Auf kurze Sicht

»Ich kann keine Straßenschilder mehr richtig erkennen«,
sagte mein Bruder. Damals, nachdem er
aus dem Knast gekommen war.
Er führte das zurück
auf die Enge der Zelle; auf das lange
Vorsichhinstarren – den Blick auf die Wände gerichtet.
Wände mit Bildern fremder Frauen. Frauen, die
nackt waren. In der Einsamkeit. Eingeschlossenheit.
Er besorgte sich eine Brille. Um die Schilder
wieder lesen zu können. Die Schilder mit den Regeln.
Meine Kurzsichtigkeit hat andere Gründe.
Und ich war ja auch weniger lange eingesperrt gewesen.
Damals – in der Klapsmühle.
Gebrochenes Herz, gebrochener Kopf, gebrochener Blick.
Auch ich besorgte mir eine Brille. Um die Ferne
wieder erkennen zu können. Die Ferne, in die ich
niemals wollte. In der Wirklichkeit. (Und
scheiß auf die Regeln, die dort herrschen!)
Nein, sie ist nicht zwangsläufig angeboren – die Kurzsichtigkeit.
Früher hatte ich das immer geglaubt. Man glaubt eben schnell –
bevor man eigene Erfahrungen macht. (Und dass diese Erfahrung
mich & meinen Bruder nichts Falsches gelehrt hatte, bestätigten mir
die medizinischen Fachbücher.)
Oftmals nehme ich sie ab – die Brille.
Ich brauche sie nicht, um zu lesen. Oder zu schreiben. Sie stört
beim Küssen. Sie stört beim Sex (zumindest beim Sex mit Anderen).
Und was weit weg ist, gefällt mir
verschwommen
oft besser.
Ich sperre mich selber ein.
Mein Haus ist ein Gefängnis & eine Klapsmühle
zugleich.
Glaubte ich an den Freien Willen, würde ich sagen:
ich sperre mich freiwillig ein.
Aber so naiv bin ich nicht. War ich nie.
Ich mag das lange Vormichhinstarren. Den Blick
auf die Wände gerichtet. Wände mit Bildern.
Fotos von Fremden. Da ich Familienfotos hasse. Nacktfotos
der Geliebten (ein Plural, der zum Singular wurde….)
Manche der Fotos selber geschossen, manche
geschossen von Geliebten der Geliebten – die man
niemals kennenlernen wird….. Die Frau
meines Bruders….. (Oh, diese
Mehrdeutigkeiten!) Gebrochenes
Herz, gebrochener Kopf, gebrochener Blick.
Und noch mehr sehe ich
in den Zwischenräumen.
Wo man ohne Brille schärfer sieht. Mehr er
kennt.
Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich
in meinen Träumen eine Brille trage. Wahr
scheinlich. Doch sie spielt keine Rolle. Dort.

Es dauerte nicht lange –
bis mein Bruder keine Brille mehr brauchte.
Die zurückgenommene Anpassung war eine neue Anpassung.
Ich hatte immer meine Schwierigkeiten
mit der Anpassung.
Meine Brille ist alt. Zu alt. Sie stammt aus einer Zeit
als ich Alles anders sah. Doch nur
die Oberflächen sah ich anders. Damals.
Die Unschärfe ist mein Zeitmesser.
Auf lange Sicht bräuchte ich
eine neue Brille.
Aber nein.
Nichts, was wirklich wichtig ist, sähe damit
anders

aus.

 

 

 

Kreuz- & Querverweise:

Die Klapsmühle
Das Fingerschnippen
Rosinen im Kopf
Das Chaos spritzt Wassertropfen


Kommentare sind deaktiviert.

%d Bloggern gefällt das: