Tagesarchiv: 22. Juli 2020

Wind

Wäre ich ein Wind,
würde ich die Vögel schaukeln
in den Zweigen.

Den ganzen Tag
mit Röcken spielen
& die Mädchen mit ihren eigenen Zöpfen kitzeln.

In herbstlichen Bäumen blätterte ich
wie in bunten Büchern.
Alles Flatterhafte

wäre mir Zerstreuung,
und den Lärm trüge ich fort
von den Ohren der Geliebten.

Die Menschen würden sich wundern:
Der Wind, der Wind – macht was er will!
Aber was er müsste, tut er nicht…..

Als gäbe es kein Naturgesetz,
bewegt er bloß, was er bewegen möchte;
was ihn nicht interessiert, umweht er.

Er ist so still. Und launenhaft.
Ein Hauch nur, ohne Nutzen.
Er treibt sich rum, er kräuselt das Meer,

als wäre alles für ihn geschaffen.
Tja – wär´ ich ein Wind
würde es wohl so

sein. Vieles anders.
Nur ich –
nicht.


Zeitkritik

Diese zeitkritischen Dichter,
diese Gesellschaftskritiker —

Schon toll, gell?
Langlebig nicht, aber toll.

Ich kann die Zeit ja auch nicht
leiden. Die macht alt. Und tot.

Und die Gesellschaft erst.
Zum Kotzen! Nur auf

dem Friedhof kann man sie ertragen.
Also treffen wir uns da. Kommen Sie,

wenn ich tot bin. Lang leb ich
nicht mehr, aber toll.


Schau da

Schau da, ein Mensch!
Manchmal weiß ich nicht, kucke ich
gerade aus dem Fenster

oder in einen Spiegel.
Und wo ist da
der Unterschied —

Die Grenzen sind aus Glas.
Ich versuche, mich
zu unterscheiden,

aber wenn das jeder tut,
wird’s schwierig. Hinterm
Glas ist immer eine Welt.

Ich winke kurz, dann weiß ich
mehr. Vielleicht. Ja, aha,
ich bin also doch

eine junge Frau.


Ja, die Wissenschaft

»Du hättest Arzt werden sollen«, sagte sie, »Du hast
so sanfte Hände.« »Ja, als Kind dacht ich daran, ich
konnte so gut Blut sehen und mochte die

Operationen im Fernsehen. Aber letzten Endes
hätte ich doch nur Mädchenarzt werden wollen.«
Sie lachte. »Nicht

Tierarzt?« »Auch das. Aber nur
für Kleintiere. Wer will schon seinen Arm
im Arschloch einer Kuh versenken.

Lieber ein Kätzchen heilen,
oder einem Häschen die Löffel putzen.«
»Perverses Schwein!« Kichern.

Das Erklingen eines Klapses. Nach
Schwingen des Mondes.
Abendrot der Oberfläche.

Ȇberhaupt: die Wissenschaft!
Wie ein Kind sie sich vorstellt.
Astronomie! Da hätte ich

landen wollen mit meiner Rakete.« »Wo?«
»Na da.« »Oh – ha ha, das kitzelt.«
»Oder das Klima erforschen,

heiß & feucht in südlichen Regionen.
Und am Nordpol in einem Lächeln versinken.
Piepmätze beobachten, und

den Schlangen beim Züngeln zusehen.
Und dann erst die Meeresforschung! Wo
Lachmöwen kreischen, und

die Muräne schweigt.« »Na,
jetzt geht’s aber durch mit dir.«
»Das Gefühl habe ich auch.

Recht oft sogar. Mein Vater
war Zoologe. Das erklärt so Manches.
Eines Tages schenkte er mir ein Stethoskop.

Vermutlich kann ich deshalb so gut
zuhören.« »Apropos:
reich mir mal die Decke, du

Polarforscher – nicht dass
ich mich verkühle.« Da lag sie.
Am Boden. Ich dachte noch

kurz an die Lehre von den Vulkanen,
an Couchkunde & Mathematik
(10 + 4 + 19 + 5 + 7 + 15) x 1

Dann war die Sprechstunde vorüber.
Der Somnologe misst die Zeit
in Schweigeminuten.