr Inhalt ist zum Teil längst überholt; wissenschaftlich eindeutig falsch. Worte aus Schall & Rauch. Es fasziniert mich, diese falschen Fakten (die keine sind) zu lesen. Aus einer Zeit, als man glaubte, die Wahrheit gefunden zu haben.
Der Tod hatte meiner Mutter die Maske der Krankheit abgenommen. Es war seltsam. In ihren letzten Lebensjahren war sie zur Gestalt aus einem Horrorfilm geworden; sie ähnelte der Leiche aus ‚Die 3 Gesichter der Furcht’ oder einer Ägyptischen Mumie noch weitaus mehr, als mein toter Vater es getan hatte (Schmieren sich Bestatter Wick Vaporub unter die Nase?). – Und dann, als ich ihre Leiche im Krankenhausbett sah, war ihr Gesicht entspannt. Fast sah sie aus wie früher … sehr viel früher ….. Ich beugte mich zu ihr hinunter, um mich zu verabschieden.
„Es tut mir leid“, flüsterte ich.
Sterbchen …. Sterbchen ….
Bei ihrer Beerdigung sahen wir uns alle – nach vielen Jahren – wieder. Leuchtend gelb: die Sonne. Mein Neffe: größer als ich. Mein Bruder: grau. Sie: immer noch älter als ich („Du bist zu jung…“); und einmal wurde sie rot wie die kegelförmige Urne meiner Mutter; ansonsten: Blässe. Wie lange dauerte die Beerdigung? – – : 20 Minuten?
Der Vorname meiner Mutter beginnt mit M, aber er lautet nicht Marianne.
Ich bin ein paar Monate älter als Leonard Cohen damals. Damals – seems so long ago.
Die Minibar wurde zur Riesenbar.
Ich bin ganz schön alt geworden.
Aber – – – da hab ich ja wohl ein Recht zu. – –
Und Henry Fonda landete im Staub.

…………………†……………………….†………………………..†………………..

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Die Suche

Verbrannte Straßenkarten
Zertrümmerte Wegweiser
Verstummte Navigationssysteme

Verlorene Orientierung
Verlorene Richtung

Alles sieht
gleich aus …..

Wo bin ich?

Und wo bin ich
zu finden?

Und wie finde ich mich –

gut?

Suchende Blicke in die
Entfernung – – –

in die Ferne – – – –

in ferne Zeiten – – – – –

Blicke durch ein Fernglas
gefüllt mit hochprozentiger
Leere

Suche Suche
Sucht

Noch ein Glas!

Und vielleicht werde ich mich finden

Und vielleicht werde ich mich gut finden

nach dem nächsten

oder übernächsten

oder

oder


Der Aal in der Zeitung

Ich kaufte mir einen Aal. Der Aal war tot. Das passte gut, denn ich wollte ihn essen. Eine spontane Entscheidung. Der Tag war dunkel. Der Tequila der Nacht saß mir noch in den Knochen, und da war diese rollende Fischbude an diesem Ort, wo sie noch nie gewesen war. Ich ging vorüber, und der Geruch erinnerte mich an andere Zeiten. Also kehrte ich um.
Der Fischhändler hatte etwas Seltsames an sich. Von einem Fischhändler erwartet man, dass er leutselig sei, laut, verbindlich & lustig; dieser war wortkarg, leise & grimmig. Ein dunkler Blick unter dicken schwarzen Augenbrauen. Eine tiefe Stimme, die aus einem verfilzten Vollbart kam. Auch der Aal hatte einen Blick; er war klar. Eine Stimme hatte er nicht. Der Händler teilte den Fisch in 2 Hälften & wickelte sie in Zeitungspapier. Ich wollte nicht wissen, wie es im Innern der Bude aussah, war froh, dass mir der Fußboden verborgen blieb.
Ich sah einen Spiegel, der mir sinnlos erschien. Ich zahlte; der Fisch siffte durch die Zeitung. Aber nur ein wenig. Er hinterließ keine Spur, der man hätte folgen können (falls jemand mir – oder dem Fisch – hätte folgen wollen).
Zuhause angekommen, legte ich ihn in der Küche auf ein Holzbrett. Machte Licht, weil der Tag so dunkel war. Nahm mir ein Bier aus dem Kühlschrank; 3 Grad Celsius. Trank aus der Flasche. Ich war so frei. Ich hatte frei. Freute mich auf den fettigen Fisch. Erinnerte mich an den Tequila & streute mir etwas Salz auf die Zunge; kippte das Bier hinterher.
Musik: Ich startete eine Wiedergabeliste, die ich ‚Kater’ genannt hatte. Versoffene Stimmen & Cool Jazz.

