Tagesarchiv: 9. Juli 2020

6 Stunden, 5 Nächte, 5 Jahre

Sechs Stunden im Zug.
Ich fuhr nach München.
Ihr Freund war zur Kur, das Hotelzimmer
reserviert. 5 Nächte. Billig.
Tags gingen wir spazieren; sie
zeigte mir die Stadt, die sie verabscheute.
Abends schauten wir fern in ihrer (seiner) Wohnung.
Nachts im Hotel wurde gefickt.
Ich bezahlte sie. (Nie davor & nie danach
habe ich bezahlt, und für keine andere
hätte ich es getan.) Es ging um
ihr Gewissen; da ich sie bezahlte,
fiel es ihr leichter, ihren Freund
zu hintergehen. Menschliche Seele,
man kennt das: dieses Ding da, aus
dem man kaum schlau wird. Küssen
durfte ich sie nicht. Das war das Schlimmste.
Aber auch die Bezahlung war grausam
für mich. Am letzten Tag
hatte sie einen Termin. Jemand anderes
hatte ihr online Geld für Sex geboten; sie
langweilte sich, also wollte sie
etwas erleben. Ein bisschen Schwung
ins Leben bringen. Ich ging
in ein Museum, und sie zu dem Café,
wo sie alles besprechen wollten.
Eine Stunde später waren wir
wieder zusammen. »Und?«
fragte ich. – »Wird schon gehen«,
sagte sie. »Er hat mir gleich die Hand
aufs Bein gelegt. Das hasse ich. Außerdem
hat er eine hohe Stimme. Wie ein Mädchen.
Schrecklich. Zu jung isser auch,
nächste Woche treffen wir uns.«
Dieses Ding da, aus dem man kaum
schlau wird. Ich habe es auch.
Ein Schmerz im Herz, ein Puckern
im Schwanz. Ich weiß es doch auch nicht.
Es war alles so seltsam. Am nächsten Tag
saß ich wieder im Zug. Zum Abschied
durfte ich sie nicht einmal
auf die Wange küssen. Am Telefon
erzählte sie mir später alles
ganz genau. Die Therme, das Stundenhotel,
der Whirlpool… Und wieder:
Schmerz & Puckern.

Mehr als 5 Jahre
leben wir jetzt zusammen.
Kein Ende abzusehen.
Mehr Glück ist
dem Menschen nicht zugänglich.

 


Vertragt euch doch

In meinen Bücherwänden stehen sie
Seite an Seite. Die Autoren,
die einander kannten

& hassten. Ihre Werke
kuscheln fast, so nahe
stehen sie sich.

»Vertragt Euch, Kinder«, sage ich.
»Ihr seid nun schon so lange tot,
da streitet man nicht mehr.

Dachtet Ihr, Ihr hättet nicht genug
Raum? Habt Ihr nicht gesehen,
daß Ihr gegen dasselbe kämpftet,

wenn auch nicht immer für dasselbe?
Ihr hattet gemeinsame Feinde;
das hätte Euch zu Freunden machen können.

Aber nun ist Ruhe. Ich dulde keine
Auseinandersetzung in meinen Regalen.
Die streitsüchtige Jugend ist vorbei,

Ihr seid tot – und habt überlebt.
Reicht Euch die Bände.
Ich hab Euch alle lieb.«


Ich richte mich

(Und hier sehen wir
den Dichter in der Krise.
Erste Zeichen der Verdüsterung,
die in der Umnachtung gipfelte:)

Ich richte mich
an die noch nicht Geborenen.

Und, wenn ich’s könnte,
an die Toten. An euch,

abenddämmernde Zeitgenossen,
richte ich mich

nicht! Genießt eure
Zeit. Etwas anderes bleibt

euch nicht. Und habt ihr sie
genossen, die Zeit, ihr Zeitgenossen,

frisst sie euch
von innen auf.

Ganz still & ätzend,
den Dreck zersetzend,

der ihr seid.
Ich schreib euch klein.

Ich schreib euch kurz,
da ist mir euer ego schnurz.

Ich richte euch.
Ich richte mich

an — wie eine
Henkersmahlzeit.

Eure.
Mahlzeit!

(Wir enthalten uns
jeglicher Interpretation.
Der kluge Leser wird –
Sagten wir ›der kluge Leser‹?
Hahahaha.)


Wenn, dann

Versuche, mich zu fassen.
Zu begreifen, wer & was ich bin.

Wenn du was weißt,
sag’s mir.

Denn ich
weiß es nicht.

Sag es, und dann schweigʼ
für immer.