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Ein kleiner Trost

Und dann höre ich einen Oldie
meist Heavy Metal
& ich erinnere mich an eine
Feier

Und zu dieser Musik
küsste SIE
einen
ANDEREN

Sie
die damals
meine Welt war

Und dann war ihre Hand
in seiner Hose.
Und ich ging.

Ich höre einen Oldie

Ich BIN ein Oldie.

Und falls sie
noch lebt
irgendwo
ist sie es
mittlerweile
auch.


Menschen, die in Burgen tanzen

Menschen, die in Burgen tanzen,
hinter
dicken Mauern.
Ich kenne den Reim darauf,
doch ich lasse ihn weg.
Das Leben reimt sich nicht.

Menschen, die in Burgen tanzen,
sie schleppen die Mauern mit sich.
Sie behaupten, nicht
tanzen zu können – dabei
wollen sie nur nicht
erkannt werden.

In ihrem Innersten.

Menschen, die in Burgen tanzen,
vielleicht ist ihr
Taktgefühl
zu ausgeprägt.
Und sie wollen es sich nicht
anmerken lassen.

Menschen, die in Burgen tanzen,
sie fühlen sich beobachtet vom
Unbeobachtetsein.
Sie verschanzen &
verschließen sich mit
Notenschlüsseln.

Schlösser rosten ein.

Menschen, die in Burgen tanzen –
so viele Burgen, so viele Menschen.

Und in jeder Burg
ein Verließ.


Panzerglas

Immer wieder treffe ich auf Frauen, die
so zerbrechlich wirken
wie ein hauchdünnes Glas.
Wie ein Glas, das sofort
zerbricht, wenn man es
zu fest umfasst, und das
Splitter
in die zärtlichsten Hände treibt.

In Wirklichkeit
sind sie
1000 Mal
härter als ich.

Panzerglas.

Eher würden
die Knochen in meinen Händen
brechen
als
ein solches
Glas.

Aber das ist
okay.

Ich möchte nicht
härter sein.

Die Erfahrungen &
der Schmerz
sind gut für
irgend
etwas.

Man kann jammern
&
sich besaufen,
man kann sich erinnern
&
Schlüsse ziehen.

Man kann
noch traurigere Musik hören
&
starren
auf Gläser

&
raten,
was wohl

darin

sein

mag.


A Muse ment

Ich verstehe es ja, wenn eine Frau
(oder ein Mann)
keine Muse sein möchte.
So lange alles gut läuft, ist es
– vielleicht –
ganz schön & amüsant.
Aber wehe, es kommt Sand
ins Getriebe der Beziehung.
(Sofern es überhaupt je eine
Beziehung war – nicht einmal das ist
nötig. Eine Illusion reicht völlig.)
Dann bekommt sie (er) etwas zu
sehen oder zu hören oder zu lesen,
was verletztend sein dürfte.
Sehr verletzend.
Narben sind vorprogrammiert.
Muse muss ein beschissener Job sein.
Und ich wünsche niemandem
einen beschissenen Job.

(Na ja – »niemandem« ist jetzt
– vielleicht –
auch wieder übertrieben.)


Der Busfahrer

Immer wieder traurig, wenn
ein Busfahrer einem die Helden der
eigenen Jugend madig macht &
sie von dem Thron stößt, auf dem diese
jahrzehntelang gesessen hatten.
Besonders traurig, wenn diese Helden
den Soundtrack für die wichtigsten Momente
deines Lebens geliefert haben.
Da stand also dieser Fahrer des Tourbusses
vor mir an der Hotelrezeption & machte
mir, dem Nachtportier, gegenüber seinem
Herzen Luft.
»Der Typ ist echt ein Psychopath. Der
nervt alle. Sitzt während der ganzen Zeit
immer vorne neben mir & klugscheißt
ohne Ende. Hat natürlich immer schon
alles gelesen über die Orte, durch die wir
kommen. Und er weiß immer alles besser;
wo man langfahren muss und so. Zum
Kotzen. Und dann dieses bescheuerte
Toupet, dass der trägt. Ein einziges Mal
während der Tour hat er’s abgenommen;
da sah er zwar halbwegs vernünftig aus,
aber man konnte sehen, dass er Hautkrebs hat.
Glaub ich zumindest. Ich hab ja schon
viele Amis gefahren, aber der ist echt der
Gipfel.«
In dem Ton ging es ungefähr eine halbe Stunde.
Ich fühlte mich wirklich mies.
Ich hatte sämtliche Platten von dem Menschen zuhause.
Sämtliche Filme, in denen er mitgespielt hatte;
neben Leuten wie Jack Nicholson, Orson Welles
& Anthony Perkins.
Die Liebe meines Lebens war untrennbar mit
dieser Musik verbunden.
Es ist nicht immer ein Busfahrer, der
einem zeigt, wo auch nur mit Wasser gekocht wird.
Aber irgend jemand findet sich fast immer.
Ich versuchte, das Gerede
nicht überzubewerten.
Und doch –
ich konnte es auch nicht vergessen, als ich
im Konzertsaal saß
& applaudierte.
Aber immerhin –
ich hatte eine
Freikarte.


Zu oft

Wenn ich ein Musikstück, das ich mag,
zu oft höre,
kann es passieren, dass ich anfange,
es zu analysieren.
Und wenn ich Pech habe,
finde ich heraus,
wie dieses Stück funktioniert,
und welche kompositorischen Tricks
mein Unterbewußtsein besonders
angesprochen haben.
Und schon schwindet der Zauber;
schon wird die Gänsehaut geglättet.
Zumindest ein wenig.
Und es gibt keinen Weg zurück in
den unbewußten Zustand des Hörens.
(Allenfalls im Vollrausch.)
Tragisch, wenn es ein Lieblingslied war.
Noch tragischer, wenn es einem
mit Menschen ähnlich geht.


Summende Agonie

An manchen Tagen wäre ich gerne
der Herr der Fliegen.

Aber ich bin nur
ein Fliegenfänger.

Ein klebriges Stück Papier,
das irgendwo herumhängt.

Und irgendwann ist das Papier selber
nicht mehr zu erkennen.

Versteckt hinter schwarzen Leibern.
Belebt vom Sterben.

Ein Tonträger.
Hintergrundmusik.
Der Soundtrack des Lebens.

Eine dunkle
summende
Agonie.


Political Correctness

Ich esse Negerküsse, weil
sie mich an meine Kindheit erinnern.

Ich höre Zigeunermusik, weil
ich sie liebe –
Django Reinhardt
vor allem.

Ich will keine Schaumküsse der Langeweile.

Es ist immer dasselbe mit den Menschen:
Sie suchen nicht den Kern,
sie kratzen an der Schale.

Und die Mordlust kommt von
Filmen & Videospielen?

Natürlich,
Ihr Langweiler.
Was denn sonst?

Ich habe in meiner Kindheit noch mit
Ausländern gespielt.

Diskriminierung ist
meinem Denken & Fühlen so fremd,
dass ich sie in
einzelnen Worten
meist
nicht erkennen kann.

Ich sehe Splatterfilme &
fühle mich schlecht, wenn ich
versehentlich
jemandem auf den Fuß trete.

ICH SEHE MENSCHEN!
NICHT DIE WORTE,
DIE SIE ZU BESCHREIBEN VERSUCHEN!

Ich mache Witze über
Krankheiten & Tod.
Auch das tut man nicht.
Die Witze sprießen aus dem Boden
der Angst & des Entsetzens –
gedüngt mit Erfahrung.

Nehmt endlich Eure
Politische Korrektheit
– sie ist rein äußerlich,
oberflächlich wie Euer Denken
(wenn man’s »Denken« nennen mag)  –
& schiebt sie Euch in den Arsch,
auf dass Ihr sie Euch
verinnerlichen möget.

In der Zwischenzeit wische ich mir den Mund ab,
zufrieden & satt von
Negerküssen,
& rufe:
»PLAY IT AGAIN, DJANGO!
ALTER ZIGEUNER ….«


Der Kontrabass

Und dann verlangt jemand von dir, dass du
einen Kontrabass wie eine Geige unter dein Kinn klemmst
& seine Melodie spielst.

Dabei kannst du nicht mal Geige spielen,
und die Melodie kennst du nicht.

Und überhaupt sind deine Arme zu kurz,
um das Instrument zu stimmen.

Es stimmt einfach nichts.

Und vielleicht ist dieser Jemand
einfach
das Leben.


Manchmal, wenn es ganz still ist

Manchmal, wenn es ganz still ist,
hört man einen Ton, der von einer Gitarre kommt, die
seit Jahren nicht bespielt wurde.

Vielleicht war nur
ein Temperaturwechsel daran schuld.

Dieser Ton klingt nicht wie
gewollt;
nicht sauber.

Nur ein
Pling!

Es hat etwas mit
Spannung zu tun.

Vielleicht auch mit
der Langeweile
einer bestimmten Saite.

Wenn man zufällig vorübergeht
an dieser Gitarre,
könnte diese Saite einem
ins Gesicht springen.

Eine Wunde schlagen.
Eine Narbe hinterlassen.

Manchmal, wenn es ganz still ist,
fühle ich mich
wie eine Gitarre, die
zu lange nicht bespielt wurde.


Die Sängerin in der Bar

Es war Zufall.
Da saß diese schwarze Sängerin
aus Chicago in der Hotelbar;
an der Theke. In diesem
deutschen Kaff.
Trank. Und trank.
Im Saal nebenan: eine Betriebsfeier.
Langweilige Menschen.
Live-Musik.
Schrecklich Musik. Wie ich fand.
Die Sängerin nahm ihr Glas &
ging in den Saal, betrat
die geschlossene Gesellschaft.
Ich machte meinen Job,
oder das, was ich
& andere dafür hielten; an
der Rezeption.
Hin & wieder kamen Kollegen, die im
Saal bedienten, bei mir vorbei.
„Die ist komisch“, sagte einer. „Und
die macht eine der Backroundsängerinnen an.
Fällt allmählich auf.“
Ich sagte nichts.
Sie kam wieder zurück.
Setzte sich wieder an die Theke.
Trank weiter.
Redete mit dem Barkeeper.
Ich hörte ihre tiefe Stimme,
die Stimme, für die sie berühmt war.
Hin & wieder sprach sie auch
mit sich selbst.
Sie ging wieder in den Saal.
Kam wieder zurück.
Trank.
Irgendwann
kam sie zu mir.
Lächelte.
Sagte mir ihre Zimmernummer.
(Als ob ich die nicht gewusst hätte.)
Sagte: “If the girl from the band asks
for me, give her my room-number, please.