Der Vater sitzt am Eßtisch. Vor einer Bücherwand. Auf dem Teller die Zeitung. Auf der Zeitung der Aal. Der Vater schneidet den Aal in Stücke. Ich schaue zu. Rieche. Mag den Geruch.
„Na, möchtest du ein Stück?“ sagt der Vater. Er kennt meine Antwort.
„Nee“, sage ich.
Angst vor Gräten. In der engen Kinderkehle.
Der Vater lächelt. Ißt genüsslich. Fett tropft. Dazu grobes Brot. Er fischt Gräten aus seinem Mund. Ich finde das eklig. Aber ich mag es, wie er genießen kann.
Die Mutter bringt ein Bier. Blickt auf die Zeitung. Die Mutter mag keinen Aal.
„Na, wie wär’s?“ sagt der Vater.
Die Mutter grinst. „Hau bloß ab mit deinem Aal.“
Ekel vor dem Aal in der Kehle.
Die Mutter geht & schaut fern.
Ich werfe einen Blick ins Aquarium, wo der Wels schwimmt.

Die Musik war laut. Ich nahm mir noch ein Bier. Atmete den Fischgeruch. Blickte auf die Zeitung. Erkannte sie. Erkannte den Artikel. Wusste, was auf der Innenseite stand. Dem Fisch ganz nah. Die Zeitung war knapp eine Woche alt.

Tanja sitzt neben mir am Frühstückstisch. Sie trägt eins meiner Hemden & Sonne; sonst nichts. Der schwarze Kater liegt zu ihren nackten Füßen; er heißt Poe. Sie ist frisch geduscht. Ich nicht. Sie beißt in ihr Marmeladenbrötchen, ich mag das Geräusch.
Die Mutter (gerade zu Besuch) ist in der Küche, um sich noch einen Kaffee zu holen.
Tanja kaut. Ich halte ihr die Finger meiner rechten Hand unter die Nase…… Sie zuckt zurück.
Grinst mich an. Flüstert durch das Marmeladenbrötchen, dicht an meinem Ohr:
„Du Sau.“
Ich grinse zurück; flüstere zurück: „Wieso? Riecht doch gut, mmmh….Man muss Spaß auch im nachhinein noch riechen können.“
„Fisch zu Marmeladenbrötchen?“
Ich küsse ihr einen Krümel weg. Sie kichert.
Die Mutter kommt mit der Tasse zurück.
„Na, macht ihr wieder Unsinn?“
„Dein Sohn“, sagt Tanja, „wie üblich.“
Ich trinke den ersten Schluck Tee (der Geschmack ihres Saftes schwindet). Die Mutter ißt Toast, ich mag ihre Eßgeräusche nicht.
Ich stelle die Tasse ab.
„Ich mache niemals Unsinn“, sage ich. Schaue hinab auf den Kater, der mich ansieht. „Stimmt’s?“ frage ich ihn.
Er blinzelt.
„Ha ha“, sagt die Mutter – ironisch, mit vollem Mund. Ich hasse es, wenn sie mit vollem Mund spricht.
Ich beuge mich zu
Poe hinunter. Er schnuppert an meinen Fingern, seine Nase folgt ihnen – bis ich ihn zwischen den Ohren kraule. Er schnurrt.
Bevor ich mich wieder aufrichte, streichle ich Tanjas Kniekehle. Sie zuckt leicht zusammen.
Die Mutter registriert es. Schweigend. Kauend. – Seit 15 Jahren lebt sie allein. Keine Männer. Nicht
1mal ist sie am Grab meines Vaters gewesen. Weil sie es nicht ertragen könnte, wie sie sagt.
„Warum ißt du nichts?“ fragt sie.
„Keine Lust“, sage ich. – Dabei habe ich einen gewaltigen Hunger; nach all den Rammel- & Spielereien des frühen Morgens. (Tanja hat versucht, leise zu sein …. in Grenzen …. (& sie lässt sich nicht küssen, wenn sie den Geschmack von Sperma im Mund hat…))
Der Kater leckt an Tanjas Zehen.
Sie kichert.

(Eines Tages war der Kater nicht mehr nach Hause gekommen. Man fand keine Spur von ihm. Später gab es in der Zeitung einen Artikel: Viele Katzen waren verschwunden; man vermutete, dass sie für ein Versuchslabor eingefangen worden waren. Das war viele Jahre her.)
Ich stellte das Bier ab & wickelte den Aal aus. Der Aal war stumm. Und zweigeteilt. Die Musik: laut & melancholisch. Im Fischauge: der klare Blick des frischen Todes. War da Druckerschwärze auf der Haut des Fisches? Ich stellte es mir zumindest so vor. Schwarze Spiegelschrift. Ich würde ihn nicht waschen. Würde ihn essen, wie er war. Würde ihn genießen. Die verkehrten Buchstaben fressen. Würde mir die Gräten aus dem Maul fischen & sie auf den Teller legen. Keine Angst um meine Kehle. Und galten Augen nicht als Delikatesse? Irgendwo …..
Die Zeitung war aufgeweicht vom Fett. Die Todesanzeige kaum mehr leserlich. Der Tag dunkel.
Alle waren weg. Auf die eine oder andere Weise. – Ich: war noch da. War hier.
Ich besuchte keine Gräber mehr.
Lud keinen Besuch mehr ein.
Und vermisste den Kater.


