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Verirrung

Was tue ich hier?
Vergessen.

Die Schlagschatten der Fremden bewegen sich
wie verzerrte Scherenschnitte
über das Kopfsteinpflaster der Gasse.
Die Abendsonne: eine bittere Blutorange.
Das Geräusch schwierig-hoher Absätze prallt
gegen Fachwerkfassaden.
Verlaufen.
Ich habe mich verlaufen.
Es ging los, als ich die Wohnung verließ.
Es geht immer los, wenn ich die Wohnung verlasse.
Sobald ich einen Fuß vor die Tür setze, habe ich mich
schon verlaufen.
Verlassen. Verwirrt. Verirrt.
Irgend jemand
hat mich gerufen.
An-
gerufen.
Wollte mich
treffen.
Aber wo?
Im Zweifelsfall
dort
wo
ich
nicht
hinge-
höre.
Warum habe ich mich nur darauf
eingelassen –
die Wohnung zu
verlassen?
Es endet
doch immer
gleich.
Ähnlich.
Sofort.
Ja, warum?
Weil ich
hinhörte –
vielleicht.
Wegen
dieser Stimme –
vielleicht;
der Stimme in meinem Kopf.
Hineingetragen
in meinen Kopf
auf dem Wege der
Fern-
melde-
technik.
Eine Stimme – weiblich & fremd.
Hat sie
wirklich
mich
gemein
t?
Oder
war’s doch nur eine
Ver-
wahl.
Aber halt – sie kannte meinen Namen!
Nicht dass dieser Name einzig wäre;
oder auch nur selten – aber
wieviel Zufall würde es brauchen,
dass sie
nicht
mich
gemeint hätte?
Zu
viel
doch wohl…..

Der Mann betrachtet
die sommerlichen Frauen.
Auf dem Muster des Kopfsteinpflasters.
Steinerne Würfel ohne Augen.
Hätte das Kopfsteinpflaster Augen,
könnte es unter Röcke schauen.
Unter Kleider.
Unterröcke, Unterkleider……

Und er träumt sich in den Boden
& schaut
& schaut
aufwärts……
Eine von ihnen vielleicht?
Was wenn
ich mich gar nicht verlaufen habe?
Hier richtig bin?
Oder doch verlaufen – & zwar
so oft verlaufen vom Verlaufen, dass ich
dort angekommen bin, wo ich hin wollte?
Wenn ich mich recht ver-
irre,
könnte es
so
sein.
Und überhaupt – wenn ich
vergessen habe,
wo
ich
hin
wollte,
kann
über-
all
der
richtige
Ort
sein. –
Was tue ich hier?
Vergessen.
Ich habe nicht vergessen,
was ich hier tue,
sondern –
was ich hier tue,
ist
vergessen.
Vielleicht.

Das Licht
ändert sich.
Ich nicht.
Die bittere Blutorange geht
unter.
Ich nicht.
Die Scherenschnitte verlieren
ihre Konturen.
Ich nicht.
Die Geräusche verstummen.
Ich nicht.
Jemand
wird den Mann finden.
Irgend
jemand.
Irgend
wann.
An einem
anderen
Tag.


Vergessen

Ich hatte sie liegenlassen
in der Eile des Erwachens
das wie eine Flucht aus der Nacht gewesen war

Ich hatte sie liegenlassen
in einem kleinen Zimmer
in dem eine Tote lag

Eine Tote
die soeben erwacht war
um mich anzulächeln

Ich hatte sie liegenlassen
die Kamera
die ich durch meine Träume trage

Die ich durch meine Träume trage
um zu fotografieren
was mir begegnet

Ich hatte sie liegenlassen
eine altmodische wertvolle Spiegelreflexkamera
voller Bilder

Bilder von
den Sehenswürdigkeiten meiner Träume
den Traumwürdigkeiten meines Unterbewusstseins

Ich hatte die Bilder
entwickeln wollen
eines Tages

Hatte sie einkleben wollen
in das Album
meines Bewusstseins

Ich hatte sie liegenlassen
die Kamera
in der Eile des Erwachens

Ich hatte sie
vergessen
in dem Zimmer der lächelnden Toten

die ich nicht
vergessen
konnte

Vielleicht
werde ich sie
wiederfinden

Ich werde
sie
suchen

in
einem anderen
Traum


Fern Beziehung

Ich existiere

die meiste Zeit
für Dich
nur

als Stimme
als geschriebenes Wort
als Phantasie

körper
los

beziehungs
weise

fern.

So
wie
Du
für
mich.

