12 Uhr mittags

12 Uhr mittags in der Apotheke.

»Sind Sie gerade aufgestanden?«
»Nein, ich gehe gleich schlafen.«
»Die Tabletten muß man morgens einnehmen.«
»Also vor dem Schlafen.«
»Nein, nach dem Aufstehen.«
»Ich stehe abends auf.«
»Hm, schwierig. Ich weiß nicht…«
»Okay, danke, tschüss.«
Kurze Pause.
»Äh – ja.«
Ich gehe zum Ausgang. Da
ruft sie hinter mir her:
»Gute Nacht!«

Herz auf, Tür auf. Raus.


Das Unglaubliche

Sein 91jähriges Gesicht
konnte ich mit seinem 70jährigen Gesicht
einfach nicht
in Verbindung bringen

War er das?
Nein
Das konnte er nicht sein
Oder doch?

Diese 21 Jahre waren so lang
wie alle 21 Jahre lang sind

Wie konnte – – –

Die Gleichförmigkeit der Zeit hilft
Niemandem
Der Verfall hält sich nicht daran
Was lebt verfällt ungleichmäßig

Doch das eigentlich Unglaubliche:
21 Jahre lang hat er in den Spiegel geschaut
Heute sehe ich aus wie gestern, hatte er gedacht
Am Tag darauf dachte er es auch

Er erkennt sich noch heute
Ja, das bin ich, denkt er

Manchmal war das Erschrecken groß
Als hätte er sich jahrelang nicht gesehen
Doch das verging

Wie er selbst


Der Scherz des Fotografen

Niemand           weiß,          was        das       Foto     zu     bedeuten     hat.
Es        ist        ein                  Rätsel,       so              rätselhaft,              dass
man        es       für etwas         anderes       als         ein     Rätsel         hält.
Der             Gegenstand,                 der            alles    erklären          würde,
lag        im           Blickfeld           des     Fotografen.       Er       hatte     ihn
beiseite geschoben.      Beinahe wäre sein Schatten in das Bild gefallen.

Der Fotograf lachte, als er das Foto betrachtete.


			

Für Alle

Es gab eine Zeit

Da war mein stets berauschter Geist überzeugt
Die völlige Einsamkeit werde der Schauplatz
Meines künftigen Lebens sein

So wie sie der Schauplatz meiner Gegenwart war
der Schauplatz vieler vergangener Jahre
Ein Schlachtfeld, auf dem man gegen sich selber kämpft

Suff, Bücher, Leere, Kälte —
Der Lebensabend in tausend Nebeln.
Die Selbstzerstörung in voller Fahrt.

Niemals niemals NIEMALS

Würde mehr Ersehntes
Meine Burg, meine Festung
Betreten.

Was ich mir wünschte
Gab es nur noch auf Bildern
Und Bildschirmen

Glatt, geruchlos, zwei Dimensionen
Ohne Tiefe, ohne Wärme
Ohne mich.

— — –

Wie fremd
Ist mir diese Vergangenheit
Dieses Ich

Von damals! Heute!

Sieh doch:
Eine junge Frau geht
Nackt zwischen Bücherregalen

Ich darf sie berühren
Sie berührt und rührt mich
Sie schmeckt und duftet und lebt

Hier. Der Suff ist vergessen.
Die Nüchternheit berauscht.
Meine Burg, meine Festung

Wird barfuß durchtanzt.
Ich dürfte es kaum glauben können.
Aber doch, aber ja.

Ich glaube es. Ich sehe es.

Sie nimmt ein Buch aus dem Regal
Eins meiner alten Bücher
Es ist eine Lücke entstanden

In der Reihe der Folianten
Das Buch lebt auf
In der Lücke steht ein unsichtbares Album

Ich bin in diesem Leben
Sie ist in diesem Leben
Wir sind in unserem Leben

— — —

Was ich eigentlich sagen will:
Es gibt Hoffnung.
Es gibt Erfüllung.

Was es für mich gab
Gibt es für Alle. Für Alle
Die ebenso verzweifelt zweifeln

Wie ich überzeugt war
Die völlige Einsamkeit werde der Schauplatz
Meines künftigen Lebens sein.