Sie lächelte. Ihre Augen ….
ein wenig glasig, ein wenig traurig.
Oder nein – sehr glasig, sehr traurig.
Ich lächelte zurück. Und das nicht, weil es
mein Job war, oder das, was ich & andere
dafür hielten.
Sie kam noch einige Male zu mir, um
sich zu vergewissern, dass ich ihre Bitte
nicht vergessen hatte.
Dann betrat sie den Aufzug. Die Türen
schlossen sich.
Irgendwann verstummte die schreckliche
Musik im Saal.
Die Gäste gingen.
Die Band baute das Equipment ab.
Schaffte es Stück für Stück, an der Rezeption
vorbei, nach draußen.
Ich hörte die Backroundsängerinnen, wie
sie sich unterhielten; mit ihren Durchschnitts-
stimmen. Die nicht immer den Ton getroffen hatten.
Sie machten sich lustig.
Lustig über die kleine Schwäche der
Betrunkenen.
Es war nicht mal Boshaftigkeit, was aus ihnen
sprach. Es war
etwas Schlimmeres.
Es war die Leere in ihnen; das,
was sie von der anderen
unterschied.
Ich stellte mir vor, wie sie da oben in
ihrem Zimmer saß
& wartete.
Aber vielleicht war sie ja auch schon
eingeschlafen.
Betrunken & einsam.
Das ist Jahre her; und es ist
immer noch seltsam, ihre Stimme zu hören,
oder sie im Fernsehen zu sehen – &
sich vorzustellen, dass diese
Backroundsängerin
sie vielleicht auch hört & sieht.
Und noch immer nichts
begriffen hat.


Ich habe keinen Charakter

Im Übrigen habe ich
keinen Charakter.

Jedesmal wenn ich höre oder lese,
was andere über ihren Literatur-, Musik-,
Film- oder Kunstgeschmack sagen,
denke ich mir:
DAS ist Charakter.

Dezidierte Ansichten.
Ein dezidiertes Ausschluss-
verfahren.

Ich:
schätze zu
Vieles.

Zu vieles, das nicht
zueinander
passt.

Literaten, Musiker,
Filmschaffende, Künstler, die sich
untereinander
gehasst haben.

Verschiedene Begriffe,
verschiedene Ansichten.
sich widersprechende &
einander ausschließende
Weltbilder.

Richtungen ohne gemeinsames
Zentrum.

Ich:
habe keinen Charakter.

Vielleicht sollte mein Schädel
enger sein,
um Platz zu haben

für einen Charakter.

Aber wahrscheinlich
würde ich mich dann
schrecklich langweilen.


Und für jeden Text …..

Und für jeden Text, den ich schreibe,
trete ich 985 Mal in die Scheiße,
lese ich 476 Bücher,
verliebe ich mich in 13 Frauen,
sterbe ich 7 Mal,
trinke ich 666 Flaschen Gin,
rauche ich 43 Zigarren,
esse ich 54 Bratwürste,
höre ich 374 Symphonien,
spritze ich 94 Mal ab
& bleibe 64000 Mal unbefriedigt.

(So ungefair jedenfalls)


Das Chaos spritzt Wassertropfen

 „I stepped inside an Avalanche, it covered up my soul…”
 Leonard Cohen

„Hast du gar nicht gehört, wie ich letzte Nacht mein Sterbchen gemacht habe?“ sagte mein Vater.
Er saß lächelnd am Frühstückstisch. Mir gegenüber. Bereit, mich zur Schule zu fahren.
Ich verneinte. Ich hatte fest geschlafen. – Er hatte die halbe Nacht hindurch gekotzt. Irgend etwas. Wahrscheinlich Metastasen. Vielleicht Blut. Die Verniedlichungsform sollte es mir leichter machen.
12 Jahre später betrat ich den Friedhof. Er lag auf einem Hügel. Die Sonne schien. Ich war mir sicher, das Grab auf Anhieb zu finden, obwohl ich zuletzt vor 10 Jahren hier gewesen war. Zielsicher ging ich aufwärtsführende Wege …. Grabsteinlesend …. Im Kopf eine Mundharmonika …. Ein Labyrinth … Der Geruch der verwelkten Blumen erinnerte mich an einen anderen Friedhof. An den Friedhof, wo der Vater meines Vaters begraben war; oft hatte ich meinen Vater dorthin begleitet. Immer kaufte er zunächst einen Strauß Blumen in einem kleinen Laden in der Nähe. Auf dem Friedhof wickelte er ihn aus & warf das zerknüllte Papier in einen der Mülleimer. Die Mülleimer waren voller Blumenleichen & kreisender Fliegen. Ich beobachtete alte Frauen bei der Grabpflege. Kaninchen zwischen den Hecken. War fasziniert von allem. Ich war gerne hier. Mochte die Stimmung, in der mein Vater war …. Ich suchte …. Suchte …. Hatte ähnliche Blumen in der Hand. Sie konnten ihn doch nicht verlegt haben. Der Friedhof war gewachsen in den 10 Jahren. Der Tod hatte sich ausgebreitet. Seit 1 Jahr hatte ich den Führerschein; dies war die erste längere Strecke (knapp 500 km), die ich zurückgelegt hatte. Und nun konnte ich das Grab nicht finden. Der Plan, den die Erinnerung in mir gezeichnet hatte, war nichts als die völlige Verwirrung der Wirklichkeit.
Ich schaute auf die Uhr. Damals trug ich noch eine Uhr. Es wurde Zeit. Ich musste zurück zum Parkplatz. Ging abwärts. Wenigstens den Ausgang fand ich.
Ihr Auto stand neben meinem. Sie stieg aus, als sie mich kommen sah. Im leichten kurzen Sommerkleid. Lächeln spiegelte sich. Umarmung. Küsse. Gerüche. 12 Monate waren vergangen. Zwischen uns. Sie hatte keinen weiten Weg gehabt.
Irgendwann sagte ich:
„Ich hab’s noch nicht gefunden. Ich war mir ganz sicher, wo es sein müsste. Seltsam.“
„Ich weiß, wo es ist“, sagte sie.
„Ein Glück“, sagte ich.
„Ich wollte eigentlich nicht dabei sein, wenn du’s besuchst. Ich mag sowas nicht.“
„Du störst doch nicht.“
„Trotzdem.“
„Komm schon“, sagte ich. –
Hand in Hand. Sie wusste wirklich genau, wo es lang ging. In ihren offenen Schuhen. Das Grab war dort, wo ich es zuletzt vermutet hätte. Ich verfluchte meine Erinnerung. Wir standen stumm davor. Sie etwas abseits. Ich nahm Verwelktes aus der in die Erde eingelassenen Vase & tat meine frischen Blumen hinein.
Ich dachte einen Monolog. […] –
„So. Wir können“, sagte ich.
Auf dem Weg zurück warf ich Papier & Blumen in einen Mülleimer. Alte Frauen waren mit Gießkannen unterwegs.
Wir setzten uns in ihr Auto. Redeten. Küssten. Fühlten. Abendsonne. Auf dem Parkplatz des Friedhofs.
Wir ließen meinen Wagen dort stehen & fuhren in die Stadt. Zur Konzerthalle. Das Konzert war der Vorwand gewesen. Deshalb hatte er sie – allein – fahren lassen; er interessierte sich nicht für Leonard Cohen.
Von oben rechts schauten wir auf die Bühne hinab. – – –
Nach dem Konzert saßen wir in einer Bar & tranken etwas.
„Der ist ganz schön alt geworden“, sagte sie.
„Da hat er ja wohl ein Recht zu“, sagte ich. (Ein seltsamer Satz – finde ich heute. Abgesehen von der miesen Grammatik.)
Es war wenige Monate vor seinem 51. Geburtstag.
Sie sagte: „Was ich nicht verstehe, ist, dass er ‚So long, Marianne’ nicht gesungen hat, obwohl die Leute immer wieder danach gerufen haben.“
„Vielleicht kann er den Song gerade nicht ertragen“, sagte ich; „kann doch vorkommen, wenn man über das eigene Leben schreibt. Wer weiß, was mit der Frau gerade ist….“
„Da ist was dran“, sagte sie.
Der Friedhofsparkplatz lag im Schein einer einzelnen Laterne. Bis auf meinen Wagen war er leer. Die Scheinwerfer ihres Autos kegelten mit Licht. Der Abschied war so grauenvoll wie alle anderen davor & alle anderen, die noch kommen würden. Noch ein Kuss. Noch ein Kuss. Noch ein Kuss.
„Ich muss“, sagte sie.
„Ich weiß“, sagte ich.
500 Kilometer.
Der Friedhof war nun abgeschlossen.
Ich fuhr ihr so lange hinterher, wie es ging … Rote Rückleuchten ……. Bis sich unsere Wege trennten …. Lichthupe zum Abschied …

Sterbchen …. Sterbchen ….
Das Grab meines Vaters existiert nicht mehr. Meine Mutter hat den üblichen Zeitraum von 30 Jahren nicht verlängern lassen.
Mein Großvater hat meinen Vater geschlagen; mein Vater hat uns Brüder geschlagen – & allmählich wird das gleichgültig.
Immer wieder kam er aus dem Krankenhaus nach Hause. Immer wieder wurde er auf der Trage aus dem Haus gebracht, während ich daneben stand, und immer wieder sagte er zu mir:
„Es ist nicht so schlimm.“
Einmal stand er vor mir. Im Bademantel. Mit eingefallenen Wangen. Blaß.
„Wie alt bist du jetzt?“ fragte er.
„12“, sagte ich.
„Hmm. – – 12“, sagte er & schien darüber nachzudenken.
2 Jahre zuvor hatte er eine Pendeluhr gekauft & hier im Flur aufgehängt. Die Pendelbewegung war laut. Und sobald die Uhr nicht absolut waagerecht hing, nur einen halben Milimeter beim Staubwischen bewegt worden war, blieb sie stehen.
Irgendwann hörten wir es nur noch, wenn sie stehengeblieben war.
Früher hatte mein Vater mich manchmal mitgenommen, wenn er seine Freundinnen besuchte. Ich mochte die hübschen jungen Frauen. Und ihre Beine. Von denen man damals nicht viel zu sehen bekam. Und die hübschen jungen Frauen fanden den Knirps niedlich.
Ich saß auf seinem Schoß & er ließ mich an seinem Bier nippen. (Mein Vater trank wenig. Es hatte ihn immer abgeschreckt, wenn sein Vater trank.) Das Bier war bitter & widerlich. Es war in der Kneipe, die einer seiner Freundinnen gehörte. Sie schenkte mir Schokolade.
Manchmal saß ich auch im Auto auf seinem Schoß & durfte das Lenkrad halten. Als hätte ich gewußt, wo’s langgeht.
Wußte er bereits, dass er bald sterben würde, als er sich langgehegte Wünsche erfüllte? Er reiste allein nach Afrika. Er kaufte sich ein Motorrad. Meistens saß ich auf dem Sozius. War Sozius, stolz. Furchtlos. 2 leuchtend-gelbe Helme hintereinander (seiner hatte einen lilanen Streifen in der Mitte).
„Halt dich gut fest“, sagte er.
Je schneller, desto besser.
Ich wurde bevorzugt; das wußte ich.
Und ich erkannte sie wieder; die Freundinnen am Grab meines Vaters. Death of a Ladies´ Man …..
Seine Leidenschaft für Bücher fühlte ich, bevor ich lesen konnte. Und ich konnte lesen, bevor ich in die Schule kam.
Zu zweit machten wir einen Kurztripp nach Belgien. Seebad Knokke. Noch im Dunkeln gingen wir spazieren. Das Meer in der Finsternis; Rauschen & Geruch. Laternen auf der Promenade.
Aus einem dunklen Hauseingang trat eine junge Frau hervor. Sie tippte auf ihr linkes Handgelenk & fragte auf französisch nach der Uhrzeit.
Mein Vater antwortete ihr, und wir gingen weiter.
„Niedlich“, sagte er. –

