Tagesarchiv: 4. Juni 2012

Die erste Schleife

Den Moment, als man
die erste Schleife
seines Lebens
ohne fremde Hilfe
gebunden hatte …..
man vergisst ihn nie.
Die Freude,
den Stolz,
das Lächeln der anderen.

Schon die zweite Schleife
verursacht
ein bisschen weniger Freude,
ein bisschen weniger Stolz,
ein schwächeres Lächeln der anderen.

Hunderttausende von Schleifen
werden folgen …..

die nur noch
pure Funktion
sind.

Das Bewußtsein
seiner eigenen Fähigkeit
geht verloren.
Scheinbar.

Und vielleicht auch
die Freude.

Doch die Erinnerung
an diesen Moment kann
dieses Bewußtsein
wiederfinden.

Und vielleicht auch
die Freude.


Die Feuergabe

Wir saßen uns gegenüber bei irgendeiner
Hochzeitsfeier. Kannten uns
oberflächlich – seit einiger Zeit – hatten
einige Male miteinander
Tränen
gelacht.
Die Musik
war laut & schrecklich,
es roch nach Essen, Alkohol & Rauch,
Menschen tanzten
(die meisten kannte ich nicht),
das Brautpaar tanzte.
Die Braut war hübsch;
mein Gegenüber
hätten wohl die wenigsten
als hübsch bezeichnet.
Sie öffnete ihre Handtasche,
holte eine Schachtel Zigaretten heraus,
steckte sich eine zwischen die Lippen &
kramte weiter in ihrer Tasche herum ….
Sie suchte nach Feuer.
Ich schaute mich um, blickte über
meine Schulter zum Nachbartisch.
Eine fremde Frau rauchte, mit dem
Rücken zu mir. Ich
tippte ihr auf die Schulter,
sie wandte sich um, schaute mich
überrascht an. Sie war
schön –
sehr schön,
oberflächlich betrachtet.
Stumm deutete ich auf
das Feuerzeug, das vor ihr lag.
Sie lächelte &
reichte es mir.
Es war ein Einwegfeuerzeug.
Ich drehte mich wieder um, streckte
den Arm aus, drehte am Rädchen
des Feuerzeugs …..
Mein Gegenüber lächelte
überrascht, schaute mir
in die Augen –
die Flamme spiegelte sich
klein in ihren Brillengläsern ….
Und ihr überraschtes Lächeln
fand ich schöner als
die fremde Eigentümerin
des Feuerzeugs.


Wiederkehrende Frage

Hin & wieder ….
Nein, sehr oft
frage ich mich:

Was würde,
was könnte
ich alles schreiben, wenn
ich mich
gesund fühlen würde?

Körperlich.

Ohne Schwindelanfälle ….
Ohne Benommenheit ….
Ohne Konzentrationsschwäche ….
Ohne chronische Müdigkeit ….
Ohne tanzende Flecken vor den Augen?
Ohne Kopfschmerzen ….

Was würde,
was könnte
ich alles schreiben?

Große Romane?
Philosophische Werke?
Ausgefeiltes, zu Ende Gedachtes?
Alles, was
einen langen Atem erfordert?

Hin & wieder ….
Nein, sehr oft
stelle ich mir diese Frage.

Und wahrscheinlich
ist es gut, dass ich
die Antwort
aller Voraussicht nach
niemals
bekommen werde.