Sieh doch: da
Ist sie nicht schön?
Ich könnte es kaum glauben

Wenn ich es nicht wüsste.
Verstehst du, was ich sage?
Für wen ich es sage?

Stell das Buch nicht zurück
Dort steht jetzt ein Album.
Ich blättere manchmal darin


Kolonie

Am Ende des Tages sind wir fein
mit allem, denn Alles macht einen Sinn.
Isses nich nice?

Deutschland – die Sprachkolonie.
TrumpLand grüßt aus der Lederhose.
Man möchte puken.

Schnell noch’n Burger in die Wampe
& ein T-Bone-Steak auf den Grill.
Immer wieder ein Wunder

dass die Gehirne nicht aus den Nasenlöchern laufen.
Aufgeweicht von den Massenprodukten
aus Hollywood.

Vomit hamwa das verdient?
Mit der Blödheit, meine Lieben,
mit der Blödheit.

Sie sehen die fünfte Staffel des dritten Teils der Nichtigkeit.
Und das Popcorn ist so laut,
dass man den eigenen Hass kaum noch hören kann.

Mit dem Amoklaufen allerdings hapert es
hierzulande noch. Es wird viel zu selten
geschossen. Doch das kriegen

wir auch noch hin.
Wichtig ist, was hinten rauskommt
am Ende des Tages.

Right?


Nichts wie weg

Ein alter Mann ging
An einem Spiegel vorbei
Ich kannte ihn

nicht. Aber
Wir hatten dieselben Erinnerungen.
Ganz kurz

Schauten wir uns in die Augen.
Dann schauten wir erschrocken
Nichts wie weg


Ein alter Mann ging
An einem Spiegel vorbei
Ich kannte ihn

kaum. Aber
Wir hatten ähnliche Erinnerungen.
Ganz kurz

Schauten wir uns in die Augen.
Dann schauten wir erschrocken
Nichts wie weg


Dornen, oder: Ein schlechter Tausch

In meiner Kindheit
Konnte es mich glücklich machen
Einen breiten Gürtel zu haben

Einen Gürtel mit 2 Dornen.

Es war mir wichtig
Wie hoch die Absätze meiner Schuhe waren.
Es konnte mich traurig machen

Wenn mir etwas nicht perfekt erschien.

Aber die sogenannte Gelassenheit des Alters
Die Erkenntnis was wirklich wichtig ist
Im Leben

Sind ein Dreck dagegen.


Drei Silberlöffel

Drei Silberlöffel gewann Cervantes.
Das war der erste Preis
In einem Gedichtwettbewerb

Aber mit einem Silberlöffel
darf man nicht mal ein weichgekochtes Ei essen
das man nicht hat

Man kann geboren werden
mit einem silbernen Löffel im Mund
Man muss ihn abgeben

wenn es soweit ist.
Doch was ist damit gewonnen?
Man könnte

irgendetwas rühren
wie mit einem Gedicht
für das man sich nichts kaufen kann

Etwas auslöffeln
das zu dünn ist
um es in die verkrüppelte Hand zu nehmen

Aller guten Dinge sind
nichts. Kennt jemand
dieses Gedicht?

Ich kenne es nicht.


Der Autodidakt

Wem – nein, wer sich die Tür zur Literatur nicht in früher Jugend öffnet, der wird nimmermehr einen Zugang finden. Man trägt den Schlüssel tief in seinem Innern. Oder eben nicht. Wer sich gewaltsam Eintritt verschafft, wird ein Einbrecher im fremden Gebäude sein und nicht wissen, was er stehlen soll. Wer darauf hofft, Andere könnten ihm Einlass gewähren, hat nicht begriffen, dass er so bestenfalls Gast oder Museumsbesucher sein würde. Man kann sich vielleicht umschauen, ein bisschen was lernen sogar, aber im Gefühl des Besitzens darin leben kann man nicht. Und was man zu lernen vermöchte, ist niemals das Wesentliche.