Keiner meiner Klassenkameraden durfte so lange aufbleiben wie ich. Ich kannte Fernsehserien, die sie nicht kannten: Invasion von der Vega; Nummer 6; High Chaparral; Solo für O.N.C.E.L. – – – Der Schulweg dauerte zu Fuß etwa eine ¾ Stunde; morgens wurden wir mit dem Auto gebracht, mittags aber spazierten wir nach Hause. Und immer mußte ich dabei die einzelnen Folgen der Serien nacherzählen.
Damals gab es noch Sendeschluss & Testbild. Einmal stand mein Vater vor dem Fernseher, als in der Spätausgabe der Tagesschau der Wetterbericht lief; er wartete -; und als die Sprecherin freundlich „Gute Nacht“ gesagt hatte, sagte er „Gute Nacht, Süße, träum was Schönes“ & schaltete den Fernseher aus. Das gefiel mir; ich musste grinsen …

Ich verbrachte viele Stunden im Krankenhaus, als sie auf die Entbindung wartete. Ich liebte sie. Sie, die ich kurz nach dem Tode meines Vaters kennengelernt hatte. Ich erinnere mich genau an dieses Kennenlernen. Ich blätterte durch das Angebot der Poster im Kaufhaus. Blieb hängen an einem Poster von Marilyn Monroe in Netzstrümpfen; betrachtete es lange – mit dem Blick der Pubertät. Und plötzlich standen sie & mein Bruder neben mir. Sie lächelten. Mein Bruder stellte sie mir vor. Ich wurde rot. Wir gaben uns die Hand. Sie war mit ihren 1,60 größer als ich.
Während ich im Krankenhaus an ihrem Bett saß – sie 18, ich 14, und wir redeten & redeten & redeten, wie wir es von Anfang an getan hatten – fickte mein Bruder eine andere.
Ihr erster Krankenhausaufenthalt: Falscher Alarm – mein Neffe wollte noch nicht kommen.

Ich wurde Babysitter. Neffensitter. Liebte seinen Geruch. Er war aus ihr gekommen. Onkel mit 14. Wickeln, baden, füttern. Ich verbrachte mehr Zeit mit ihm als sein Vater es tat. Mein Bruder wollte sich amüsieren; ausgehen. Und sie musste dabeisein. Sie vertraute mir ihren Sohn an. Weil sie alles wusste. Zwischen uns war ewiger Kurzschluss : Kennen, Wissen & Funken.
Einmal, der Kleine schlief bereits, saßen wir zu dritt beim Kartenspiel. Eine Tafel Schokolade zwischen uns. Ich hasse Kartenspiele; hasse Spiele überhaupt – egal. Wir spielten. Aßen Schokolade. Irgendwann nahm sie einen kompletten Riegel, biss davon ein Stück ab & legte den Rest zurück aufs Papier. Ich wartete kurz. Es musste beiläufig wirken. Wie ein Versehen; wie eine Unachtsamkeit. Schließlich nahm ich den Riegel & biss meinerseits ein Stück davon ab.
Sie sagte: „Ich hatte davon abgebissen.“
„Oh“, sagte ich, „jetzt werde ich bestimmt sterben.“
Ich aß den Riegel auf.
Sie grinste.
Mein Bruder grinste.
Und ich spielte schlecht.

Mein Vater erzählte von einer Geschäftsreise. Es war Ende der 60er. 69, glaube ich. Er & seine Kollegen waren eines Abends ins Kino gegangen. Er erzählte von kotzenden Zuschauern. Erzählte von einer Erste-Hilfe-Station im Kino. Erzählte von einem widerlichen Film. Erzählte von seinem Ekel & seinem Unverständnis. In diesem Film, so erzählte er, fraßen Leichen sich gegenseitig auf. Nachts, im Dunkeln, lag ich im Etagenbett unter meinem Bruder & stellte mir alles vor. Ich wollte schreien. Heute weiß ich: es war Night of the living dead.
Kurz vor seinem Tod fuhr mein Vater mich zum Kino; ein kleiner Familienbetrieb, der nicht mehr lange zu leben hatte. Auf dem Weg dorthin überholten wir einen Mofafahrer. Er hatte lange Haare. Mein Vater hasste lange Haare. Ein ständiger Kampf zwischen ihm & seinen Söhnen.
„Der ist bestimmt auch auf dem Weg ins Kino“, sagte er & lachte.
Auch ich musste lachen.
Im Kino lief: Die Nacht der Reitenden Leichen.
Der Film war ab 18 – aber sie ließen mich in alle Filme, nachdem meine Mutter dort einmal telefonisch ihr generelles Einverständnis abgegeben hatte. (1 Jahr zuvor hatte sie mich – auf mein Drängen – in Wie schmeckt das Blut von Dracula begleitet …. Ich spürte ihren prüfenden Blick auf mir, als Christopher Lee auf das goldene Kreuz fiel & seine Augen bluteten…)
Mir verging das Lachen im Angesicht der Reitenden Leichen. Nach den ersten 5 Minuten wollte ich fliehen. Aber ich hielt durch. Und erzählte meinem Vater den Inhalt.
Der Inhalt erinnerte ihn an seine Geschäftsreise.
Kurz nach seinem Tod sah ich zum ersten Mal Mario Bavas ‚I tre volti della paura’; und das entstellte Gesicht der Leiche in der Episode vom ‚Wassertropfen’ (sie dauert nur 20 Minuten) erinnerte mich an das entstellte Gesicht meines Vaters, als ich ihn im Sarg liegen sah. –
Mit 17 endeckte ich in der Schrankwand meiner Mutter zufällig eine Monatsschrift. Blätterte darin. Fand das Foto meines Vaters. Dasselbe Foto, das auf dem Nachttisch meiner Mutter stand. Es war ein Nachruf -:

Zum Tode von Dr. Jürgen L.....
Obgleich man wußte, daß Dr. Jürgen L. seit einigen Monaten schwer
 krank war, traf die Nachricht von seinem Tod am 13. Dezember 1973
 doch völlig unerwartet ein. Wir alle werden Zeit brauchen, um wirklich
 zu begreifen, daß Dr. L. nicht mehr unter uns ist. Das gilt natürlich 
 in erster Linie für die Mitarbeiter des Kölner Büros, dessen 
 wissenschaftlicher Leiter er während der letzten sechs Jahre war, das 
 gilt aber auch für alle anderen, die ihn kannten und mit ihm zu tun 
 hatten.
Jürgen L. wurde 1925 in Rummelsburg in Pommern geboren, er ging
 in Königsberg und Tilsit zur Schule und wurde 1945 zur Wehrmacht
 eingezogen. Nach Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft
 studierte er 1947 bis 1948 an der Bergakademie Clausthal, 1948 bis
 1952 an der Universität Marburg/Lahn Naturwissenschaften mit
 Zoologie als Hauptfach. Er schloß seine Studien 1952 mit der Promotion
 zum Dr. rer. nat. ab. Dr. L. gehörte aber nicht zu denjenigen, die 
 sich im Elfenbeinturm der Wissenschaft abkapseln. Mit dem sicheren 
 Blick für die Bedeutung ökonomischer Zusammenhänge - gerade in der 
 Phase des Wiederaufbaus nach dem verlorenen Krieg - studierte er von 
 1949 bis 1954 außerdem Volks- und Betriebswirtschaft.
Von 1952 bis 1959 war Dr. L. Assistent und zeitweise Lehrbeauftragter
 für vergleichende Physiologie am Zoologischen Institut der Universität
 Marburg/Lahn. In diese Zeit fallen auch seine Veröffentlichungen über
 Tierpsychologie und Tierphysiologie.
Wer die Situation an den Hochschulen der fünfziger Jahre kennt, weiß,
 welch hartes Brot das Assistenten-Dasein damals war. Es bedeutete
 daher einen guten Schritt voran, als Dr. L. am 1. Dezember 1959 als
 wissenschaftlicher Mitarbeiter in die [...] eintrat. Konnte er doch 
 hier sowohl seine naturwissenschaftlichen wie auch seine wirtschafts-
 wissenschaftlichen Kenntnisse sinnvoll einsetzen. Nach der damals
 kurzen Einarbeitungszeit begann Dr. L. 1960 seine Außendienst-
 tätigkeit im Raum Aachen. Aufgrund seiner fundierten Kenntnisse
 und seiner guten Auffassungsgabe wuchs er schnell in seine neue
 Aufgabe hinein. Der Erfolg blieb nicht aus, und mit der Ernennung
 zum wissenschaftlichen Leiter des Kölner Büros am 1. Januar 1968
 wurden Einsatz, Mühe und Erfolg gelohnt.
Aber auch als Büroleiter verstand sich Dr. L. weniger als Chef, 
 als vielmehr als Primus inter pares. Stets hilfsbereit, wenn jemand
 seinen Rat brauchte, stets voller Verständnis für die Anliegen
 seiner Kollegen, gleichwohl mit ernsten Worten nicht sparend,
 wo diese ihm notwendig erschienen, erwarb er sich das Vertrauen
 derer, die mit ihm zusammenarbeiteten.
In Anerkennung seiner Verdienste um die Führung des Kölner
 Büros stand Dr. L. unmittelbar vor seiner Beförderung zum
 Prokuristen. Der Tod ist dem zuvorgekommen. Er hinterläßt
 eine Lücke, die schwer zu schließen sein wird. Noch begreifen
 wir nicht, daß Dr. L. - im Alter von 48 Jahren - von uns gegangen
 ist. Wir wissen nur, daß wir ihn nicht vergessen werden.