Ledig
lich
im Traum

bist Du

immer
mir

so
nah

wie ein
eigener Gedanke

begreif-
doch
auch
unfassbar


Das verschwundene Zeichen

Ich weiß nicht wohin
ich fuhr
in diesem Traum

Der Weg
war mir un-
bekannt

Irgendwo
warf ich ein Buch
aus dem fahrenden Zug

Ich hatte das Buch noch nicht gelesen

Ich wollte zurückkehren an den Ort
wo ich es fortwarf

Ein Lesezeichen
in meinem Traum

Doch ich wusste
ich würde es nicht wiederfinden
den Ort nicht wiedersehen

Und ich träumte
dass jemand das Buch fand
& mit nach Hause nahm

Und das Haus war
der Ort zu dem ich zurückkehren wollte

Ich hatte es
noch nie gesehen

Doch ich wusste

Du
wohntest
darin


Die Verträumten

»Kaffee?« fragte der Mann mit dem Tiergesicht. (Bald erinnerte es an Ratte, bald an Katze, bald an Hund.)
»Nein«, sagte die Frau, »lieber nicht, sonst wacht ER womöglich noch auf.« Auch die Frau hatte ein Gesicht. Meistens. Aber nicht immer. Manchmal war es eine matte weiße Fläche, auf die sich alles projezieren ließ.
Der fensterlose Raum, in dem sie – & die vielen Anderen – sich befanden, war groß. Und unübersichtlich. Schummerte in warmgedämpftem Licht. Licht, das wie aus der Skala eines Röhrenradios kam. Vertikale schmale Streifen bildeten die Tapeten; rot & grau. Die Möbel waren verwirrend asymmetrisch gezimmert & schienen sich ständig von selbst zu verrücken; wer unachtsam war, stieß sich immer wieder an ihnen.
Stimmenmix & Cool Jazz.
Der Rattkatzhund sagte: »Denken Sie wirklich, ER könnte aufwachen, wenn wir zu munter werden?«
»Ich weiß nicht, was ich denke«, sagte die Frau. Ihr Gesicht war in diesem Moment eine verdrängte Erinnerung. Eine Erinnerung aus den rattigen Phasen des Mannes.
»Egal«, sagte er, »ich trinke jedenfalls einen – & ich werd mir etwas Asbach hineinkippen. Vielleicht schwindelt’s dann in seinem Kopf.«
Er grinste verkatert. Ihre Schultern zuckten.
»Wenn Sie meinen.«
Sie trug ein weinrotes Abendkleid. Auffällig viele Frauen trugen Abendkleider, auffällig viele Männer schwarze Anzüge, Smokings, Fracks. Wer etwas anderes trug, fiel besonders auf. Und am meisten fielen Diejenigen auf, die nichts trugen; doch nicht immer wurden sie beachtet.
Der Rattkatzhund blickte sich um; auf den Spiegeln seines Smokings lagen Schuppen. »Wo issn jetz die Bar schon wieder hin?«
»Na, da«, sagte die Frau. Ihr roter Zeigefingernagel wies ihm den Weg.
»Diese Möbel machen mich noch verrückt«, sagte er & ließ sie allein.
Rauch waberte zur Musik. Pfeifen, Zigarren, Zigaretten glühten. Asche fiel zu Boden. Paare tanzten. Tänze paarten sich mit der Musik.
Man sah keine Tür, doch ein Vorhang aus pantherschwarzem Samt schien einen Aus- oder Eingang zu verhüllen.
»Verdammt warm hier«, sagte jemand im Vorübergehen.
»Ich friere«, sagte ein anderer.
Ein blonde Frau in violetten Dessous lag bäuchlings auf einer Ottomane. Sie beobachtete die Tanzenden. Ein kleiner Junge im Matrosenanzug näherte sich ihr. Er lächelte.
»Du bist aber schön«, sagte er.
Sie blickte ernst. »Ach ja?«
»Ja. Wenn ich dich sehe, höre ich Cellomusik.«
»Sei nicht so altklug«, sagte sie mit scharfer Stimme.
»Ich höre Cellomusik, und ich sehe F-Löcher.«
»Verschwinde, du kleiner Perversling.«
Der Junge lachte ihr eine Gänsehaut, machte »Quak Quak« & versickerte im Parkett. Sie fing an zu weinen.
Ein dicker alter Mann blieb bei ihr stehen.
»Was ist?« fragte er.
»Nichts«, sagte sie.
»Das ist doch nichts Besonderes«, sagte er & ging weiter.
Einer aus der Masse hielt ihn an.
»Wissen Sie, wie spät es ist?«
»Das weiß Niemand nicht«, sagte der dicke alte Mann.
»Doch, ich nämlich«, sagte der Massenmensch.
»Na dann«, sagte der Alte, »lassen Sie mich doch in Ruhe.«
Und er ging weiter.
Der Massenmensch war verdutzt. Er blickte auf sein nacktes Handgelenk. Schwarze Haare tentakelten, aber er konnte sie nicht lesen.
»Was mache ich hier nur?« flüsterte er.
Am anderen Ende des Raumes stand eine Dame mit abstehenden Ohren am Buffet. Sie vernahm das Geflüster, wandte sich augenblicklich um & eilte auf den Massenmenschen zu. Einige Nudeln fielen dabei zu Boden, denn der Pastaberg auf dem Teller in ihrer Linken bebte.
Als sie den Massenmenschen erreicht hatte, deutete sie mit der Gabel auf ihn.
»Was Sie hier machen? Das kann ich Ihnen sagen.«
»Ach ja?«
»Ja«, sagte sie. »Sie machen hier dasselbe wie ich.«
»Und was machen Sie hier?«
»Nicht wissen, was ich hier mache.«
»Sie sind ja verrückt.«
»Ich bin nicht verrückt. Ich bin doch kein Möbelstück.«
»Zumindest ergibt das, was Sie sagen, keinerlei Sinn.«
»Na und?« sagte sie. »Es reicht doch, wenn ich mich ergebe.«
»Nun gut«, sagte er. »Dann können wir uns ja auch gemeinsam ergeben. In unser Schicksal.«
»Das haben Sie aber schön gesagt«, sagte sie.
Und eine weitere Nudel fiel zu Boden, während der Massenmensch eine Erektion bekam. Er mochte abstehende Ohren.
Sie stellte den Teller auf einem der Tische ab, behielt die Gabel in der Hand, und gemeinsam krabbelten sie unter einen anderen Tisch, wo bereits ein toter Igel lag.
»Hier ist es aber dunkel«, sagte sie. Doch schon spiegelte sich die Flamme eines Zippos in ihren Augen, und sie roch Benzin.
»Ist der tot?« sagte sie.