Nun gut, sollen Lehrer und Professoren meinetwegen sich mithilfe des allgemeinen Irrglaubens ihre Existenzen sichern. Vielleicht hilft es ihnen durchs Leben, sich und das, was sie tun, ernstzunehmen — das ist immerhin auch etwas wert und verursacht keinen nennenswerten Schaden. Wir machen uns alle etwas vor. Und wenigstens dies lässt sich sogar lernen.

Aber jetzt entschuldigen Sie mich. Klingeln Sie nicht, klopfen Sie nicht. Ich werde nicht öffnen. Denn ich habe nichts zu tun.


Als wäre es Gras

Die Süßigkeit machte ihn müde.
Die Müdigkeit machte sie süß.
Sie gähnte, er schluckte.

Dann schlief sie. In der Pralinenschachtel
gähnte die Leere. Zu süß,
dachte er, kann es nicht geben

und biss in das letzte Herz.


Die letzte Grille

Wie konnten mir Grillen auf die Nerven
gehen in meiner Jugend! Und später.
Dieses ewige Gezirpe!

Ach, ewig – das sagt man so
dahin.

Abend. Wir liegen im Bett.
Das Fenster steht offen.
»Oh, wie schön«, sagt sie.

»Was?«
»Die Grille. Ich hab schon ewig
keine Grille mehr gehört.«

»Ist das nicht ein Vogel?«
»Nein, nicht der Vogel,
die Grille. Eine einzelne Grille.«

Ich stehe auf. Halte
den Kopf aus dem Fenster.
»Na ja«, sagt sie. »Es ist

ja nur eine, und der Ton ist
sehr hoch und leise.«
Ich sage nicht:

Da ist keine Grille. Es gibt
keine Grillen mehr. Sie sind
verschwunden. Für immer.

Aus. Gestorben. Da liegt sie.
Mit ihren jungen Ohren.
Ihren jungen, hübschen Ohren.

Ich lege mich wieder zu ihr.
Wie konnten mir Grillen auf die Nerven
gehen? Jemals.

In meiner Jugend. Und später.
Wie lange ist es her,
dass ich die letzte Grille gehört habe?

Und es nicht wusste.
Nicht ewig. Denn das sagt man nur so
dahin.


Weltfremd

Weltfremd wurde ich geboren
Ohne Vorstellungen
Von Etwas und Nichts

Dann stellte sie sich
Mir vor die Welt
Ich schloss Bekanntschaft

Sie drängte sich
Auf wie ein besoffenes Wesen
Das nicht schweigen will

Obszön gewöhnlich pöbelhaft
Ein Fremder unter Fremden
Die sich zu kennen schienen

So kam ich
Mir vor
Es ist Zeit

Zu vergessen
Nichts wiederzuerkennen
Was man gesehen hat

Zeit sich zurückzuziehen
Erinnerungen zu verlieren
Wie Schlüssel

Zu Türen die man nicht öffnen möchte
Etwas und Nichts schließen
Bekanntschaft

Noch niemand war so dumm
Dass er nicht sterben konnte
Auch Gehirne ohne Furchen

Würden vergehen


Schwinger

»Ach«, sagte er.
»Ach was?«, sagte sie.
»An manchen Tagen

Will man sich
Doch schon nach dem Erwachen
Aufhängen.«

»Hm. — Darf ich dann
Neben dir hängen?«
»Gerne.«

»Au ja! Und dann
Schwingen wir
Miteinander.«

»Wir können auch pendeln.«
»Pendler und Schwinger«, sagte sie –
»So wie im Leben.«

Man lächelte; fragte sich, wie spät es sei —
Und ließ sich noch ein wenig
Zeit.


Keine Zeit für Zeitgenossen

In der Gegenwart lebe ich
selber. Ich
habe keine Zeit

für Bücher meiner Zeit.
Lasst mich in Ruhe
die Toten kennen

lernen; den Blick werfen
aus meinem Zeitfenster,
das so schmal ist

wie ein Sarg.
Ich muss leben
vor meiner Zeit.


Die leuchtende Perle

Alle Sträucher, Hecken, Bäume
waren in geometrische Form gebracht.
7 Stunden Lärm vom Benzinmotor,
stummes Leid der Pflanzen.