Im bewegten Licht des Fernsehers saßen wir uns gegenüber, während mein Bruder in der Badewanne lag. Es war ein Ritual seit langem: die Blicke in die Unendlichkeit. Die unendlichen Blicke. Es war der Jähzorn meines Vaters gewesen, der mich Gegenstände zerbrechen ließ – aus Eifersucht, aus Sehnsucht. Einmal, vor Jahren, hatte sie mich vorsichtig umarmt. Und gesagt: „Du bist zu jung.“
Jetzt ……
umarmten wir uns wieder. Ich ließ sie nicht los. Sie ließ mich nicht los. Ihr rechtes Ohr an meiner Nase, ihr Haar an meiner Nase, Wange an Wange, streichend ….. bis der –
(ich hatte geträumt von ihm, immer und immer wieder)
KUSS
geschah – –
zunächst traf meine Zungenspitze auf Lippen
dann auf Zähne
& endlich
auf ihre
Zunge – – – – – –
„Das darf er niemals erfahren“, atmete sie warm in mein Gesicht. – –
Es dauerte vielleicht 10 Minuten, bis er es erfuhr. – Da wir nicht aufhören konnten, uns zu küssen.
In der Schwangerschaft hatte sie sich oftmals auf meinen Arm gestützt. Hatte gesagt: „Ich fühle mich schwach…..“ (Später lächelte sie, als sie sagte: „Alles Quatsch! Ich wollte Dich fühlen.…“)

Mein Bruder packte mich am Genick. Ganz sanft. Als ich 6 oder 7 war. Wenn er mich über die Straße führte. Durch die Gefahr der Autos. Ich liebte seine Hand in meinem Nacken. Er war mein Vorleser, als ich noch nicht lesen konnte. Und er las aus 1001 Nacht.
Und als mein Neffe 6 oder 7 war, las ich ihm vor. Aus Alice im Wunderland & Alice hinter den Spiegeln. – Und wenn er das Frühstücksei im Becher sah, sagte er: „Das ist der Goggelmoggel; denn so war Humpty-Dumpty ins Deutsche übersetzt worden.

Wenn ich erkältet war & meine Mutter meinen Rücken mit Wick-Vaporub einrieb, war es wie Sandpapier auf meinem Rücken; denn ihre Hände waren rauh. Wenn mein Vater es tat, war es weich & angenehm. Meine Mutter schlug nie, ihr Streicheln war hart; mein Vater schlug oft, sein Streicheln war zart.
Solange er im Außendienst tätig gewesen war & sich die Arbeit selber hatte einteilen können, war er Mittags immer nach Hause gekommen; und nach dem Essen legte er sich für eine Weile ins Bett, um zu lesen. Niemals, auch später nicht, sah ich ihn außerhalb des Bettes ein Buch lesen, egal zu welcher Tageszeit; und so verbrachte er oftmals das komplette Wochenende im Bett.

Sie bemühte sich, leiser zu stöhnen als sonst. Sie wußte, dass ich im Nebenzimmer saß. Immerhin, sie bemühte sich. Ich mußte ihnen zuhören, er hörte uns nie zu. Ich saß einfach nur da. Das Auf- & Ablaufen hatte ich längst hinter mir. Irgendwann war es vorbei. Ich sah, wie sie nackt aus dem Schlafzimmer kam & ins Bad ging. Ihre Zigaretten lagen auf dem Tisch vor mir. Schließlich kam sie aus dem Bad, um sie sich zu holen. Ihr Blick sagte mir: Du hast kein Recht sauer zu sein. Nur ein kurzer Blick. Ich folgte jeder ihrer Bewegungen. Sie gab mir einen sehr flüchtigen Kuss, und ich beobachtete ihren Hintern, als sie ins Schlafzimmer zurück ging. – –
Wir lagen im Bett. Das Fenster war weit geöffnet, die Sonne schien. Wir lachten & überhörten zunächst das Telefon. Dann hörten wir es. Sie beeilte sich ranzugehen. Natürlich. Er war’s. Kontrollanruf. Hatte er gestoppt, wie lange es dauerte, bis sie sich meldete? Knappe Belanglosigkeiten wurden ausgetauscht, dann kam sie zurück ins Bett. Nichts in meinem Leben roch so gut wie sie. Nach höchstens einer ¼ Stunde hörten wir einen überdrehten Motor, quietschende Reifen, dann einen Aufprall. Sie sprang aus dem Bett & lief ins Bad. Ich war wie gelähmt, blieb einfach liegen. Hörte Schritte, hörte Klopfen, hörte Wut. Dann stand er an meinem Bett. „Du kannst deine Koffer packen.“ So jähzornig er war, niemals hätte er mich geschlagen. Zuviele Jahre, zuviele Erinnerungen, zuviel gemeinsame Kindheit.
– – Jahre zuvor:
Immer hatten sie Streit deswegen. Sie wollte nicht anziehen, was er ihr kaufte. Alles was er kaufte, sagte: Seht her, meine Frau (und nur ich darf sie ficken)! – Er setzte sich immer wieder durch. Sie gingen Billard spielen, und sie trug den kürzesten Minirock & einen durchsichtigen Slip. Wenn sie sich über den Tisch beugte ….. Ich sah die Blicke der Typen ringsum. Außerdem liebte mein Bruder durchsichtige Blusen. Durchsichtige Blusen waren sein Fetisch; ohne etwas darunter; natürlich. Er wollte ihre Titten zeigen. –
Ich durfte bei ihnen einziehen, dafür musste ich im Gegenzug meinen Schulabschluss nachholen. Meinen 16. Geburtstag hatte ich in einer geschlossenen Abteilung verbracht, weil unsere Mutter sich nicht mehr anders zu helfen wußte; er wollte mir etwas Gutes tun. Wie oft waren wir Verbündete gewesen! Gegen den Vater, gegen die Welt. (Außerdem war es praktisch für ihn, stets einen Babysitter parat zu haben.)
Zunächst trug sie noch ein Höschen in der Wohnung ……
Eines Tages, als sie wieder so herumlief, wir 3 waren in ziemlich alberner Stimmung & der Kleine bei seiner Großmutter zu Besuch, packte mein Bruder sie am Handgelenk. Er legte sie übers Knie, zog ihr den Slip herunter & versohlte ihren nackten Arsch. Sie lachte. Das Klatschen; das Lachen; der Anblick – ich saß genau richtig, ihre Beine in meiner Richtung. Der Slip hing an ihren Oberschenkeln. Sie versuchte, ihn wieder hochzuziehen. Der Stoff riss. Als mein Bruder sie loslies, stand sie auf & zog den Fetzen hoch. Der Riss war hinten, sie hielt ihn irgendwie zusammen & verschwand kurz in Richtung Schlafzimmer. Als sie zurückkam, trug sie noch immer diesen Slip. Vorn war er intakt. Sie grinste. Machte:
„Ta Daaaa!“ & drehte sich herum. Sie hatte durch Schnitte & Knoten ein kunstvolles Guckloch geschaffen; die Arschritze verlief exakt durch dessen Mitte. Cut up. Es hatte etwas Unschuldiges. Niedlich, fühlte ich.
Ab diesem Tag machte es ihr nichts mehr aus, in meiner Gegenwart nackt herumzulaufen. Das dunkle schöne Kräuselhaar; die kleine weiße Reißleine einmal im Monat.

Ich schlief in meinem schmalen Bett, das ins Zimmer meines Neffen gestellt worden war. Sie schlief nebenan im Ehebett. Allein. Ich erwachte. Ich stand auf. Ihre Tür stand offen. Sie nur im Schlaf zu beobachten……..
Irgendwann saß ich auf dem Bett & schnupperte an ihren Haaren. Begann sie zu streicheln. Traute mich zunächst kaum, die Decke zu bewegen. Zentimeter. Für. Zentimeter. Das erste Mal, dass ich einen Hintern küsste.
Und es dauerte lange – – bis sie mir sagte, dass sie nicht geschlafen hatte.

Man muss nicht schwimmen können, um das Meer zu lieben. Im Ruderboot, meinem Vater gegenüber. Geblendet von Sonnenblitzen auf der Wasseroberfläche. Das Geräusch der Ruderblätter …. Der Geruch nach Salz & Algen …. Mein Bruder paddelte in einiger Entfernung neben uns her; in einem kleinen roten Schlauchboot. Im Gegensatz zu mir konnte er schwimmen. Ich hatte einen gelben Eimer dabei, dessen Boden aus Plexiglas bestand; manchmal, wenn ich ihn während einer Ruderpause, ins Wasser drückte, konnte ich durch den Boden einen Fisch sehen.

Die Erinnerung ist kein ruhiger Fluss. Keine Ordnung von Tropfen. Kein 1 nach dem andern. Irgend etwas peitscht die ruhende Oberfläche, und das Chaos spritzt. Spritzt ungeordnet – wie die Verwirrung der Wirklichkeit.

„Ich liebe dich“, sagte ihre alte Stimme. Zum ersten Mal. Glaube ich.
„Ich weiß“, sagte ich. Mehr war nicht drin. Es war ein 2-Bett-Zimmer; im Nebenbett lag eine andere alte Frau & lauschte.
Über ihrem durchscheinenden Totenkopf trug meine Mutter die Parkinson-Maske. Wenn ich zitterte, hatte das andere Gründe. Abgründe.
Ich beugte mich zu ihr hinunter, um mich zu verabschieden.
Nichts wie raus. – 4 Stunden hatte es gedauert, bis sie endlich ein Bett zugewiesen bekommen hatte. Immer wieder hatte sie gesagt: „Fahr doch nach Hause. Du musst nicht die ganze Zeit über warten.“
Verdammte Krankenhäuser! – Es gab nur eine Zeit in meinem Leben, wo ich gerne ins Krankenhaus ging; es kaum erwarten konnte. Und es war eine schwere Geburt gewesen; damals. Ihr Damm musste genäht werden. Und der Arzt sagte zu ihr: „Ich werde das so machen, dass sie künftig viel Spaß haben werden.“ Und wir hatten viel Spaß.

Als er die Gelegenheit bekam, sich zu rächen, tat er es. Sie arbeitete nachts, schlief tagsüber, und er war für den Einkauf zuständig. Sie frühstückten außer Haus, und mit den anderen Mahlzeiten verhielt es sich ebenso. Das Söhnchen nahmen sie mit. Ich blieb allein. Er schaffte es, jeglichen Kontakt zwischen ihr & mir zu unterbinden. Das war leicht, da es ihm reichte, dass sie arbeitete. Er tat nichts, außer sie zu kontrollieren. Sie hatte keine Ahnung, dass es im ganzen Haus nichts zu essen gab. Und ich hatte kein Geld. Nichts. Manchmal legte er mir 5 oder 6 Zigaretten auf den Küchentisch. Das war alles. Immerhin.
Ich trank also Leitungswasser, und aß ein paar Löffel Zucker am Tag. Meine Gedanken kreisten nur noch ums Essen. Stundenlang lief ich draußen herum. Mit gesenktem Blick. Die Bürgersteige absuchend. Irgend jemand musste doch mal etwas verlieren. Ein paar verdammte Münzen. Eine Münze. – In der ganzen Zeit fand ich absolut nichts. Schnorren kam nicht in Frage. Ich versuchte, so viel zu schlafen wie möglich. Aber ich wachte immer wieder auf. Von dieser Faust im Bauch.
Sie arbeitete nachts. Hinter der Theke. Neben der Theke gab es eine Leinwand, auf der Pornofilme liefen. Er saß die ganze Nacht an der Theke, und kontrollierte sie. Genoß die Blicke der anderen Männer. Sie trug ein durchsichtiges Oberteil, nichts drunter. Und Hotpants. Die schönsten Beine in dem ganzen Laden. Und die einzigen, die nicht angefaßt werden durften. Blicke. Nichts als Blicke. Blicke für sein Selbstbewußtsein.
Sein Bett & mein Kinderbett standen Kopf an Kopf. Spät abends bauten wir dort aus unseren Decken eine Höhle, und beim Licht der Taschenlampe las er mir vor. Nie wollte ich einschlafen. Immer nur zuhören…..
Aber irgendwann schlief ich.