Der didaktische Traum

Es war ein Albtraum, keine Frage.
Ich befand mich in einem Raum, wo
Menschen der Job weggenommen wurde.
Man nahm mir meinen &
gab mir einen anderen.
Von einem Moment auf den nächsten
sollte ich
Lehrer sein.
Ohne Ausbildung.
Man drohte mir Gewalt an &
drückte mir 2 beschriebene Blätter in die Hand.
Das eine enthielt eine kurzen Text mit der
Überschrift »Schuld«
auf dem anderen stand:
»Diskutieren Sie diesen Text mit Ihren Schülern.
Klasse 6b.«

Ich wollte den Text nicht lesen.
Ich tat es nicht.
Und dann irrte ich durch
ein gigantisches Gebäude.
Verwinkelte Gänge … unzählige Türen …
Rolltreppen … Einsamkeit & Angst …
In einer Nische stand mein bester Freund.
»Der Job ist nichts für Dich«, sagte er.
»Ich weiß«, sagte ich. »Aber vielleicht
gewöhne ich mich daran. Im Laufe der Jahre.«
Der Freund war fort, ich ging weiter.
Lief über die Rolltreppen ins oberste Stockwerk,
Regen trommelte auf das gläserne Dach.
Klasse 6b, Klasse 6b … Wo zur Hölle ist
Klasse 6b?

Es gab keine Hinweise, keine Schilder,
keine Menschen, die ich hätte Fragen können;
und hätte es sie gegeben, würde ich wohl nicht den
Mut gehabt haben, zu fragen.
Ich ging immer weiter. Weiter. Dachte darüber nach,
wie ich
unterrichten würde ….

Ich betrete den Klassenraum.
Ordentlich & aufrecht sitzen sie da.
Jungs & Mädchen.
Eine eher kleine Klasse.
Sie schauen zu mir auf, während ich
zu meinem Pult gehe.
Ich sage:
»Morgen, Ihr Freaks.«
Und setze mich.
Werfe die beiden Blätter auf den Boden.
Lege die Füße hoch.
Ich sehe das Erstaunen in den
kleinen Gesichtern.
Entgeisterung.
Sie blicken sich gegenseitig an.
Fragend.
Einige lächelnd.
»Guten Morgen«, sagen sie dann.
Im Einklang.
Einstudiert.
»Ihr wollt was lernen?« frage ich.
»Ja«, antworten sie.
Im Einklang.
Einstudiert.
»Ich kann Euch aber nichts beibringen«,
sage ich. »Ich weiß
nichts.«
Schweigen.
»Ihr solltet lieber
zu Hause sein, im Bett liegen &
Musik hören. Oder durch den Regen laufen
& in die Pfützen springen. Ihr
solltet nicht hier sein.«
Wieder lächeln einige Wenige.
Und setzen sich bequemer hin.
Und

Ich ging weiter.
Öffnete wahllos eine der Türen.
Köpfe auf Hälsen bewegten sich, wandten mir
Gesichter zu – viele kleine Menschen +
1 Lehrerin.
Alle stumm.
Schnell machte ich die Tür wieder zu.
Weiter. Weiter.
Unterm Regengetrommel.
Und dann sah ich
hinter Glasfenstern & Glastüren
ein riesiges Atrium.
Ein Atrium im obersten Stockwerk!
Überall Bänke & Tische.
An denen Menschen saßen,
offenbar Schüler & Lehrer.
Sie waren beim Essen.
Der Regen fiel auf sie herab,
verdünnte ihre Suppen, füllte ihre Gläser.
Sie mussten verrückt sein.
Alle.
Durch eine der Türen betrat ein Mann das
Innere des Gebäudes. Er trug
eine Polizeiuniform, führte einen Hund;
Hund & Mann waren nass.
Ich nahm
meinen Mut zusammen.
»Entschuldigung«, sagte ich zu der
Uniform. »Ich suche
Klasse 6b.«
Der Hund trug einen Maulkorb.
Der Mann sagte:
»Da müssen Sie ins Untergeschoss.
Und dort gehen Sie dann ….«
Er beschrieb einen Weg, den ich sofort
vergaß.
Ich bedankte mich, wandte mich ab &
suchte die Rolltreppe, die mich
nach unten bringen sollte.
Ich konnte sie nicht finden.
Mir fiel auf, dass
die beiden Blätter nicht mehr
da waren. Ich musste sie verloren haben. –
Ja, vielleicht
würde ich mich
an den Job gewöhnen –
im Laufe der Jahre.