»Wahrscheinlich«, sagte er.
»Sei vorsichtig«, sagte sie, »nicht dass wir uns stechen.«
»Dann leg erstmal die Gabel weg.«
»Oh, die hatte ich ganz vergessen.«
Sie wurde rot. Sie legte die Gabel neben den Igel.
»Jetzt aber«, sagte sie.
»Wann sonst?« sagte er.
Schuhe, Hosenbeine & nackte Frauenwaden zogen an ihnen vorüber, während sie sich auszogen, um sich auszuziehen & sich später wieder anziehen zu können/dürfen/müssen.
Becken stießen aneinander. Zu schnell für Cool Jazz.
Uncool & hitzig.
Eine tiefe Stimme donnerte durch den Raum:
»Dadadas nimmst dududu sofofofort zurückkkkk, sonst stetetetech ich dich a-a-a-a-bbb!«
Nicht alle blickten sich um, aber Diejenigen, die es taten, langweilten sich schon vorher – wie in einer Endlosschleife.
Die Stimme gehörte einem schwarzen Kaninchen. Einem stotternden Kaninchen. Wutentbrannt schaute es aus einem weißen Zylinder; in seiner rechten Pfote blitzte ein Stilett.
Ein Mann, der aussah wie Bela Lugosi stand davor; er trug einen Dreiteiler. Noch hielt er seinen halbsteifen Schwanz in der Hand. Sein Sperma sickerte dem Kaninchen ins rechte Auge. Das sich rötete. Und zu tränen begann.
»Äntschuuldigunk«, sagte der Belaeske, »abärr ich kaahn das nicht zurrühcknäähmen.«
Das Kaninchen ärgerte sich. Vielleicht war es ursprünglich weiß gewesen. So wie der Saft auf seiner Stirn. Tropfende Blässe.
Der Rattkatzhund trank seinen Kaffee mit Asbach.
Wir werden alle sterben! dachte er. Wenn ER aufwacht.
Schuppen fielen von den Spiegeln seines Smokings.
Die Frau, die meistens ein Gesicht hatte, hatte gerade keins. Das einzige, was sie hatte, war Hoffnung. Die Hoffnung – zu überleben. Rote Blasen wie aus einer Lavalampe zeitlupten über die mattweiße Fläche. Heller als ihr Abendkleid.
Ein Mann mit einem Bleistift notierte sich Nichts auf eine Visitenkarte. Auf eine Visitenkarte eines Menschen, der niemals Besuch empfing & niemals jemanden besuchte. Der Bleistift war spitz & hatte einen Radiergummi, der sich nutzlos fühlte – wie der Spazierstock eines Querschnittsgelähmten; aber auch frisch & unverbraucht.
Über der Lehne eines braunen Stuhls hing: eine grüne Lederjacke. Auf der Sitzfläche lagen: ein Feldstecher …. eine schwarze Fliege, die man (mit Klebstoff) als Schnurrbart hätte missbrauchen können …. ein Monokel …. Gänsekiele, die aus (musikbedingten?) Gänsehäuten gerupft worden waren …. fallengelassene Gamaschen …. ein Kummerbund mit Ketchup-Flecken …. & eine ausgestopfte Möwe mit Rechtschreibschwäche.
Lachen ritt auf einer Kanonenkugel.
Ein einsamer Mann im Frack trank Rum. Seinem Frack fehlten die Schwänze. Die traurige Frau neben ihm trug eine Stoffschere in der Gesäßtasche ihrer löchrigen Jeans.
Trug: Schluss. In ihrem Herzen.
Er rauchte eine Zigarre.
Die Frau sagte:
»Das ist keine Pfeife.«
Er sagte:
»Ich weiß.«
Sie sagte:
»Aber du.«
Er sagte:
»Ich weiß.«
Und es graute ihm. Er war traurig. Und die Frau war einsam.
Eine Verflossene. Wie die Zeit. Schon jetzt. Eine schmelzende Uhr. Zu weich für die Gegenwart. Zu weich für die Realität. Doch – vielleicht – zu hart für einen Traum.
Ein toter Schmetterling lag auf einem Schachtisch ohne Figuren; sein Körper ruhte auf B7. Sehr langsam bewegte sich eine gelbschwarz-gestreifte Spinne auf ihn zu. Sie war etwa halb so groß gewesen wie der Schmetterling, als sie ihre Reise auf H1 begonnen hatte; nun, da sie E4 passierte, war sie bereits doppelt so groß wie er. Eine nackte Dame stand neben dem Tisch & beobachtete sie.
Was hat das nur zu bedeuten? dachte die Dame.
Was hat das nur zu bedeuten? dachte die Spinne.
Was hat das nur zu bedeuten? hätte der Schmetterling denken können, wenn er noch gelebt hätte.
»Oh ja, fick mich!«, rief die Frau mit den abstehenden Ohren. Unter dem mittlerweile verrückten Tisch.
Der Rattkatzhund trat neben die nackte Dame, tätschelte ihren Hintern & stellte seine leere Kaffeetasse mit Nachdruck auf C6. Die Spinne hielt inne.
»Warum haben Sie das getan?« fragte die Dame.
»Ihm war danach«, sagte der Rattkatzhund. Er lächelte hündisch.
»Ich verstehe«, sagte die Dame, »da kann man nichts machen.«
»So ist es.«
»Gefällt Ihnen mein Arsch?«
»Ich dachte, Sie meinten die Spinne.«
»Nein.«
»Ja. Er klingt gut. So mollig.«
»Nicht durig?«
»Nur wenn er glücklich ist. Denke ich mir.«
»Das ist traurig.«
»Finde ich nicht.«
»Dann suchen Sie.«
»Wir haben keine Zeit.«
»Ach ja ….. Das hätte ich beinah vergessen.«
»Bein … Ah!« sagte er.
Die Spinne dachte: So ein Arsch!
Sie hatte die Lust verloren. Die Lust auf den toten Schmetterling. Der Weg um die leere Tasse war ihr zu weit.
Jetzt tanzten die Paarungen zu Stan Getz.
Ein Mann in einem schwarzen Umhang saß in einem Ohrensessel. In einer düsteren Ecke des Raumes. Das Schwarz wirkte besonders schwarz – wie ein Vergessen von Farbe – wie das Schwarz des Tiefschlafs. Der Mann fiel auf. Schatten fiel auf – sein Gesicht. Viele fragten nach ihm, niemand hatte eine Antwort.
Eine Frau: »Wer ist das?«
Ein Mann: »Wer?«
Die Frau: »Der da. In der Ecke.«
Der Mann: »Keine Ahnung.«
Die Frau: »Er schweigt die ganze Zeit.«
Der Mann: »Vielleicht ist er stumm.«
Die Frau: »Wenn er stumm wäre, könnte er nicht schweigen.«