„Sein Schwanz ist größer als deiner“, sagte sie. Sie sagte es so wissenschaftlich, dass ich lächeln musste. Unter der Decke. Wo es ihretwegen so gut roch. Sie gab mir etwas, was er nicht bekam. (Wenn er mich provozierte, sagte ich in Gedanken zu ihm: „Hey, weißt du eigentlich, dass sie bläst & schluckt?“ – Sie hatte es nicht gemocht. Leckte ein bisschen, nahm in nicht in den Mund. Sie hatte mir erzählt, dass sie einmal dabei einen winzigen Spritzer von ihm auf die Wange bekommen hatte; hysterisch war sie ins Bad gelaufen.) Da war also etwas, das nur wir hatten. „Nur bei dir“, sagte sie…. Beim ersten Mal war sie noch aus dem Bett gesprungen, rüber zum Tisch, wo eine Flasche Jim Beam stand, und hatte einen kräftigen Schluck direkt aus der Flasche genommen. Dann hatte sie gelacht. –
Das Geld war knapp, da nur sie arbeitete. Es lief etwa ein Jahr lang nach demselben Muster ab. Er hörte auf, die Miete zu zahlen. Das bedeutete praktisch einige Monate gratis wohnen, bevor wir rausgeschmissen wurden. Dann mietete er etwas Neues. Immer waren es schöne, große Häuser. Wenn sich einer aufs Blenden verstand, dann er. Viele Umzüge. Schließlich packten wir nur noch das Nötigste aus. –
Er saß im Knast, als der Vater starb. Betrügereien. Die versammelte Familie hatte sein Foto bei Aktenzeichen XY gesehen. „Der Täter ist bewaffnet“, hatte es geheißen. Es gab nur 3 Fernsehsender, und am Tag darauf hörte ich in der Schule immer wieder den Satz „Du kannst ja nichts für deinen Bruder.“
Er wurde vorzeitig entlassen, um an der Beerdigung teilnehmen zu können. – –
Er hatte eingekauft. Endlich. Es war ein kleiner Karton, der auf dem Küchentisch stand. Ich packte ihn langsam, langsam aus. Damit es länger dauerte ihn auszupacken. Um mich darüber hinwegzutäuschen, dass nicht viel darin war. Ich wußte nicht, wie lange ich damit würde auskommen müssen. Als erstes schob ich eine Minipizza in den Ofen. Kaum größer als eine Untertasse. Ich wußte, ich würde sie sehr, sehr langsam essen. Sie würde kalt sein, bis ich zum letzten Bissen gelangte.
Der Geruch war der zweitbeste meines Lebens.

Mein Vater aß Muscheln. Mein Vater aß Krabben. Mein Vater aß alles, was unter Wasser lebte & über Wasser starb. – Ich war fasziniert davon, aber niemals hätte ich es über mich gebracht, etwas davon zu probieren. – Erst Jahre später, als ich Hemingway las, bekam ich durch dessen Beschreibungen solchen Appetit auf alles Fischige, dass ich es einfach probieren musste. Und es wurde Liebe daraus.

Immer wenn ich 20 Minuten zur Verfügung hatte – oder mich langweilte – sah ich mir ‚La Goccia D’Acqua’ an.

Er packte sie am Handgelenk & zog sie hinter sich her. Sie war nackt. Es war spätabends, düster im Haus, wenige Lampen waren eingeschaltet. Nur ihre langen blonden Haare leuchteten.
„Lass sie doch in Ruhe“, sagte ich. Beschwörend.
Er sah mich kurz an. Seine Stimme, ruhig & bedrohlich, sagte:
„Du bist ganz still.“
Dann ging er mit ihr die Treppe runter, ich hörte ihre nackten Füße auf den Stufen.
„Was soll der Scheiß“, sagte sie. Aufgeregt. „Laß mich was anziehen. Bitte. Schatz.“
Unten wurde die Terrassentür aufgezogen. Ich lief nackt an mein Fenster, öffnete es in die Dunkelheit. Die Außenbeleuchtung ging an. Ich sah, wie er sie zum Auto zerrte … hinein zwang … hörte Drohungen … er stieg ein … der Motor heulte auf … die Scheinwerfer wurden aufgeblendet … rückwärts raste er die Auffahrt hinunter … unten quietschte es, der Wagen machte eine Vierteldrehung … dann Kickdown (es war ein Camaro Automatik mit ich weiß nicht wieviel PS, mit einer Beschleunigung, die man in den Eingeweiden spürte) … ich sah die Rückleuchten …
Ich zog eine Hose an & setzte mich auf das Fensterbrett. Adrenalin überall. Die Ortschaft war nicht groß, ich hörte Aufheulen, Quietschen, Aufheulen, Quietschen. In der Nähe. In der Ferne. Wieder in der Nähe. Das Autorennen eines Wahnsinnigen. Alle mußten es hören. Es schien keine anderen Geräusche zu geben. Ab & zu sah ich die Scheinwerfer & Rückleuchten in der Ferne, auf höher gelegenen Straßen.
Ich wartete. Es war warm. Meinem Fenster direkt gegenüber war das Fenster eines Klassenkameraden; in der Schule saßen wir nebeneinander. Er machte manchmal Andeutungen, aber wenn ich nachhakte, tat er immer so, als wisse er nicht, wovon ich sprach. Sein Fenster war dunkel. – Vorsichtig waren sie & ich nur meinem Bruder gegenüber, wir versuchten es zumindest. Der Rest der Welt war uns scheißegal. Sollten alle sehen, hören, denken, was sie wollten.
Irgendwann wurde es leiser draußen.
Und irgendwann bewegten sich die abgeblendeten Scheinwerfer wieder auf die Auffahrt zu. Ich schloß das Fenster, blieb dahinter stehen. Sie stieg als erste aus. Nackt ging sie auf das Haus zu. Zitternd. Er schloß den Wagen ab & folgte ihr.
Die Terrassentür wurde zugezogen, die Außenbeleuchtung ging aus, ich hörte, wie sie die Treppe hochkamen. Wie sie wortlos im Schlafzimmer verschwanden.
Ich war knapp 17, er 27.
Sie war 21. – –
Am nächsten Tag starb Elvis.
Mein Bruder sagte zu mir: „Wir unterhalten uns jetzt mal.“
Wir gingen ins Wohnzimmer & setzten uns. Sie war noch oben. Ich wartete. Ich war gespannt.
Er fing an. „Also, du weißt ja, dass es in unserer Familie sowas noch nie gab. Eine Frau & 2 Männer. Bei uns hat der Mann eher mehrere Frauen.“
Ich grinste. Wahrscheinlich grinste ich blöd. Dachte nur: Scheiße, wie ich dieses Klischee hasse!
„Wir haben uns letzte Nacht unterhalten“, sagte er. „Kurz & gut, wir werden es mal versuchen.“
Ich sagte nichts; machte aus meinem Gesicht ein Fragezeichen.
„Tagsüber, wenn ich nicht da bin, hast du sie, und abends, wenn ich nach Hause komme, hab ich sie. So einfach ist das. Ok?“
Verwirrter hätte mein „Sicher“ nicht klingen können. Er, der Eifersüchtigste der Eifersüchtigen …. Was sollte das?
Schließlich kam sie ins Zimmer.
„Und?“ sagte sie. „Alles geklärt?“
„Alles geklärt“, sagte er.
Sie lächelte.
Wir frühstückten.
Dann verließ ich das Haus wie immer. Aber ich ließ die Schule sausen. Ich wartete im Verborgenen, bis mein Bruder zu Arbeit fuhr. Dann ging ich zurück.
„Das war klar“, sagte sie strahlend, als ich zur Tür herein kam.
Ein langer Kuss.
„Was war das denn jetzt?“ sagte ich schließlich. „Was ist passiert, wie kann das sein?“
„Ich bin mir auch nicht sicher, was er vorhat“, sagte sie. „Aber vielleicht ist es ja wirklich sowas wie schlechtes Gewissen.“
Sie erzählte. Sie waren auf die Böschung bei der Eisenbahnbrücke zugerast. „DAS WAR’S!“ schrie er. „ICH KILL UNS BEIDE!“ Der Abhang kam immer näher, im Fernlicht. Der Motor so laut. Sie, nackt in den Sitz gepresst …. Erst im allerletzten Moment fing er den Wagen ab, rutschend, kreischend, ausbrechend. Es war Millimeterarbeit. Er hielt an. Legte die Hände um ihren Hals. „Wenn ihr noch einmal … NOCH EINMAL …..“
Man konnte nichts erkennen an ihrem Hals.
„In der Nacht haben wir dann lange geredet“, sagte sie. „Tja, und das Ergebnis siehst du.“
Wir gingen in mein Bett. Unser Bett.Wir jagten uns nackt durch das Haus, vor offenen Fenstern. Liefen nackt in den Garten. Wir gingen zusammen in die Badewanne. Wir gingen wieder ins Bett. Aßen im Bett, tranken im Bett. Wir mussten es nicht neu beziehen; oder Handtücher unterlegen. Ich liebte die Flecken auf dem Laken. Wir sahen im Bett Dokumentationen über Elvis. –
Was für Tage! Es war unglaublich. Morgens gab sie mir vor seinen Augen einen Begrüßungskuss. Alles leuchtete. Selbst die Schule leuchtete. Wenn ich mal hinging. Mein Kumpel deutete an, ich fragte nach, er grinste nur. Mir gefiel das. Der Weg nach Hause leuchtete am meisten. Es kann in jenen Tagen keine Wolken gegeben haben. Immer lief sie auf mich zu. Immer zogen wir uns sofort aus.
Abends saßen wir zu dritt vorm Fernseher, oder wir spielten mal wieder Karten. Dann war nur noch sie nackt. Wir lachten. Er begrabbelte sie ab & zu. Ich lachte trotzdem.
Wenn ich sie nachts stöhnen hörte, lachte ich nicht mehr. Aber noch schlimmer war es, wenn ich es morgens hörte. Es war, als wollte er sie, bevor er das Haus verließ, noch mal ordentlich durchficken, damit ich weniger von ihr hatte. So dachte er, ich war mir sicher. Eine Rechnung, die nicht aufging.
Nach ungefähr einer Woche war es vorbei. Er nahm sie einfach mit. Kein tagsüber hast du sie mehr. Sie war tagsüber nicht mehr zu Hause. Abends verschwanden sie sofort im Schlafzimmer; ich hatte keine Gelegenheit, mit ihr zu sprechen. An diesen Tagen ging ich durch die Zimmer. Ich drehte die Musik auf. Unsere Musik. Musik, die mich noch weiter runterzog. Leonard Cohen. Ich setzte mich ins offene Fenster. Hin & wieder wechselten mein Kumpel & ich einige Worte von Fenster zu Fenster, aber er wußte, wie ich drauf war, und ließ mich in Ruhe, als er merkte, dass ich nicht reden wollte. Ich versuchte zu lesen, dort auf dem Fensterbrett. Es war mein Lieblingsplatz, wenn sie nicht da war. Wenn es Dunkel wurde, blieb ich dort sitzen, machte kein Licht, überblickte den Ort & wartete auf das vertraute Motorengeräusch. –
An einem dieser Abende hielt der Camaro, und auf der Beifahrerseite stieg eine Frau mit dunkler Kurzhaarfrisur aus.
Ich wußte, dass sie es war. Und ich wußte, es war vorbei.
Sie kamen ins Haus, sie gingen ins Bad.
Ich klopfte an die Badezimmertür.
„Ja?“ sagte mein Bruder.
Ich öffnete die Tür, beachtete ihn nicht, sagte zu ihr (meingott, wie sieht sie aus!):
„Kommst du mal, ich muss mit dir sprechen.“ Ich machte sofort kehrt, ohne auf Antwort zu warten. Ging in mein Zimmer, setzte mich aufs Bett.
„Ich erklär’s ihm nur“, hörte ich sie sagen.
Sie kam herein, setzte sich neben mich.
„Bitte nicht“, sagte ich & fing sofort an zu heulen. Zitterte.
Sie weinte. „Ich kann nicht mehr“, sagte sie, „es hat keinen Sinn. Das mußt du verstehen.“
Irgendwelche Sätze folgten. Alles verschwamm.
Er rief nach ihr. Mit bestimmtem Ton.
Sie ging ………….
Die Tage wurden trübe. Viele Tage. Eine Woche : das sind viele Tage. Eine Woche, in der ich wie im Nebel ging.
Für meinen Bruder war die Sache geklärt. Aus der Welt. Aus seiner Welt. Alles normalisierte sich wieder.
An dem ersten Tag, an dem er wieder alleine zur Arbeit fuhr, stand sie plötzlich hinter mir. Sie nahm mich in den Arm, ich drehte mich herum. Ein Kuss. Ein Kuss. Ein Kuss.
„Es tut mir leid“, sagte sie.
Wir gingen ins Bett. Mit Angst. Angst, die stark war. Aber nicht stark genug.
Wie seltsam war es, diese dunkle Männerfrisur zwischen meinen Beinen zu sehen. Wie seltsam, in dieses Haar zu fassen, während der Kopf sich auf & ab bewegte. Und ich das Schlucken hörte.

