Tagesarchiv: 14. Mai 2012

Der Showmaster

Keine Fluchtmöglichkeit.
Kein Entkommen
vor dem Bild des Toten
in meinem Kopf.
Durch meine Augen wurde es
nach außen projiziert; ich
sah es
überall
vervielfacht –
wie ein Tapetenmuster auf den Wänden,
wie ein Teppichmuster auf dem Boden –
& ich sah es
in den Gesichtern aller Menschen.

Ich war dem Bestatter &
meiner Mutter in die winzige Kapelle gefolgt ….
Draußen war es längst dunkel.
Der offene Sarg stand zwischen hohen
Kerzenleuchtern.
Auf den ersten Blick
fing ich an zu
zittern.
Ein Gemisch aus Rotz & Tränen
tropfte auf den Boden.
Ich blieb nahe bei der Tür stehen,
keinen weiteren Schritt hätte ich
in Richtung Sarg machen können.
Die Augen des Toten schienen mir
nicht ganz geschlossen zu sein; sie
beobachteten mich.
Der Mund war nicht ganz geschlossen;
das Gebiss wirkte monströs
zwischen den zurückgezogenen Lippen.
Schmerz war der alte Meister, der die
vergilbte Haut gezeichnet hatte.
Die Frisur des Toten war
irgendwie seltsam – ähnlich wie er sie
im Leben getragen hatte, aber eben doch
nicht exakt so …. Der Bestatter hatte
die kaum ergrauten Haare gekämmt.
Als die Mutter an den Sarg herantrat &
das Gesicht berührte, das vom Krebs
leergefressen worden war, wurde
das Grauen für mich
unerträglich.
Und sie schaute zu mir herüber & fragte:
»Willst Du nicht näher kommen & Dich
verabschieden?«
Als ich den Kopf schüttelte, tropften noch mehr
Tränen & Rotz auf den Boden.
»Wir müssen gehen«, sagte meine Mutter
zu dem Bestatter. Der Bestatter war
der Vater eines Schulfreundes.
Sie nahmen mich zwischen sich, hielten mich
unter den Armen, da ich
kaum laufen konnte.
Und sie brachten mich zum Auto.
»Das war ein Fehler gewesen«, sagte sie.

Zuhause
ging ich in mein Zimmer.
Das Bild des Toten.
Das Bild des Toten.
Das Bild des Toten.
Überall.
Ich schaltete den kleinen Schwarzweiß-
fernseher ein, den der Tote mir
knapp 1 Jahr zuvor
zu Weihnachten geschenkt hatte.
Es lief eine Spielshow, die
ich immer gerne sah.
Alle Beteiligten hatten
das Gesicht des Toten ….
Aber der Showmaster hatte auch
die Statur des Toten. Und
seine Frisur sah exakt so aus wie
die Frisur, die ich kurz zuvor gesehen hatte;
sie war
wie von einem Bestatter kreiert ….
Der Showmaster war
das Erschreckendste von all diesen
kleinen, schwarzweißen Wesen.

Und ich verstand nicht,
was sie sagten.
Und ich begriff nicht,
was sie taten.

Und die Träume, die folgten, waren
widerwärtig.

Und die Zeit, die folgte, ließ
das Bild des Toten
verblassen.

13 Jahre später
erhielt der Showmaster
einen Preis.
Er hielt eine Dankesrede.
Sein Gesicht
war leergefressen vom Krebs,
der Hemdkragen zu weit
für seinen Hals.
Schmerz war der alte Meister, der
unter der Schminke
sein Gesicht gezeichnet hatte.
Sein kaum ergrautes Haar
(im Farbfernseher)
schien mir ein wenig anders als sonst
gekämmt worden zu sein – –
aber ich mochte mich irren.

Kurz darauf
war der Showmaster tot.

Ich
schaute immer weniger
Fernsehen.

Der Bestatter hatte
meinen Vater fotografiert;
es war der Wunsch meiner Mutter gewesen.
Die Fotos tat sie in einen
altertümlichen Stahlsafe im Keller, den
mein Vater noch selber gekauft hatte.
Niemals wurden diese Fotos
betrachtet …..

Der Stahlsafe –
es gibt ihn noch.
Er steht noch immer in einem Keller.
Immer noch liegen die Fotos darin.
Noch immer
unbetrachtet ….

Manchmal
in durchzechten Nächten, wenn
die Musik
sehr laut ist,
zieht es mich in den Keller
wie an den Rand eines Abgrundes.
Schon als Kind glaubte ich oft,
in die Tiefe springen zu müssen ….
Doch etwas anderes in mir
hielt mich jedes Mal
zurück.
Und auch jetzt noch
ist es so.
Der Safe bleibt verschlossen;
die Fotos unbetrachtet

bis
(vielleicht)
kurz vor
dem
end-
gültigen
Sprung.


Die zerkratzte Rückenlehne

Irgendwann ist dann nur noch
die Rückenlehne
zerkratzt

Die Rückenlehne
des Sessels
auf dem man
fast bewegungslos
sitzt

Katzen
die längst verstorben sind
haben
ihre Krallen daran
geschärft

Und man
erinnert sich

Es gab mal eine Zeit
da war
der eigene Rücken
zerkratzt

Zerkratzt
von
Leidenschaft

die scharf war

Zerkratzt
von der
Leidenschaft

verschwundener
oder
verstorbener Frauen


Die Lieblingsbücher meiner Jugend

Ich widerstehe
dem Drang,
die Lieblingsbücher meiner Jugend
wiederzulesen.

Denn ich kenne
meine Erinnerung &
ihre Kraft.

Und ich weiß,
was die Zeit
anrichtet.

Ich möchte sterben
mit Illusionen,
die nicht
zerstört wurden.