»Ach du dickes Schaf«, flüsterte sie,
»Beete aus Kieselsteinen!
Wie furchtbar. Kalt, grau
& hässlich. Und diese Gipsfigur!«

»Ich blicke in das Gehirn des Nachbarn«, sagte ich.
»Ich würde da nicht wohnen wollen«, erwiderte sie.
»Du hättest viel Platz – in seinem Gehirn.«
Ein Lächeln, das neben mir spazierte.

Wäre ich er, würde ich hinter der Gardine stehen
und sehen, wie sie vorübergeht im Sommerkleid.
Dann würde sie gleichsam verschwinden
im Dschungel des Vorgartens.

Kegel, Kugeln, Zylinder –
was mögen die Tiere denken?
»Bei uns gibt’s einen neuen Hügel«, sagte sie.
»Ich weiß«, sagte ich. »Darunter

liegt der Maulwurf in seinem Bettchen
mit dem fluffigen Kissen & der dicken Decke.
Über ihm hängt eine leuchtende Perle,
und in ihrem Licht liest er ein rotes Buch

über ein Maulwurfmädchen.«
»Mo-mi-ta«, silbte sie. »Wo
kommt die Perle her?«
»Von einem kleinen Fisch,

den er vor einem großen gerettet hatte.
Zum Dank schenkte der Kleine ihm eine Muschel,
die außen schwarz und innen so rot war wie das Buch.«
»Jetzt erinnere ich mich wieder.«

Wir gingen nach Hause. Licht der Abendsonne.
Gleichschenklige Bewegung, parallele
Zehen in Sandalen. Nie kann man sich sattsehen.
Doch der Maulwurf trägt keine Brille.

Farbenfrohes flatterte im Garten
und saugte an dem, was Menschen Unkraut nennen.
»Was machst du jetzt?« fragte sie.
»Ich werde mich ins Bettchen legen

und auf das Leuchten warten.
Und du?« »Ich weiß
nicht. Vielleicht noch
etwas spielen.«

Ich bin ein Hochstapler
der Bücher. Ein bunter Turm
auf dem Nachttisch
könnte der Beweis sein.

Schwarzweiß flimmerte ein Film
auf mir. Körnige Bilder
& Werbung für Getreideflocken.
Sooo knusprig!

Ich drückte einen Knopf
und schlug ein Buch
auf. Seite 303 (leicht wellig).
Schiller? Na ja.

Als sie unter die Decke kam,
wurde es glatt & warm.
»Man könnte«, sagte sie,
»nachts in den Garten gehen

und schauen, ob es aus dem Hügel
gemütlich leuchtet. Was meinst du?«
»Ich habe keinen Schimmer.«
»Das lässt sich ändern. Hauptsache,

du bleibst lange bei mir.«
Ich nahm die Brille ab.
Der Schirm der Lampe war
ein weißer Zylinder.

»Natürlich«, sagte ich,
»du kennst doch die Floskel –
Unkraut vergeht nicht.« Unter
dem Plumeau blühte es dunkel.


Der Anhalter

In der prallen Sonne (sie schien
jetzt schon seit so vielen Wochen,
dass sie wie ein nerviger Gast war)
stand ein Anhalter neben der Landstraße.
Er hatte ein Gesicht & einen Körper.
Ich hielt an und ließ das jenseitige
Seitenfenster herunter. Das Gesicht
erschien in der schwülen Öffnung und fragte:
»Fahren Sie nach« (es nannte den Namen
des übernächsten Ortes)»?«
»Nein.«
»Wo fahren Sie denn hin?«
»Dorthin – wo Sie auf keinen Fall sein wollen.«
Abrupt trat ich aufs Gaspedal. Es knirschte & staubte.
Im Rückspiegel sah ich sie stehen. Mir nach blicken.
In der prallen Sonne. (Geh doch endlich
nach Hause! Ich kann dich nicht mehr ertragen!)
Ich schloss das Seitenfenster (diese Hitze!)
und fuhr in den übernächsten Ort.
Der Mann hätte doch erkennen müssen,
dass im Wagen kein Platz übrig war.
Ich & mein Ego in klimatisierter Luft.