Der Mann: »Wie bitte?«
Die Frau: »Schweigen setzt die Fähigkeit zu sprechen voraus.«
Der Mann: »Moment. Darüber muss ich nachdenken.«
Die Frau: »Tun Sie das. Aber nicht zu laut, wenn ich bitten darf.«
Der Mann: »Ich denke grundsätzlich stumm.«
Die Frau: »Sie haben es noch nicht begriffen.«
Der Mann: »Mutter, bist du’s?«
Die Frau: »Ab ins Bett mit dir. Sonst sag ich’s deinem Vater, und dann setzt es was.«
Der helle Blitz im Schattengesicht war vermutlich ein Lächeln.
Der Belaeske verstaute seinen Schwanz; das Kaninchen verschwand im Zylinder; der Zylinder löste sich in Duft auf.
Auf einem roten Sofa saß eine Frau im Smoking. Schwarzer Bubikopf, grüne Augen, eine leere Zigarettenspitze im Mundwinkel. Zurückgelehnt & gelassen betrachtete sie die Tanzenden. Bewegungslos die Sichbewegenden. Und zwischen all dem Geschiebe & Gedrehe, zwischen all den lustig-lustvollen Illustrationen von Noten – erblickte sie: die Augen der Schere in der Tasche der traurigen Frau. Und dachte: Dieser Drang! Wo kommt dieser Drang her? Aus mir? Aus ihm?
Die traurige Frau spürte den Blick auf ihrer Gesäßtasche. Schaute sich um. Schaute ins Grün. Fühlte sich aus- & angezogen – und ging zu der Frau auf dem Sofa.
»Ja?« fragte sie. Obwohl Ja doch eigentlich eine Antwort ist.
»Leihst du mir deine Schere?« sagte die Frau im Smoking.
»Gerne«, sagte die traurige Frau. »Ich leihse dir. Aber nicht zu laut.«
Beide lächelten.
Die Bubiköpfige steckte Daumen & Mittelfinger durch die Augen der Schere & begann sich die Smokingbeine abzuschneiden. Weit oben. Ganz weit oben. So weit oben wie es gerade noch im Sitzen (mit angehobenen Beinen) ging.
»Ich weiß, warum du das tust«, sagte die traurige Frau.
»Ich ahne, was du weißt«, sagte die Frau mit der Schere.
»Er.«
»Ja, Er. Oder Alle.«
»Der freie Wille.«
»Der freie Wille«, wiederholte die Frau mit der Schere.
RitschRatsch.
Und sie lachten. Alle. Heftig.
Fast hysterisch.
»Wie heißt du eigentlich?« fragte die traurige Frau.
»Wenn ich das wüsste.«
»Das ist aber ein schöner Name.«
Sie konnten sich nicht vorstellen.
Die Schere wurde zurückgegeben; die appen Smokingbeine langsam von den Schenkeln gezogen. Über Herrenschuhe hinweg, in denen bare Frauenfüße steckten. Hot Smoking Pants! Sie legte den überflüssigen Stoff neben sich auf das Sofa & schlug die Beine übereinander. Und sofort wurde ihr warm. Von den Blicken, die sie spürte. Auf ihrer Schenkelhaut. Träumend, sehnsüchtig, neidisch, begehrlich.
Im Kopf eines alten Mannes: Sie sein! Einmal nur. Für einige fremde Augenblicke. Eine wie sie. Mit meinem Bewusstsein. Mich selber betrachtend. Meine Schönheit erkennend. Damit spielen. Alles fühlen. Mich bewegen, ganz leicht, jung & schön. Frei. – Frei? Nun ja.
Die traurige Frau verstaute die Schere & ging zurück zu ihrem Rumtrinker.
Ein Gemälde erschien aus dem Nichts; hing unversehens an der Wand hinter dem roten Sofa. Ein Galgen in Pastelltönen …. mehrere Erhängte in einer Reihe …. mit verwaschenen Gesichtern …. Jemand war im Begriff die Treppe hinaufzusteigen, mit einem Messer in der Hand …. Vielleicht um die Toten abzuschneiden, vielleicht um sie auszuweiden …. Nur wenige nahmen das Bild überhaupt wahr. Zu ablenkend war die Frau davor.
Und es roch nach Nagellackentferner & Brotpudding.
»Ich hätte Lust, die Loreley zu singen«, sagte Dr. Kottmann.
»Wenn Sie das tun, werde ich Sie heftig ohrfeigen«, sagte Franz & spuckte sich auf die Stulpenstiefel.
»Das ist absurd«, sagte Dr. Kottmann.
»Ist es nicht«, sagte Franz.
»Ist es doch«, sagte Dr. Kottmann.
»Ist es nicht«, sagte Franz.
»Woooohl!«
In diesem Moment bewegte sich der schwarze Vorhang – & Tina betrat den Raum. Sie trug einen knappen, hellblauen Bikini & ein automatisches Gewehr; um die Taille einen lockeren Patronengürtel. Blonde Zöpfe (Affenschaukel). Und sie begann, wahllos in die Menge zu schießen. Wahllos? Niemand schrie. Löcher wurden geboren. In Stoff & Fleisch. Blut spritzte. Hirn spritzte. Körper fielen zu Boden. Der alte Mann betrachtete ihren Popo, registrierte jede Bewegung, die dieser bei jedem Schuss, bei jedem Rückstoß machte. Dann drehte sie sich herum & schoss ihm zwischen die Augen. Er lächelte.
Der Rattkatzhund & die Gesichtslose, die tatsächlich mal wieder gesichtslos war, standen am Buffet.
Er sagte: »Und Sie hatten Angst, ein Kaffee könnte Ihn aufwecken.«
»Ja«, sagte sie mundlos, »das war einer meiner verrückten Gedanken.«
»Ach, so verrückt war der gar nicht. Eher verträumt, würde ich sagen.«
»Dann tun Sie’s doch.«
Tina lud nach. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sie daran zu hindern. Die Musik war sanft, und die Leichen häuften sich.
Die Gesichtslose erinnerte sich an ihr Gesicht, und plötzlich war es wieder da. Niemand erkannte sie.
Tina barfüßelte zu der dunklen Ecke, wo der Ohrensessel stand. Sie zielte in den Schatten. Sie drückte ab. Dies war der einzige Schuss, der lautlos war.
Dann sagte sie: »Entschuldigung. Ich habe mich vertan. Ich dachte, dies sei eine Rechenmaschine.«
»Endlich«, sagte der Mann im schwarzen Umhang.
Und es roch nach Blut, nach Hirn, nach Schatten, als die Decke des Raumes sich öffnete.