Nervengift

Alkohol ist ein Nervengift –
eine bekannte Tatsache, die
man irgendwann spürt -:
mir brennen die Beine, mir
zucken Muskeln, von denen ich
nicht wußte, dass ich sie habe;
mir kribbeln die Fingerspitzen, die
Dieses tippen –
Meine medizinische Bibliothek sagt:
Polyneuropathie – Ich sage:
Fuck you! – zu mir; denn ich bin
Hypochonder…..

Weniger be- & anerkannt ist die Tatsache, dass
das Leben
ein Nervengift ist –

Ein Gift,
gegen das die AllerMeisten
immun sind –

Süchtige auch sie ….

Hypochondrie ist
fehlgeleitete Fantasie –

Ich bin froh, dass ich etwas habe, das ich
fehlleiten kann.

Ich fühle etwas,
das
vielleicht
nicht da ist –

Vielleicht
fühle ich etwas
nicht,
das da ist –

Fehlgeleitet auch ich ….

Fantasie ist
ein Nervengift,
das brennen kann.

Und Brand bedeutet
Durst – vielleicht :
Durst nach
Gift.

Gift =
Geschenk ….


Pyro-Manie

Im Licht des Feuers erscheint Alles
weniger hässlich –
Egal, was oder
Wer da
in Flammen steht
(brennender Müll, brennender
Mensch, flammender Geist)

Übergossene Realität –
Brandgefahr!

Man zündet sich
von Innen an –
Feuerwasser & glühende Nadeln –
Flucht in ein anderes Licht

Ein Funke
der die Dürre entzündet

Doch auch das Feuerlicht
wirft Schatten –
Schatten, die in
Panik
zittern –
bewegt von schwächstem
Atemhauch :
Das schwarze Abbild der
Wirklichkeit ….

Steckt mich an!
Verbrennt mich!
Starrt in mein Licht!
Und lasst meine Asche
verglühen!

Bis ich keinen
Schatten mehr werfe …..


Comic

Ich erwache gezeichnet.
In Schwarzweiß. Mir selbst:
eine Karikatur. Die Karikatur
eines Mangas. Manga ohne Dialog,
Comic ohne Gedankenwolke.
Manga ⇒ mangiare ⇒ Frühstück.

Nächstes Bild: Küche –
ich habe 6 Arme, so schnell bin ich,
ich toaste Wasser, koche Toast,
schlage Eier – Fett dampft als
wortlose Sprechblase über meinem
verzeichneten Schädel.

Und schon schlinge ich im 3. Bild.
4 Arme bedeuten Gefräßigkeit. Gulp!
Besteck verschwimmt in (( Klammern )) der
Schnelligkeit.

4. Bild: Kacken. Verbissener Gesichtsaus-
druck auf der Schüssel. Aus. Druck.
Druck. Aus.

Nächstes Bild
: An der Tastatur, umgeben von
Bildschirmen & Textprogrammen &
leergesoffenen Flaschen …
50-Finger-System. In einer gewaltigen
Staubwolke, aufgewirbelt aus Fantasie.

Fantasiebilder
: Frame für Frame:
Tentakelnde Monster der Kindheit …
Verschlingungen …
Miniberockte Wesen mit großen GlanzAugen
& Stupsnasen -: Schenkel, Upskirts &
blitzende Höschen
[die Leertaste wird mit dem
Schwanz betätigt] … grinsendschlängelnde Spermatozoen …
Dann: Schmerz spritzt Tränen aus SchlitzAugen.
Mehr & mehr Linien im SchwarzweißGesicht.
Dann: Schwarzbilder. Schwarze Frames. Fin-
sternis – & schließlich:
Der Tod als Karikatur; mit Kapuze &
glitzernder Sense – auch seine Blase ist leer,
auch er hat nichts zu sagen, auch er –
denkt nicht.
Wie wir alle – in diesem Comic.

Letztes Bild
.

Wir erwachen.
Gezeichnet.
Aus. Druck.
Druck.
Aus.


Anis

Als Kind vorm Kiosk :
Anisbonbons

Immer der Nase nach!
Glück ….

Als Jugendlicher im Irgendwo :
Ricard & Pernod
Sambuca & Ouzo
& Raki

Der Lust hinterher!
Unruhe ……

Als VErwachsener im Vergessen :
Absinth

Dem Tod voraus!
Sehnsucht
………….


Weichspüler

Der Berg schmutziger Wäsche wächst
neben meinem Bett; die Türme der
Bücher neben meinem Bett
schrumpfen.

Die Stapel der Zettel wachsen
auf meinem Schreibtisch; die
Vorräte schwinden in meinem
Kühlschrank.

Ich trinke Weichspüler.
So nenne ich die Cocktails, die
mich sentimental machen.
Ich sollte Stärke saufen,
um mich zu befestigen.

Ich frage mich:
Wenn Zwangsjacken gewaschen werden –
tut man Stärke oder Weichspüler in
die Maschine?

Da fällt mir ein:
Ich sollte ihn endlich waschen –
den Berg
neben meinem Bett.

Aber
Aber
Aber
Aber