Menagerie

Oft genug habe ich belegt,
wie besessen ich bin.
Und darauf bestehe ich.

Sie träumte
von einem verlorenen Rock,
der wie ein Fetzen Mondlicht

auf einer saftigen Wiese ruht.
Duft der Dämmerung,
Stille der Grashalme.

Ich habe doch gar keinen
Rock, denkt sie, der weiß
ist, wie konnte ich ihn verlieren?

Da erhebt er sich
& fliegt davon –
ein gigantischer Zitronenfalter.

Ich hörte etwas, das ich
für einen unruhigen Traum hielt.
Es war 1 vor 3 in der Nacht,

ich legte das Buch auf das Sofa,
ging durch den Flur & lauschte
an der Schlafzimmertür.

»Alles in Ordnung?« flüsterte ich.
»Was machst du?« fragte sie.
In meiner Vorstellung stürzte eine Wand ein.

So laut war das Getöse. Gleich nebenan.
Ich ging ins Bad & schaltete das Licht ein.
Ein fremder Kater schaute über den Wannenrand,

groß & massig, getigert, mit weißen Flecken.
Als er mich sah, jammerte er. Dann
geriet er in Panik, als wäre er

ich, gefangen in einer Katze, die gefangen ist
in der Badewanne in einem fremden Haus.
Nichts bietet Halt.

Sie kam aus dem Schlafraum.
Traumverschlafen. »Was ist?«
»Katze«, sagte ich. Zwei Delphine,

ein Frosch & ein Pinguin waren schon
in die Wanne gefallen; jetzt holte er noch
eine Ente vom Fensterbrett. Enge

weiße, glatte Welt. Krallengeprassel
auf Emaille. Erst als ich einen Wäschekorb
ganz langsam hineinstellte,

sprang der Kater aus der Wanne,
als hätte er nie ein Problem gehabt.
Und da er sich erinnerte,

wo er hereingekommen war…..
Eng, violett & kurz
war ihr Unterhemd, sonst

trug sie nichts. »Mist«, sagte sie,
»ich hab vergessen, die Terrassentür
in meinem Zimmer zuzumachen.«

»Schnell weiterschlafen«, sagte ich,
»Du hast im Traum deinen Rock verloren,
und jetzt irrst du

unten ohne über dämmrige Wiesen.«
»Spinner«, sagte sie lächelnd.
»Ja, Spinner gibt’s da wahrscheinlich auch,

obwohl ich nur einen Zitronenfalter gesehen habe,
und der war eigentlich dein Rock.«
»Gute RestNacht«, sagte sie,

und ein kleiner, runder Mond verschwand
im Bett. Das Buch
hatte sich nicht vom Sofa bewegt;

das fand ich
sympathisch. Es war wie ich,
wenn nichts mich stört.

Ihr Rock landete auf einer Lupine,
sie schaukelte, er flatterte. Die Träumerin
denkt: wie warm es noch ist,

eigentlich brauche ich ihn nicht.
Die Luft tut gut. Niemand sonst scheint
dort zu sein. Nur ich, der nicht

zu sehen ist. Und eine zärtliche Brise,
die überall hinkommt & tut,
was sie will.


Leicht schwierig

Im Vergessen bewußt
Sein. Vergessen
daß es einem gutgeht

daß man glücklich ist
in der Bewußtlosigkeit
der Gegenwart

Nichts
soll mich erinnern
Sei still

Nein
wenn du still bist
fällt es mir wieder ein

Sag was
Nein, doch nicht
Das

Wie leicht es schwierig wird
glücklich zu sein
wenn man es ist


Die vertauschten Köpfe

Also, ich habe ja diese zweibändige Ausgabe
mit Werken Eduard von Keyserlings.
Auf den Umschlägen der Bücher
& des Schubers ist aber ein ganz anderer
Keyserling abgebildet.

Ich gebe zu,
der Eduard war extrem hässlich
(seine Freunde nannten ihn Todchen).
Der Mann auf den Umschlägen
sieht gut aus. Zumindest besser.