R.E.M.

Wenn Du träumst
bin ich
es
der Deine Augen
so schnell
bewegt

Wenn ich träume
bist Du
es
die meine Augen
so schnell
bewegt

Schnelle Blicke
die sich treffen
hinter geschlossenen Augen
die sehen können

über alle Entfernung
hin-
weg


Eine Handbreit über dem Eis

Es war so still,
dass ein schmelzender Eiswürfel einen erschrecken konnte.
Ein ausgebuchtes Hotel des Schlafes; aber vielleicht
waren die Gäste auch nur
tot.
Die Zeit verstrich
auf stehengebliebenen Uhren.
Nichts passierte.
Niemand ging vorüber.
Das Ich: ein unterbezahlter Nachtportier.
Immer wieder
nickte ich meiner Müdigkeit zu.
Nickte ich ein.
Die Tagträume der Schlaflosigkeit verwandelten sich
in traumlosen Schlaf.
Staub war von fremder Haut
gefallen
auf die Teppiche am Boden.
Totes Gewebe
das ich einatmete.
So gleichmäßig
wie man niemals atmet, wenn man
wach ist.
Endlos
hätte ich schlafen können.
Andere hätten es meinen Tod genannt.
Und ich wäre kalt gewesen.
So kalt & still.
Doch
Alles
vergeht.
Alles endet.
Auch solche Nächte.
Und jemand betrat meine Ruhe.
Das schwarze Kleid der Putzfrau endete
eine Handbreit über ihren Knien.
Die Hand
hätte meine sein können.


Was habe ich getan?

Ich wusste nicht, was ich tat.
Einmal mehr.

So oft
hatte ich nicht gewusst,
was ich getan hatte.

Hatte ich jemanden
geschlagen
oder
geküsst?

Jemanden
erschossen
oder
geliebt?

War ich
in einen Abgrund gestürzt
oder
gesprungen?

War ich gestorben
oder
flog ich auf einem Teppich
durch die Lüfte?

Ich wusste es nicht.

Ich weiß nie, was ich tue

in
Deinen
Träumen.


Tinnitus

Der Schwindel …..
Der Rausch …..

Ein lautes Pfeifen im rechten Ohr.

Situationen, mit denen ich
nicht
fertig werde,
erinnern mich an Situationen,
mit denen ich nicht fertig geworden bin,
und sie
haben ihren eigenen
Klang.

Denselben Ton
von Dauer.

Und dunkle Gefühle
pfeifen am lautesten.

Eine monotone Melodie, die
keine ist.

Ich wälzte mich im Bett,
atmete schwer,
träumte wirr,
schlief leicht.

Und jedes Mal, wenn ich erwachte
– & ich erwachte oft -,
schaute ich auf die Uhr, ohne
die Zahlen zu erkennen

& hörte die Melodie, die
keine war.

Sie war nicht neu.
Das alte Lied.
Sozusagen.

Und auch die Angst,
sie könnte für immer bleiben,
war nicht neu.

Die Hintergrundmusik für
den Rest meines Lebens –
kurz oder lang.

Monotonie.

Doch später,
irgendwann –
wurde der Ton so leise, dass ich
mir nicht mehr sicher war,
ob ich ihn
noch
wirklich
hörte –

oder mich nur
an ihn erinnerte …..

exakt erinnerte,
denn ich habe das
Absolute Gehör,
von dem man heute behauptet, es
existiere nicht – es sei nur
ein extrem gutes Gedächtnis.

(Aber was ist schlimmer?
: Das Absolute Gehör
oder
: Ein extrem gutes Gedächtnis?)

Also –
ich hörte den Ton ….
oder glaubte ihn zu hören ….

& der Unterschied ist
gar nicht groß,
wenn man Phantasie besitzt.

Und ich dachte an
die dunklen Gefühle,
die nur die Schatten der hellen sind –

& ich fragte mich:

Waren sie noch da
oder
erinnerte ich mich nur an
Sie?

Zumindest
der Schwindel
war noch da.

Und ein Rest
des Rausches.


In meinen Träumen

Die Fliege seilte sich ab
aus dem Netz der Spinne
über meinem Kopfkissen

& tauchte
in meine Träume

in denen Spinnen fliegen
& Fische
Netze spinnen

aus denen Fliegen sich abseilen
um in meinen Träumen zu
schwimmen


Im Traum eines Fremden

Ein Raum, ein Bett. Eine Laterne
mit verschiedenfarbigen Glasfenstern, die
bunte Flecken auf die beiden Gesichter malte.
»Ich bin mir sicher, dass wir uns schon mal
begegnet sind«, sagte die Frau. »Ich komm
nur nicht drauf, wo.«
Der Mann sagte: »Ich habe auch das Gefühl.«
»Nein«, sagte sie, »kein Gefühl. Gewissheit.«
»Hmm, vielleicht. Aber es muss lange her sein.«
»Ja«, sagte die Frau, »lange.«
Dann schwiegen sie.
Grübelten im bunten Licht.
Vergebens.
Sie waren Fremde.
Ich kannte sie nicht.
Aber nur ich wusste, wo
sie zuerst einander begegnet waren. –
Sie hatten sich getroffen
in einem meiner wirren Träume.
Vor nicht gar so langer Zeit.
Sie hatten den Traum vergessen.
Ich nicht.