„Möchtest du reiten?“ fragte meine Mutter.
„Oh ja“, sagte ich.
Es war ihr 2. Kuraufenthalt auf Norderney. Nun war ihr Mann eine Leiche, und ich wollte reiten.
Das Pferd erschien mir riesig. Ich fühlte mich so klein. Es nickte mit dem Kopf, als ich neben ihm stand. Ich streichelte – vorsichtig – seine Blässe.
Der Typ, der dieses Touristengeschäft betrieb, sagte:
„Es scheint dich zu mögen.“
Das gefiel mir; ich musste grinsen. – Er hob mich hinauf.
Ich ritt im Kreis. In einer Gruppe. Ab & zu gab es eine Diagonale. Ich federte. Wie man es mir erklärt hatte.
Ausblick von oben.
Leichter Trab. Mehr war es nicht.
Aber Leichter Trab erschien mir schnell. –
Meine Mutter hatte ein kleines Appartment gemietet. Als wir Abends zurückkehrten & das Licht einschalteten, wurden die Kakerlaken hysterisch; sie versteckten sich …. unter den Fußleisten …. hinter dem Herd …. hinter Schränken; eine, auf der Suche nach einem Versteck, lief über meinen Schuh – ich unterdrückte einen Schrei.
Es gab einen Kühlschrank voller Minibarfläschchen. Ich roch am Whisky. Trank ihn. Fand ihn eklig. Ahnte, dass ich ihn – irgendwann – lieben würde. Und alle seine Brüder & Schwestern. Und Schwägerinnen.
Ab & zu gingen wir kegeln.
Es war das Jahr, als ABBA den Grand Prix gewannen. Wir sahen es hier, in diesem Apartment. Und die beiden Mädels machten mich geil.
Aber dazu gehörte nicht viel.

Mein Vater konnte seine Schwiegereltern nicht leiden. Die genauen Gründe erfuhr ich nie. Aber mein Großvater war ein überzeugter Nazi gewesen, und schon das allein mußte meinen Vater abstoßen.
Sie waren sehr einfache Leute. Lasen keine Bücher. Mein Großvater roch nach filterlosen Ägyptischen Zigaretten & billigen Zigarren. Ich liebte diesen Geruch & seinen Humor. In einer alten Zigarrenkiste bewarte er seine Nazi-Memorabilien auf.
Seine ersten Lebensjahre verbrachte mein Bruder dort bei den Großeltern. Denn er war in die Lebensplanung meiner Eltern geplatzt. Ein Kondom war geplatzt. Es war kein Platz für ihn. Damals.

Charles Bronson. Lässig. Der öde weite Platz aus Sand. Die Sonne. Die hellen Klamotten, die er trägt. Die Bewegung der Kamera. Aufbau der Spannung. Morricone … Morricone … Morricone ….. Die erschreckende E-Gitarre, als Henry Fonda seitlich ins Bild kommt. Schwarz gekleidet, angespannt. Blicke in Techniscope.
Mein Vater lag auf dem Sofa. Schaute TV: Kennen Sie Kino? Sah diesen Ausschnitt. Er kannte den Tod aus der Nähe. Aber er kannte ‚Spiel mir das Lied vom Tod’ nicht. Meine Mutter & ich hatten den Film gemeinsam im Kino gesehen.
„Na“, sagte mein Vater, „sieht so aus, als müsste Henry Fonda gewinnen. Bronson ist zu lässig.“
„Und hat zu lange Haare“, sagte ich.
Mein Vater lächelte.
Meine Mutter sagte: „Das verraten wir dir nicht. – Schließlich musst du den Film unbedingt noch selber sehen.“
Wenige Wochen später war mein Vater tot. Er starb in dem Glauben, dass Henry Fonda gesiegt habe.

Ich griff nach der kleinen Reißleine. Zog langsam den Tampon heraus. Weiches Gleiten. Es war nicht allzu viel Blut daran. Ich legte ihn auf das Silberpapier, das von der Tafel Schokolade übriggeblieben war, die wir zuvor gegessen hatten. Schob das ganze unters Bett.
Sie lächelte. „Ich hoffe, du weißt was du tust.“
„Ich weiß nie, was ich tue“, sagte ich.
Ich fing an, sie zu lecken. Im alten Ehebett meiner Eltern. In dem manchmal auch eine Freundin meines Vaters mit-übernachtet hatte. In dem mein Vater so viele Bücher gelesen hatte.
Dies Schlafzimmer befand sich im Keller. Direkt unter dem Schlafzimmer meiner Mutter. Die nun ein Einzelbett hatte. Freud persönlich hätte es nicht treffender arrangieren können. Wir konnten ihre Schritte hören. Über uns. Sie hörte unsere Stimmen. Unter sich. Hörte das Stöhnen.
Der Kleine schlief ebenfalls oben – in dem Zimmer, das meines gewesen war. In meinem alten Bett.
Mein Bruder tröstete sich mit anderen Frauen. 500 Kilometer weit weg.
Meine Zungenspitze an ihrem Kitzler …… Heftiges Atmen …… Ihre Finger in meinen Haaren …… Dann: 69 … sie oben …… Meine Hände auf ihren Arschbacken …. Mein Schwanz in ihrem Mund ….. Keine Angst, keine Angst ….. Keine Furcht, erwischt zu werden, keine abgelenkte Aufmerksamkeit, kein Lauschen auf den Schlüssel, der ins Schloss fährt, kein Erschrecken, kein Aufspringen, keine gestammelten Erklärungen …… Ekstase … Fick … Rücksichtslosigkeit … Entspannung …… Spritzen …. (‚Kleiner Tod’ ? = ‚Sterbchen’ ?) ……
& da war nur wenig Blut an meinem Schwanz.
Und es war besser als Karten spielen.

Einige Spinnen & Asseln im Keller sind meine Gesellschaft. Die Pendeluhr habe ich angehalten; denn irgendwann, ganz plötzlich, nach Jahrzehnten, nahm ich sie wieder wahr – & sie schien immer lauter zu werden; so sehr, dass ich es nicht mehr ertragen konnte.
Das Kellerzimmer mit dem Ehebett meiner Eltern ist voll von Gerümpel. Alles Unliebsame habe ich dort einfach hineingeschmissen; auf das Bett, unter das Bett, neben das Bett. In einer Ecke schimmelt die Wand.
Die Geister sind ausgetrieben. Gründlich.
Das ehemalige Schlafzimmer meiner Mutter wird bevölkert von Schaufensterpuppen; meine (kleine) Hommage an Mario Bava. Bunte Lichter. Eine Matratze auf dem Fußboden. Für gelegentlichen anonymen Sex. Für alles, was nicht in meinem Bett stattfinden soll. Und letztlich nichts bringt.
Ein weiteres Zimmer im Keller ist vollgestopft mit den alten wissenschaftlichen Büchern meines Vaters. Nur in diesem Zimmer rauche ich. Die ursprünglich weißen Tapeten sind fast schon braun. Braun wie die Zigarrenkisten meines Großvaters. Die Bücher riechen nach Zigarrenqualm. Nach Staub. Ihr Inhalt ist zum Teil längst überholt; wissenschaftlich eindeutig falsch. Worte aus Schall & Rauch. Es fasziniert mich, diese falschen Fakten (die keine sind) zu lesen. Aus einer Zeit, als man glaubte, die Wahrheit gefunden zu haben.
Der Tod hatte meiner Mutter die Maske der Krankheit abgenommen. Es war seltsam. In ihren letzten Lebensjahren war sie zur Gestalt aus einem Horrorfilm geworden; sie ähnelte der Leiche aus ‚Die 3 Gesichter der Furcht’ oder einer Ägyptischen Mumie noch weitaus mehr, als mein toter Vater es getan hatte (Schmieren sich Bestatter Wick Vaporub unter die Nase?). – Und dann, als ich ihre Leiche im Krankenhausbett sah, war ihr Gesicht entspannt. Fast sah sie aus wie früher … sehr viel früher ….. Ich beugte mich zu ihr hinunter, um mich zu verabschieden.
„Es tut mir leid“, flüsterte ich.
Sterbchen …. Sterbchen ….
Bei ihrer Beerdigung sahen wir uns alle – nach vielen Jahren – wieder. Leuchtend gelb: die Sonne. Mein Neffe: größer als ich. Mein Bruder: grau. Sie: immer noch älter als ich („Du bist zu jung…“); und einmal wurde sie rot wie die kegelförmige Urne meiner Mutter; ansonsten: Blässe. Wie lange dauerte die Beerdigung? – – : 20 Minuten?
Der Vorname meiner Mutter beginnt mit M, aber er lautet nicht Marianne.
Ich bin ein paar Monate älter als Leonard Cohen damals. Damals – seems so long ago.
Die Minibar wurde zur Riesenbar.
Ich bin ganz schön alt geworden.
Aber – – – da hab ich ja wohl ein Recht zu. – –
Und Henry Fonda landete im Staub.