Immerhin: ein Philosoph.
Es hätte schlimmer kommen können.
Aber alles hat seine Grenzen.
Vor allem das Verlagswesen.
Zensur der Gesichter.


Unbegreiflich

Immer leichter fühle ich mich,
und irgendwann werde ich abheben,
wenn keine Erinnerungen mich mehr am Boden halten.
Die letzten Bilder, Worte, Filme
in den Köpfen derer, die mich kannten,
werden verschwunden sein.

Das ist doch Unsinn.
Sie können nicht Alle überleben,
die Sie kannten. ICH kenne Sie,
und Sie sind so viel älter als ich.

Niemand lebt mehr,
der mich als Kind gesehen hat.
Also muss ich mir selber glauben,
dass ich ein Kind gewesen bin;
niemand kann es bezeugen.

Das können Sie nicht wissen.
Und außerdem: gibt es keine Fotos?

Ach Gott, wollen wir uns auf dieses Niveau begeben?
Fotos! – Hatten Sie nie diese Gedanken?:
Es gibt eine Zeit, da ist man überall.
Gespiegelt, erinnert, gesehen, gehört,
vervielfältigt. All das
vergeht. Stirbt. Am Ende
existiert man nur noch
in sich selbst.
Ohne Verbindungen.

Ich wusste nicht,
dass Ihnen DIE ANDEREN so wichtig sind.

Ich rede doch nur von mir.

Das ist mir auch schon aufgefallen.

Ich bin eine Geistererscheinung
in den Anderen. Wenn die Anderen sterben,
bleibt nur das Greifbare – und das Greifbare
ist so gut, ist so schlecht wie Nichts.

Sind Sie lieber eine Erscheinung als Sie selbst?

Hören Sie auf Fragen zu stellen, sonst
muss ich alles bezweifeln, was ich sage.

Sie denken nur an diejenigen,
die Sie auch kennen oder kannten, an diejenigen,
die Sie selber wahrgenommen haben.
Vielleicht sind Sie einmal an einem Genie vorbeigegangen,
dem sich Ihr Bild eingebrannt hat. Vielleicht auch
gibt es Sie in einem Buch, und Sie wissen es nicht.

Sie wollen mich trösten. Als wäre ich
nicht ganz bei Trost. Das ist nett,
aber sinnlos.

Der Postbote kennt Ihren Namen.

Ist das mein Name?
Er wurde mir gegeben.
Vielleicht gehörte er jemand anderem.

Es geht Uns Allen gleich.

Von außen betrachtet,
aber da bin ich nicht.

Vielleicht werden Sie irgendwann da sein.

Ich bliebe lieber hier.

Aber

Bitte lassen Sie mich

hier

bleiben!

Gefällt es Ihnen denn so gut hier?
Das wusste ich nicht.

Nein.

 

 

 

Was denken Sie?

Nichts Nichts Nichts.
Ich betrachte nur
die Parallelen auf dem Fußboden.

Das sind bloß Schatten.

Meinen Sie,
das wüsste ich nicht?
Die sind das Schönste
an der Abendsonne.

Möchten Sie spazierengehen?

Nicht in dieser Welt.
Lassen Sie mich
schlafen.


Verlorene Liebesmüh

Abend, 29 Grad.
Ein Junge wird von einem Mädchen überholt
an der Gabelung vor meinem Haus.
12 oder 13 Jahre alt (ich kann ja kaum noch
schätzen heutzutage; früher wären sie älter
gewesen). Zwei Fahrräder in Fortbewegung,
die denselben Weg nehmen.
Das Mädchen erhebt sich vom Sattel,
tritt stehend in die Pedale. Der Saum
der Shorts ist so oft umgeschlagen
wie möglich. Tiefes Blau unter
dem segelweißen Top. Das Vorderrad des Jungen
verlässt den Boden. Das verstehe ich.
Aber das Fahrrad des Mädchens hat
keinen Rückspiegel.


Ein fröhliches Gedicht

Ich las ein trauriges Gedicht
in einem blauen Buch
voller Frauen, die lächelten.