Kakerlaken

All diese Gedanken & Ideen
All diese Erinnerungen
die
in Dunkelheit
in Finsternis
durch die Schädelräume huschen
wie Kakerlaken …..

faszinierende Tiere
schnelle Tiere
ekelerregende Tiere
gepanzerte Tiere
schillernde Tiere
wimmelnde Tiere
schwarze Tiere
feige Tiere
dreiste Tiere
kopulierende Tiere
stinkende Tiere
changierende Tiere
fühlende Tiere
gehasste Tiere
fressende Tiere
geliebte Tiere
kitzelnde Tiere
scheißende Tiere
widerstandsfähige Tiere
unausrottbare Tiere

Tiere der Nacht

die in dunklen Schädelräumen
Schädel
träumen

husch

hush
hush

Doch
sobald
das Licht an-
geht

suchen sie
ihre Verstecke
auf

verschwinden
scheinbar
in Ritzen & Winkeln

in Löchern &
Hinter-
gründen

wo
das Licht
….. des Tages
das Licht
….. der Lampen
das Licht
….. der Glücksgefühle

niemals

hin

kommen

kann

…..

Dort
warten sie

Dort
lauern sie

immer wieder

auf Blicke
die sie nicht treffen
können

auf die Dunkelheit
des Vergessens

auf den nächsten Moment der
Finsternis

der
mir
willkommen
ist.


Geträumter Asphalt

Ich lag rücklings auf geträumtem Asphalt
& starrte in den Himmel
Der Himmel war dunkelgrau
& an Stelle der Wolken
zog kreisender Schaum über ihn hinweg
In dem Schaum glänzten unzählige
Luftblasen
Mein einziger Freund stand neben mir
& schaute zu wie das Moos an
meinen Häuserwänden emporwuchs
»Ich werde wahnsinnig!« schrie ich
Der Anblick des Himmels war
unerträglich
doch ich
konnte meinen Blick
nicht von ihm wenden
Ich hörte die gluckernde Bewegung
des Schaums
Mein Freund sagte nichts
Ich befürchtete in den Himmel
gesogen zu werden
Das Haus wächst zu dachte ich
Nie mehr werde ich
hineinkommen

Und eine
fremde Frau
beugte sich
sinnlos
über
mich


Ein Guter

Ich träumte von
zu hohem Gras
in meinem Garten
Von wucherndem Unkraut
& den vergangenen Katzen
die darunter ruhten
Von dem toten Hund
der den Katzen
liebevoll die Köpfe leckte

& nirgends
war ein Mensch in Sicht

Das war
ein
Guter
Traum.


Der didaktische Traum

Es war ein Albtraum, keine Frage.
Ich befand mich in einem Raum, wo
Menschen der Job weggenommen wurde.
Man nahm mir meinen &
gab mir einen anderen.
Von einem Moment auf den nächsten
sollte ich
Lehrer sein.
Ohne Ausbildung.
Man drohte mir Gewalt an &
drückte mir 2 beschriebene Blätter in die Hand.
Das eine enthielt eine kurzen Text mit der
Überschrift »Schuld«
auf dem anderen stand:
»Diskutieren Sie diesen Text mit Ihren Schülern.
Klasse 6b.«

Ich wollte den Text nicht lesen.
Ich tat es nicht.
Und dann irrte ich durch
ein gigantisches Gebäude.
Verwinkelte Gänge … unzählige Türen …
Rolltreppen … Einsamkeit & Angst …
In einer Nische stand mein bester Freund.
»Der Job ist nichts für Dich«, sagte er.
»Ich weiß«, sagte ich. »Aber vielleicht
gewöhne ich mich daran. Im Laufe der Jahre.«
Der Freund war fort, ich ging weiter.
Lief über die Rolltreppen ins oberste Stockwerk,
Regen trommelte auf das gläserne Dach.
Klasse 6b, Klasse 6b … Wo zur Hölle ist
Klasse 6b?

Es gab keine Hinweise, keine Schilder,
keine Menschen, die ich hätte Fragen können;
und hätte es sie gegeben, würde ich wohl nicht den
Mut gehabt haben, zu fragen.
Ich ging immer weiter. Weiter. Dachte darüber nach,
wie ich
unterrichten würde ….

Ich betrete den Klassenraum.
Ordentlich & aufrecht sitzen sie da.
Jungs & Mädchen.
Eine eher kleine Klasse.
Sie schauen zu mir auf, während ich
zu meinem Pult gehe.
Ich sage:
»Morgen, Ihr Freaks.«
Und setze mich.
Werfe die beiden Blätter auf den Boden.
Lege die Füße hoch.
Ich sehe das Erstaunen in den
kleinen Gesichtern.
Entgeisterung.
Sie blicken sich gegenseitig an.
Fragend.
Einige lächelnd.
»Guten Morgen«, sagen sie dann.
Im Einklang.
Einstudiert.
»Ihr wollt was lernen?« frage ich.
»Ja«, antworten sie.
Im Einklang.
Einstudiert.
»Ich kann Euch aber nichts beibringen«,
sage ich. »Ich weiß
nichts.«
Schweigen.
»Ihr solltet lieber
zu Hause sein, im Bett liegen &
Musik hören. Oder durch den Regen laufen
& in die Pfützen springen. Ihr
solltet nicht hier sein.«
Wieder lächeln einige Wenige.
Und setzen sich bequemer hin.
Und