…………………†……………………….†………………………..†………………..

DVD_000(1)


Einton

>Das kaum hörbare Pfeifen in den
Heizungskörpern – so anheimelnd,
so gemütlich, wärmend – – -<

So dachte ich – oder
wollte doch so denken;

allein:
Es war August.
Die Heizung ausgeschaltet;
die Heizkörper kalt &
stumm.

Das Pfeifen war
in mir
in meinem Kopf
in meinem Ohr

& es war
unheimelnd

Die 1-tönige Melodie
des Vergehens

Erdacht von einem
wahnsinnigen Komponisten

Er wollte mich
betäuben –
mich dorthin treiben
wo er selbst längst war

& er war unerbittlich;
& er war ohne Mitleid

Und ich hörte ihm zu.

Und mir wurde kalt –

denn
die Heizung war

kalt

& stumm


Bidet

Da mein Badezimmer alt ist (obwohl,
nicht so alt wie ich), gibt es ein Bidet darin.
Aber das tut nichts zur Sache. Ich saß –
nein, nicht auf dem Bidet – ich saß
auf dem Sofa & blätterte durch diesen
merkwürdigen Kalender – einen
Kalender der Geburtstage.
Wer hatte am selben Tag Geburtstag
wie ich? – – :
Johann Peter Eckermann
Stephen King
Leonard Cohen
H. G. Wells
& diverse TV-Nasen
– – –
Was für ein seltsamer Cocktail, dachte ich
& hob mein Cocktailglas. Na dann, Jungs,
HAPPY B-DAY !


Wortbruch

Mein zerstörter Schädel tauchte
auf aus Betäubung – frische
Blutflecken auf dem Kissen.
Das Gedächtnis lallte etwas von
Vodka, Bier, Tequila, Aspirin;
von Zahlen wollte es nichts wissen;
das Wieviel war Viel gewesen,
aber 1 Aspirin würde schon noch
gehen. Kein Wasser neben dem
Bett, also: trocken schlucken.
Ein geringer Preis für die Euphorie
der vergangenen Nacht.

Selbstexperiment : Selbstzerstörung :
die Unterspülung, Überflutung des
Wortzentrums : Platzregen der Ideen :
Aufbruch der Worte : Sprengung :
Fliegende Fetzen : Gedankengebäude :
Einstürzende Altbauten : Steinbruch :
AssoziaZonen : Das surrealistische
ManiFest : monomanisches Getippe

Gegen Mittag hatte der Handwerker
geklingelt. Der Wasserzähler sollte aus-
getauscht werden. Ich war so besoffen,
dass ich tatsächlich die Tür öffnete.
Ich stotterte ihm meinen Alk-Atem
entgegen. Wie kann man um diese
Uhrzeit dermaßen besoffen sein
, hörte
ich ihn denken. Er arbeitete schnell.
Offenbar wollte er schnell wieder weg;
mein Keller & die Treppe dorthin sind
wie das Set eines Horrorfilms; ich bin
verstörrte Blicke gewohnt. Man hält
mich für exzentrisch oder gemein-
gefährlich (alles Quatsch natürlich).
Außerdem trug ich ein T-Shirt, auf
dem der Schriftzug >PSYCHO<
prangte; das machte es nicht besser.
Er beeilte sich so sehr, dass er seine
Taschenlampe vergaß, obwohl sie
eingeschaltet war. Ich trug ihm sein Licht
hinterher. „Tschüss“ ist ein einsilbiges
Wort; das konnte ich gerade noch
sagen. Dann fiel ich ins Bett. Im Bett
lag die Ukulele, ich spielte noch
ein bisschen, dachte an die Ukulele
von Malcolm Lowry – – &
war weg.

Ich hatte mir kein
Versprechen gegeben, kein:
Morgen trinke ich weniger, morgen
trinke ich mehr – morgen morgen
morgen …..

Ich gebe keine Versprechen.

Worte
breche ich. Auf meine
Art.


Feuervogel in Alufolie

Das Radio weckte mich mit Strawinsky.
Viertelwach erkannte ich den Feuervogel.
Ich war müde; sehr müde. Auf halber
Strecke durch den Tagesschlaf hatten Worte
& Ideen mich ins Bewußtsein zurück
geprügelt. Ich hatte in der Finsternis gelegen
& mit geschlossenen Augen die Worte
nach dem Willen der Ideen geordnet. Es
dauerte. Als ich fertig war, speicherte ich
alles in meiner Sülze & schlief weiter.
Nun also: Wach. Ich mache Licht, stehe
auf. Gehe ins Wohnzimmer. Auf dem
Schlitten der Schreibmaschine – 1 leeres
Blatt Papier ist eingespannt – sitzt ein
Nachtfalter. Ich fahre Schlitten mit ihm.
Tippe das Kopfgespeicherte. Dem Falter
isses egal. Der Schlaf hat manches im
Text gestrichen, anderes hinzugefügt.
Fertig, ich gehe kacken.
Dann: Frühstück. Bereit machen für die
Arbeit; zumindest äußerlich bereit.
Ich steige ins Auto, fahre 45 Kilometer
durch die Dunkelheit in die Ödnis der
Fremdbestimmung & des Zeitraubs ….
Job Job Job Job (gut dass ich einen habe,
aber meckern über die Tatsache, einen
haben zu müssen, tue ich trotzdem)….
Alufolie [das Wort hat hier nichts zu
suchen & keinen Sinn, aber ich habe
Lust, es zu schreiben, also tu ichs –
TippTourette] …
Ich komme im Hotel an, spieße mein
Jackett mit dem Namensschild auf; bin
beschildert, gelabelt, gekennzeichnet.
Es ist Samstag. Nicht lange, und die
Lobby füllt sich mit Besoffenen, die aus
der Bar & der Stadt in Strömen fließen.
Eine Menge Vertretervisagen darunter;
Menschen, die unter der Woche kuschen,
und sich am Wochenende rächen. Es
fühlt sich gut an, neben ihnen nüchtern
zu sein. Unter der Woche bin ich ein
Säufer, aber wenn alle saufen, wenn
sowas säuft, vergeht mir die Lust. Wie laut sie
sind. Wie uninspiriert die Roten Augen tränen.
Alkohol weiß mit ihnen nichts anzufangen;
selbst dem Bier sind sie zu blöd. Blicke,
so hohl, dass sogar die Leere ein Echo hat.
Ich setze mich hin, öffne das Textprogramm
& tippe vor mich hin, die Arbeit kann
warten, in der Bar splittert ein Glas, das
Telefon klingelt, jemand reserviert für
nächste Woche, ein Schwarm Chinesen
betritt die Halle, auch sie besoffen, aber
anders, sie sind höflich, entern den Aufzug,
verschwinden, ich tippe weiter, eine
Vertretervisage tritt an die Rezeption,
beginnt mich zuzulallen, ich antworte höflich
wie ein Chinese, aber mein Gesichtsausdruck
veranlasst ihn, sich meinen Namen zu notieren, gut,
dass ich ein Namensschild trage, jetzt werde ich
vielleicht berühmt in irgendeinem Internet-
portal, fluchend schließt er sich wieder seiner
Herde an, ich tippe weiter, draußen Blaulicht
& Sirenen, es ist Samstag, Jetzt zuhause sein,
denke ich, mit dem Nachtfalter & dem Feuer-
vogel
, ich tippe das Ende, schicke mir das
Ganze per Email nach Hause, klicke auf das
Kreuz oben rechts ‚Wollen Sie speichern?’,
Nein, will ich nicht. Weshalb bin ich hier?
Ach ja, Arbeiten. Also arbeite ich jetzt. Inzwischen
redet man über Fussball. Gläser klirren. Die
Kollegin aus der Bar bringt Nachschub in die Lobby;
anzügliche Bemerkungen (schon jetzt ist klar, sie
werden ihr kein Trinkgeld geben, wir kennen
unsere Pappenheimer), auf dem Rückweg
lächelt sie mir zu & schaut gen Himmel.
2 Glasaugen nähern sich mir, aus dem Biermaul
sprüht ein Wort: „Toilette?“ Ich gebe eine
Wegbeschreibung (Kotz Blut! denke ich). Und
so geht es weiter weiter weiter. Job Job Job.
Stunde um Stunde. Bis es dämmert.
Dann nehme ich das Namensschild ab, es
fließt kein Blut aus den Wunden des Jacketts,
und ich fahre 45 Kilometer durch das Morgenlicht
in die Oase meiner Selbstbestimmung.
Der Nachtfalter hat den Schlitten verlassen.
Der Text ist noch da. Die Email ist eingetroffen.
Ich werde heute nichts trinken. Und auch auf
der Festplatte habe ich den
Feuervogel.


Erste Sätze

Ich habe verrückte Angewohnheiten.
Schrullen.
In manchen Nächten, seltsam-disparate
Musikmixturen donnern durchs Haus
(Heavy Metal, Swing, Klassik, Pop,
Bebop, Oper), Flaschen sitzen
locker wie die Colts eines Revolver-
helden, da tänzle ich durch die Räume,
vorbei an den Regalen, & ich ziehe einige
meiner Lieblingsbücher heraus, nur
um den jeweils Ersten Satz wieder
zu lesen – selbst wenn ich ihn auswendig
kenne; ich will ihn sehen. Ich liebe
Erste Sätze! Sie entscheiden. So wie
es manchmal der Erste Blick tut.

-Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.
-Dem Höhepunkt des Lebens war ich nahe, da
mich ein dunkler Wald umfing und ich, verirrt,
den rechten Weg nicht wieder fand.
-Stattlich und feist erschien Buck Mulligan am Treppen-
austritt, ein Seifenbecken in Händen, auf dem gekreuzt ein
Spiegel und ein Rasiermesser lagen.
-Angefangen hat das so.
-Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf das
Nichts des Neuen.
-„Was ist das. – Was – ist das …“
-Zwei Gebirgsketten ziehen sich in etwa nordsüdlicher
Richtung durch die Republik, und dazwischen breitet sich
eine Anzahl von Tälern und Hochplateaus aus.
-Zuerst dieses hauchend lange, pfeifende Heulen, mitten in der
Luft, als käme die Lokomotive, die Sie nirgends sehen, im
Bogen unter den Wolken hervor, die unbewegt niedrig über
dem Hügelrand warten, bis man sie nicht mehr erblicken wird.
-Da ist ja die Person, die ich gesucht habe.
-Es war in jener Zeit, als ich in Kristiania umherging und
hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verläßt, ehe
er von ihr gezeichnet wurde …
-Das Schauspiel dauerte sehr lange.
-Ende November bei Tauwetter gegen neun Uhr morgens
eilte der Eisenbahnzug Warschau-Petersburg mit Volldampf
seinem Endziel entgegen.
-Nichts Niemand Nirgends Nie !
-Ein heiterer Juniusnachmittag besonnte die Straßen der
Residenzstadt.
-Am Wahltag war es über mich gekommen.
-Hört meine letzten Worte.
-Der Captain rührte keinen Alkohol an.
-Dies hier ist ein erstes Kapitel, welches verhindern soll, daß
vorliegendes Werkchen mit einem Zweiten Kapitel beginne.
-Aus einer privaten Irrenanstalt in der Nähe von Providence,
Rhode Island, verschwand kürzlich eine höchst sonderbare
Person.
-Er stand vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses und war frei.
-Kaufleute, Autoren, Mädchen und Quäker nennen alle Leute,
mit denen sie verkehren, Freunde; und meine Leser sind also
meine Gast- und Universitätsfreunde.
-Es regnete, als ich um 5 Uhr morgens in New Orleans eintraf.
-Wir saßen an unseren Aufgaben, als der Rektor eintrat.
-Mehr als zwei Monate vergingen, bevor Des Esseintes in die
Stille seines Hauses bei Fontenay eintauchen konnte.
-Ich wohne in der Villa Borghese.
-Unglücklich ist derjenige, dem die Erinnerungen seiner Kindheit
nur Angst und Traurigkeit bringen.
-Mein Vater war ein Kaufmann.
-Heute ist Mama gestorben.
-Dann war das schlechte Wetter da.
-Das beste wäre, die Ereignisse Tag für Tag aufzuschreiben.
-Es gab in der Stadt zwei Taubstumme, die man stets beisammen
sah.
-Das Mondlicht fällt auf das Fußende meines Bettes und liegt
dort wie ein großer, heller, flacher Stein.
-Wahrhaftig! – reizbar – sehr, fürchterlich reizbar waren meine
Nerven gewesen, und sie sind es noch; doch warum meinen Sie,
ich sei verrückt?

Ja, verrückt.
Ich habe verrückte Angewohnheiten.
Die Musik donnert durchs Haus.
Und die Flaschen sitzen locker.
Und ich werde noch lange unterwegs sein,
vor den Regalen.


Ich bin hier falsch

Irgend jemand drückte mir eine Geige in die Hand;
ich war 12 oder 13. Hatte noch nie eine in der Hand
gehabt. Ich probierte etwas. Jemand sagte:
„Was ist nur mit diesem Jungen los? Man gibt ihm
irgendein Musikinstrument, und sofort kann er
darauf etwas spielen. Und zwar etwas, das richtig
& schön klingt.“
Er schenkte mir
die Geige. Nach ein paar Monaten ging sie
kaputt. Und damit war die Sache für mich
erledigt. (Mein Ehrgeiz war schon damals nicht
besonders ausgeprägt.)
Als ganz-kleines Kind hatte ich ein billiges Keyboard
gehabt; meine Eltern lauschten andächtig meinem
Geklimper, kamen aber nicht auf die Idee, mir
Klavierunterricht zu verpassen. Auch
das Keyboard ging kaputt, und ich
bekam kein neues. Diverse andere Instrumente folgten
stattdessen. – Mit 11 bekam ich eine Gitarre. Und mit 15
sagte ich mir: Verdammt, ich will auch mal etwas
lernen; etwas beigebracht bekommen; etwas, das
ich mir nicht selber beibringen kann…..

In der Zeitung lockte das Inserat eines Musik-
lehrers, der in einer Schule einen Gitarren-Kurs geben wollte.
Ich ging dorthin. Spielte vor. (Malagueña) Er sagte:
„Ich kann dir nichts mehr beibringen; tut mir
leid, du bist hier falsch.“

Er hatte sicherlich recht; er mußte es schließlich
beurteilen können. Wofür war er sonst Lehrer?
Und ich gab den Wunsch auf, mir etwas
beibringen zu lassen. – Und zwar:
in allen Bereichen des Lebens.

Immerhin – das alles hatte mich etwas gelehrt:
1.) Das, worauf es wirklich ankommt,
bringt einem keiner bei; will oder kann einem
niemand beibringen.
2.) Es bringt einem nichts, wenn etwas richtig & schön klingt.

Und

3.) – – – Ich bin hier falsch.


Alles

Die Symphonie dauert 53:62 Minuten

Die Oper hat HämorrhoidenDauer

& da ist dieser Song, der
dauert 1:34 Minuten

und er sagt

Alles


Fingerkuppen

Ich sah ihre Fingerkuppen
Vibrato auf dem Hals des Cellos
Sah das Licht der Scheinwerfer
auf ihrem Haar

Hörte Bach

Wie schön ihre Finger waren
Wie schön ihre Fingernägel
Kurz gefeilt & glänzend

Noten
die zitterten

HarmoNie
HarmoImmer
HarmoEwig

Ich sah ihre Oberarme
im Rhythmus
der Noten

Sah ihre geschlossenen Augen

Konzentriert aufs Wesentliche

Hörte

Hörte

Ewigkeit


Mein kostbarster Besitz

Mein Hirn: eine matschigfaule Frucht
Ein Kater schnurrte darin &
spielte mit seiner Schwanzspitze
Die Sonne tat was ich wollte: Sie ging unter

Was war passiert
letzte Nacht oder
am Morgen bevor ich
schlafenging?

Ich erinnerte mich
dunkel

Ein Gefühl war gekippt
wie billiger Wein der
zulange offen steht

Essig

Ich konnte wieder klar
sehen

Nicht dass mir an der Klarheit
viel gelegen wäre
Aber ich gehörte wieder
mir selbst

Mein kostbarster Besitz

Ich machte mir mein
abendliches Frühstück:
Eier mit Schinken auf Toast
Ketchup
1 Liter Grüner Tee &
ging damit zurück ins Bett

Schaltete das Radio ein
atmete unfrische Luft &

fühlte mich gut

Gedanken kehrten zurück
in meinen Schädel
Sie waren mein Eigentum
Gedanken wie reife
Eiterbeulen

Und diejenigen
die nicht von alleine platzten
konnte ich
ausdrücken

Die nächste Nacht
stand bevor

Mehr brauchte ich nicht

Mehr brauche ich
nie


Die Beschaffenheit des Wahnsinns

Der Helle Wahnsinn!
Der Reine Wahnsinn!

Nein danke
kein Bedarf

Ich brauche den
Dunklen Wahnsinn
Den Wahnsinn
der nachts auf Friedhöfen swingt
& die Fuselflaschen auf
Grabsteinen zerschmettert

Ich brauche den
Unreinen Wahnsinn
Den Wahnsinn
der voll von schmutzigen Gedanken
aus dem Sumpf des Lebens
kriecht

Gelächter
in Dunkelheit & Dreck

Versiffte Schatten
die mit mir tanzen
zur Musik eines Komponisten
der in geistiger Umnachtung
endete

Danse Macabre!

Bilder von
abgeschnittenen Ohren

Fantasien
die hinter syphilitischen Stirnen
geboren wurden

Schwarzes Feuer
das ewig brennt

Helligkeit
Reinheit
Ich brauche Euch nicht !

Ich kenne die Gosse
in die der Dichter fiel
schwarz gekleidet

in einer Nacht
die niemals endete


Synkopen

Wenn das Leben zum Refrain wird
öde Harmonien sich wiederholen
langweilige Melodien einen beleidigen
Wenn dumpfe Rhythmen, die
zum Mitklatschen reizen sollen
einen in den Wahnsinn trommeln

dann pfeife ich
ganz leise
für mich
die Dissonanzen
klopfe mit den Fingerspitzen
Synkopen
auf meinen Schläfen

& das Lachen
tief in meinem Innern
wird lauter
als jeder
Refrain


Als ob

Aus dem Mülleimer
nahm ich mir das Bruchstück einer
Gardinenstange

Ich war 5
Ich stellte mich vor den Fernseher
Es lief ein Symphoniekonzert

Ich dirigierte
Ich wußte: sie folgen mir
Der Dirigent tut nur so
als ob

So
blieb
es


Die Philosophie der Wiederholung

Ich habe einen falschen Ton gespielt
Sofort wiederhole ich ihn
Und ich denke: alle werden denken:
Was für eine coole Sau, diese
Dissonanz ist
großartig!


real ?

Und wieder verliebe ich mich in die
Unbekannte –
nie gesehen, nie gehört – nur
gelesen – – –
hoffe, dass sie Kinskis Bücher auf dem
Nachttisch hat – & den Faust im Herzen trägt

komponiere Lieder für sie,
werfe Reime auf den Müll, weil
Kunst ihr nicht gerecht wird –
zeichne sie dennoch –
mit Blut

& sage mir :
das ist die Einsamkeit –
das ist nicht die
Realität – – –


Vorbereitungen

Meine 1033ste Wiedergabeliste erstellt –
für jede Gelegenheit eine :

Musik für die Badewanne
Musik zur Entspannung
Musik zum Verrücktwerden
Musik für den Vertreterbesuch
Musik zum Kochen
Musik zum Saufen
Musik zum Weinen
Musik zum Schweigen
Musik zum Bügeln
Musik zum Erwachen
Musik zum Einschlafen
Musik zum Müllrausbringen
Musik für den Selbstmord
Musik zum Lachen
Musik zum Lesen (nein, Quatsch, stört nur)
Musik zum Essen
Musik zum Staubwischen
Musik zum tonlosen Fernsehen
Musik zum Nägeleinschlagen
Musik für den Blowjob (nein, Quatsch, stört nur)
Musik zum Musikhören
Musik zur Kontoauszuglektüre
Musik zum Mixen
Musik zum Wichsen
Musik zur Pediküre
Musik zum Kloputzen
Musik zum Haareschneiden
Musik zum Träumen

……………………………


Tag & Nacht

Kaleidoskopierende Gedanken aus Schlaflosigkeit,
Ideendonner in der Finsternis. Ich
möchte schlafen, möchte träumen, möchte –
wachbleiben. Möchte den Schlaf hinter mich bringen,
möchte aufstehen & liegenbleiben, aufschreiben ohne
mich zu bewegen. Hirngewitter. Ich drehe mich, Filme drehe ich,
fantastische Neuronenblitze, Begeisterungen,
große Opern, Bilderflüge, fliegende Teppiche aus
Daunen, Stromschnellen & Kurzschlüsse,
sprühende Metaphern in Endlosschleifen;
die Kissenfüllung aus Flügeln gemacht, Pegasus,
blutig von den Sporen dieser verdammten, dieser
geliebten Schlaflosigkeit.

Doch irgendwann wirft mir der Schlaf dann doch noch
ein paar Brocken Bewußtlosigkeit in den Bettelhut –
„Da, nimm!“
Ich schlafe.

Schlafe.

Ideen
vergehen.

Ich wache auf –
müde & blöde & leer
wie immer.