Ihre Absätze hämmerten in meinem Kopf,
ihre Kleider rauschten wie Laub
& streiften die Möbel,

bis der Staub durch die Helligkeit
der Seiten regnete. Ich musste niesen
& sie alle ausziehen,

um zur Ruhe zu kommen.
Wie still es ist,
wenn nackte Frauen schweigen.

Sanfte Hügel,
lautloser Stoff,
farbenfrohe Entblätterung.

Jetzt ist es gut.

Ganz leise wandeln bloße Füße,
ganz langsam
schließe ich das Buch.


Klischee

Der Grüne Lampenschirm ist ein Klischee.
In unzähligen Büchern.
Die ich gelesen habe.
Unterm Grünen Lampenschirm.


Todlos

Wenn ich mich todlos im Grabe herumdrehe,
wie ich mich schlaflos hin&herwälzte im Leben,
dann – weil mich hier wie dort
zu Vieles noch beschäftigt.

In meinem Bett gab’s keine Zeitbezüge,
und dass ein Sarg nicht ewig hält,
ist auch nicht in Ordnung.
Der Tag ist noch nicht abgetan,

das Leben noch nicht erledigt.
Wie soll man da denn abgeschaltet
werden können?
Die endgültige Entspannung

gibt’s nicht unter Strom.
Ein Blitz fährt in die Erde,
meine Hand schießt draus hervor;
es ist kein Abwinken, dass

die Passanten erschreckt.
Immer wollte ich schlafen,
wenn ich es nicht konnte.
Und jetzt? Das möchte man

gar nicht zu Ende denken.


Im Museum der abgenutzten Bilder

schmeckt es nach Gemeinheit,
riecht es nach dem Applaus der trägen Masse,
hat man aufgehört zu denken.

Fade Plakate kleben überall.
Luftblasen im Kleister schlagen Wellen.
Anhand von Fingerabdrücken identifiziert man

die Begreifenden. Denen jedes Verständnis fehlt.
Auf der Suche nach Begriffen, die frisch sind,
gehe ich ins Freie.


Wind

Wäre ich ein Wind,
würde ich die Vögel schaukeln
in den Zweigen.

Den ganzen Tag
mit Röcken spielen
& die Mädchen mit ihren eigenen Zöpfen kitzeln.

In herbstlichen Bäumen blätterte ich
wie in bunten Büchern.
Alles Flatterhafte

wäre mir Zerstreuung,
und den Lärm trüge ich fort
von den Ohren der Geliebten.

Die Menschen würden sich wundern:
Der Wind, der Wind – macht was er will!
Aber was er müsste, tut er nicht…..

Als gäbe es kein Naturgesetz,
bewegt er bloß, was er bewegen möchte;
was ihn nicht interessiert, umweht er.

Er ist so still. Und launenhaft.
Ein Hauch nur, ohne Nutzen.
Er treibt sich rum, er kräuselt das Meer,

als wäre alles für ihn geschaffen.
Tja – wär´ ich ein Wind
würde es wohl so

sein. Vieles anders.
Nur ich –
nicht.


Zeitkritik

Diese zeitkritischen Dichter,
diese Gesellschaftskritiker —

Schon toll, gell?
Langlebig nicht, aber toll.

Ich kann die Zeit ja auch nicht
leiden. Die macht alt. Und tot.

Und die Gesellschaft erst.
Zum Kotzen! Nur auf

dem Friedhof kann man sie ertragen.
Also treffen wir uns da. Kommen Sie,

wenn ich tot bin. Lang leb ich
nicht mehr, aber toll.


Schau da

Schau da, ein Mensch!
Manchmal weiß ich nicht, kucke ich
gerade aus dem Fenster

oder in einen Spiegel.
Und wo ist da
der Unterschied —

Die Grenzen sind aus Glas.
Ich versuche, mich
zu unterscheiden,

aber wenn das jeder tut,
wird’s schwierig. Hinterm
Glas ist immer eine Welt.

Ich winke kurz, dann weiß ich
mehr. Vielleicht. Ja, aha,
ich bin also doch

eine junge Frau.


Ja, die Wissenschaft

»Du hättest Arzt werden sollen«, sagte sie, »Du hast
so sanfte Hände.« »Ja, als Kind dacht ich daran, ich
konnte so gut Blut sehen und mochte die

Operationen im Fernsehen. Aber letzten Endes
hätte ich doch nur Mädchenarzt werden wollen.«
Sie lachte. »Nicht

Tierarzt?« »Auch das. Aber nur
für Kleintiere. Wer will schon seinen Arm
im Arschloch einer Kuh versenken.

Lieber ein Kätzchen heilen,
oder einem Häschen die Löffel putzen.«
»Perverses Schwein!« Kichern.

Das Erklingen eines Klapses. Nach
Schwingen des Mondes.
Abendrot der Oberfläche.

Ȇberhaupt: die Wissenschaft!
Wie ein Kind sie sich vorstellt.
Astronomie! Da hätte ich

landen wollen mit meiner Rakete.« »Wo?«
»Na da.« »Oh – ha ha, das kitzelt.«
»Oder das Klima erforschen,

heiß & feucht in südlichen Regionen.
Und am Nordpol in einem Lächeln versinken.
Piepmätze beobachten, und

den Schlangen beim Züngeln zusehen.
Und dann erst die Meeresforschung! Wo
Lachmöwen kreischen, und

die Muräne schweigt.« »Na,
jetzt geht’s aber durch mit dir.«
»Das Gefühl habe ich auch.

Recht oft sogar. Mein Vater
war Zoologe. Das erklärt so Manches.
Eines Tages schenkte er mir ein Stethoskop.

Vermutlich kann ich deshalb so gut
zuhören.« »Apropos:
reich mir mal die Decke, du

Polarforscher – nicht dass
ich mich verkühle.« Da lag sie.
Am Boden. Ich dachte noch

kurz an die Lehre von den Vulkanen,
an Couchkunde & Mathematik
(10 + 4 + 19 + 5 + 7 + 15) x 1

Dann war die Sprechstunde vorüber.
Der Somnologe misst die Zeit
in Schweigeminuten.


Rand halten !

Wie befremdlich vertraut
Sie im Leben stehen.
Regen sich

auf über Politik
& das TV-Programm,
unterhalten sich

miteinander. Nur
weil Sie zur selben Gattung gehören.
Was Sie für den Rand halten,

ist in meiner Wirklichkeit
immer noch die Mitte.
Ich verbitte

mir alle Vertraulichkeiten!
Halten Sie den Rand!
Da stehe ich

den leisen Fahrtwind
der Erde im schütter werdenen Haar.
Sie regt sich

für mich. Allein.
Auf & ab.
Stille.


Abend, Nacht

Abend.

Für einen Zukunftsroman bleibt keine Zeit mehr,
die Autobiografien – es sind mehrere, die
sich alle gegenseitig widersprechen –

stehen still
unter einer dicken Staubschicht.
Ein paar kurze Gedichte noch

in denen die Gegenwarten aller Zeiten
eingeschlossen sind und
auf ihre Befreiung hoffen.

Wenn sämtliche Regale
zusammenbrechen
wird es endgültig

Nacht.


Unter Glas oder Feine Fäden

Sie stehen auf dem Papier –
die Wörter. Wie die Beine
einer Zitterspinne

die ein Ängstlicher gefangen hat
unter Glas. Und nun –
wohin damit?

Geh dicht heran
& schau sie an.
Ohne Angst

sieht Alles ganz
anders aus.
Man kann

ein Fenster öffnen.
Denn auch im Freien
wollen Netze

gesponnen sein. Feine Fäden,
in denen Lebendiges
sich verfängt.


Sie sind’s

Frühling läßt die schwarze Kettʼ
Wieder rattern an der Säge;
Giftge Stinkgerüche träge
Wabern abgastoll ans Bett.
Bäume sterben schon,
Müssen balde krachen.
– Horch, von nah ein lauter Mäherton!
Frühling, ja sie sind’s!
Spießer hör ich lachen!