Ich ging weiter.
Öffnete wahllos eine der Türen.
Köpfe auf Hälsen bewegten sich, wandten mir
Gesichter zu – viele kleine Menschen +
1 Lehrerin.
Alle stumm.
Schnell machte ich die Tür wieder zu.
Weiter. Weiter.
Unterm Regengetrommel.
Und dann sah ich
hinter Glasfenstern & Glastüren
ein riesiges Atrium.
Ein Atrium im obersten Stockwerk!
Überall Bänke & Tische.
An denen Menschen saßen,
offenbar Schüler & Lehrer.
Sie waren beim Essen.
Der Regen fiel auf sie herab,
verdünnte ihre Suppen, füllte ihre Gläser.
Sie mussten verrückt sein.
Alle.
Durch eine der Türen betrat ein Mann das
Innere des Gebäudes. Er trug
eine Polizeiuniform, führte einen Hund;
Hund & Mann waren nass.
Ich nahm
meinen Mut zusammen.
»Entschuldigung«, sagte ich zu der
Uniform. »Ich suche
Klasse 6b.«
Der Hund trug einen Maulkorb.
Der Mann sagte:
»Da müssen Sie ins Untergeschoss.
Und dort gehen Sie dann ….«
Er beschrieb einen Weg, den ich sofort
vergaß.
Ich bedankte mich, wandte mich ab &
suchte die Rolltreppe, die mich
nach unten bringen sollte.
Ich konnte sie nicht finden.
Mir fiel auf, dass
die beiden Blätter nicht mehr
da waren. Ich musste sie verloren haben. –
Ja, vielleicht
würde ich mich
an den Job gewöhnen –
im Laufe der Jahre.


Durchbrochene Einsamkeit

Der Rückenschmerz weckte mich.
Ich lag verkehrt.
Langsam, ganz langsam
drehte ich mich im Bett; dann
ließ der Schmerz nach.
Der Wecker gönnte mir noch 2 Stunden.
Der Traum war abgebrochen.
Nach all diesen Jahren
war Sie wieder da
gewesen –
in einem unbekannten Haus;
sie roch & schmeckte wie früher;
unsere Vertrautheit schien niemals
unterbrochen worden zu sein.
Gegenwärtige Vergangenheit ….
vergangene Gegenwart.
Sie schenkte mir
Nacktfotos von sich; ich tat sie
in eine geträumte Tasche.
Dann folgte:
Vergessen. – –
Wovon war ich noch gleich
aufgewacht?
Ach ja, vom Schmerz.
Ich hatte verkehrt
gelegen.
Ich wollte nur weiterschlafen –
jetzt! Sofort!
Aber ich wusste, es würde mir
nicht gelingen.
Wo war die Tasche?
Ach ja, ich hatte sie
im Traum liegen gelassen.
Langsam drehte ich mich
im Bett auf eine Seite,
die nicht schmerzte –
& ich dachte:
Bitte, noch so einen Traum von
durchbrochener Einsamkeit!


Der Schneestrand

Eigentlich hätte da
Sand & Sonne sein müssen, aber
es lag Schnee am Strand, und
der Himmel war schwer & dunkel.
Das Meer fast schwarz,
regelmäßig gemustert von sanften Wellen.
Wir liefen barfuß durch die weiße Kälte.
Ich wusste nicht, wer sie war, aber
sie schien mich zu kennen.
Schön war sie
&
jung
&
einsam.
Ich war
einsam
&
alt
&
hässlich.
Wir lachten, bis uns warm wurde.
Das Meer war ein Rausch
im Hintergrund.
Es war eine
verkehrte Welt,
durch die wir liefen.
Aber für uns war es
die
einzig
wahre.


Der Traum

In einer Stadt, die ich nicht kannte,
in einem Haus, das mir fremd war,
lag ich nackt in einem Bett, das mir nicht gehörte,
neben einer Frau, die mich liebte.
Ich weiß nicht, wer sie war – ihr Gesicht
changierte.
Nackt las sie in einem Manuskript.
Unsere Beine waren ineinander verschränkt.
»Das ist gut«, sagte sie. »Warum schickst Du
es nicht an einen Verlag?«
»Nein«, sagte ich.
»Hast Du nie davon geträumt?«
»Als Kind vielleicht. Und vielleicht als
Jugendlicher noch – aber schon nicht mehr
so richtig.«
»Schade«, sagte sie & reichte mir einen
Umschlag.
Ich saß an einem Tisch, zitternd trotz
dicker Winterkleidung, und schob das Manuskript
in den Umschlag. Ich verschloss ihn mit meiner
Spucke & schrieb eine Adresse darauf, die ich
auswendig zu kennen schien. Ich war allein.
Allein in einer kopfsteingepflasterten Gasse.
Abenddämmerung.
Vor einem geschlossenen Geschäft hing der
Briefkasten. Als ich den Umschlag einwarf, sah ich
hinter einem der Fenster das Gesicht einer
alten Frau; es kam mir bekannt vor. Hinter ihr
war Dunkelheit. In die sie verschwand.
Das Haus, in dem die Gedanken kamen, war ein
anderes als das Haus, das mir fremd war. Und
das Bett war leer.
Ich habe den Begleitbrief vergessen! Verdammt! –
Obwohl …. Nein, vielleicht ist das gut …. So
wissen sie nicht, ob es ein unaufgefordert eingesandtes
Manuskript ist …. Vielleicht lesen sie es dann
wirklich ….

Längst hatte ich vergessen, um welchen Text es sich
handelte. (Hatte ich es je gewusst?)
Mir fiel auf, dass dieses Haus keine Fenster hatte.
Zumindest nicht in dem Moment, als es mir auffiel.
Und dann
: DER ABSENDER!
Habe ich den Absender auf den Umschlag…..?
Oben links. Links oben. Habe ich?- – – Ja …. Nein ….
Nein … Ja …

Mal sah ich meinen Namen & meine Adresse, mal sah ich
sie nicht – & dann wieder wußte ich nicht, wie meine Adresse
lautete ….
Je länger der Zweifel nagte, desto mehr Buchstaben
bekam die Anwort.
Was wollte ich eigentlich?
In diesem Traum …..
Der nicht aus meiner Kindheit stammte
& nicht aus meiner Jugend.
Dass ich den Absender geschrieben hatte?
Oder dass ich vergessen hatte, ihn zu schreiben?
Oder dass es ein fremder Absender war?
– – Über all diesen Fragen & Zweifeln
wachte ich auf ….
Nackt in dem Bett, das mir gehörte,
neben der Leere, die mich liebte, mit ihrem
unveränderlichen Gesicht;
unsere Beine waren ineinander verschränkt,
in dem Haus, das mir vertraut war,
in der Stadt, die ich
kannte.


Das Traumbuch

Und dann ging ich
zum Bücherregal & suchte
nach diesem
einen Buch.

Unbedingt
wollte ich es lesen.
Jetzt.

Ich war überzeugt
es zu besitzen.

Ich schritt die Reihen ab,
hin & her,
Meter für Meter –
erst langsam, dann
schnell, dann
wieder langsam.

Die Verzweiflung wuchs.
Der Wunsch, es zu lesen
wuchs
mit der Verzweiflung.

Wo war dieses Buch?
Ich wusste, es existiert.

Ich schwitzte.
Kam außer Atem.

Hielt schließlich inne &
setzte mich auf den Boden vor dem Regal.

Und dann
irgendwann
wurde es mir klar – :

Ich hatte dieses Buch
nur
in einem Traum gekauft.


Schatten

Ich träumte, ich sei
der Schatten auf dem glitzernden
Kopfsteinpflaster
in einer verregneten Sommernacht.
Ich war der Schatten einer jungen Frau
in einem kurzen Kleid.
Das Licht der Laternen hatte mich geboren,
und ich glitt über den Boden,
so schnell sie es wollte.
Ich hörte den Rhythmus der Schritte,
die mich berührten.
Der Himmel war schwarz,
der Mond war neu,
und die Frau war hell.
Und ich blickte hinauf
über nackte Schenkel
auf das
feuchte
Höschen, das
sich im Schatten bewegte.
Die Frau war allein,
und sie träumte
in ihrer Einsamkeit
von dem
Schatten,
der
ich
war.

 

(Inwendig vorgetragen:)


Fahndungsfotos & Steckbriefe

All diese Fahndungsfotos & Steckbriefe,
die an den Wänden meiner Träume hängen….
Und dann wache ich auf, und
die Wände sind leer.
Ich bin wach & gehe durch die Straßen ….
In meiner Erinnerung:
die Fahndungsfotos,
die Steckbriefe ….
Doch niemand in der Realität
sieht diesen Fotos ähnlich,
auf niemanden
passen die Beschreibungen der
Steckbriefe.
Gesucht –
Nicht tot, sondern lebendig.


Kein zurück

Niemals gelingt es,
einen Traum fortzusetzen, wenn man einmal
aus ihm erwacht ist.
Selbst wenn man sofort
wieder einschläft, findet man nicht mehr
in ihn zurück.
Man findet sich wieder in
einem neuen Traum.

Zumindest mir
geht es so – mit jeder Art von Traum.
Egal, ob ich schlafe
oder wache.

Und jedes Mal
tut es mir leid.

Jedes Mal.

Selbst wenn es sich
um einen
Albtraum handelte.


Ein allzu einfacher Traum

Im Nachhinein kam der Schlaf mir vor wie eine Vollnarkose; irgend
etwas traumlos-Schwarzes aus Alkohol, Nikotin, Kopfschmerz & As-
pirin. Und als ich aufwachte, konnte & wollte ich nicht aufstehen.
Noch mehr Kopfschmerz.
Ich blieb liegen, schlief wieder ein. Wieder erschien alles
traumlos-schwarz.
Gegen 1 Uhr Nachts machte ich mir schließlich Frühstück; Spiegel-
ei auf Toast, Grüner Tee & Aspirin.
Es gab keinen Grund, aufzustehen (wie fast immer), ich tat es
trotzdem. Fühlte mich wie ein stolpernder Schwindel.
Als erstes checkte ich, was für einen Mist ich mal wieder im Voll-
rausch geschrieben hatte. Es war wie immer: Manches ging so,
anderes war mehr als überflüssig. Egal. Den Kopf konnte ich nicht
schütteln – wegen der Schmerzen & des Schwindels; obwohl ich ihn
gerne geschüttelt hätte.
Und irgendwann war sie da – die Erinnerung an einen Traum.
Ich hatte mich geirrt. So traumlos-schwarz war mein Schlaf nicht ge-
wesen. Natürlich nicht.
Schwarz waren die Vogelspinnen meines Traums. Und sie waren überall.
Überall in meinem Haus, in dem die Möbel fehlten. Und sie huschten
über den nackten Boden, diese Spinnen. Und mit einer Schnapsflasche
ging ich umher; und immer, wenn mir eine Spinne zu nahe kam, erschlug ich sie
mit dem Boden der Flasche. Zurück blieben die zerstörten schwarzen
Körper.

Dieser Traum war so simpel,
seine Deutung ist so naheliegend,
dass ich glaube,
hinter seiner Einfachheit
muss
etwas
Anderes
verborgen
sein.

Irgend etwas
Anderes,
das ich
nicht
wissen
will.


Das geometrische Licht

Zuweilen, wenn ich in der Nacht
mit aufgeblendeten Scheinwerfern
an einem dunklen Haus vorüberfahre –
Fenster unerleuchtet,
Jalousien nicht heruntergelassen –
male ich mir aus, dass hinter einem dieser Fenster
jemand im Bett liegt …..
schlaflos
allein
mit offenen Augen in die Fastdunkelheit starrend.
In Gedanken & Wachträumen gefangen. – –
Und plötzlich
gleitet mein Fernlicht als geometrische Figur
über die Wände des Zimmers ….
über die Tapete
über die Bilder
über die Zwischenräume
über die Leere ….
Eine geometrische Figur, die
womöglich
Assoziationen weckt
andere Gedanken
andere Träume –
Erinnerungen …..
Bevor sie das Zimmer wieder verlässt.
Vielleicht hätte ich langsamer fahren sollen.
Vielleicht hätte ich anhalten sollen.
Meist fahre ich zu schnell.
Und die Fastdunkelheit, die nach dem
Fernlicht kommt, erscheint dem starrenden Auge
wie Finsternis.