Tagesarchiv: 1. Juni 2011

too much information

Manchmal kommt alles zusammen.
Unterwegs zur Nachtschicht, kurz nach 22 Uhr. Die Strecke: 45 Kilometer. Hin & wieder hielt ich an, öffnete die Tür & kotzte auf die Straße. Dann fuhr ich weiter. Eiskalter Schweiß auf Stirn & Kopfhaut. Jede Bewegung des Lenkrades zerrte an meinen Innereien. Die Magensäureproduktion lief auf Hochtouren. Ich hatte die Nacht über bis zum frühen Nachmittag getrunken, um den Gedanken, am kommenden Abend zur Arbeit zu müssen, irgendwie ertragen zu können. Es war nur ein Teilzeitjob, 2 Tage pro Woche; für mich die Grenze des Möglichen. 5 Tage wären mein Untergang gewesen, die endgültige & absolute Abstumpfung. Ich hatte es einmal versucht & es ungefähr 1 ½ Jahre durchgehalten. Das war kein Leben, es war insektenhafter Stumpfsinn. Lieber schränkte ich mich ein, billiges Essen, billige Getränke, keine Reisen, kein Luxus – so konnte ich mit 2 Tagen Arbeit über die Runden kommen. Sein statt Tun. Gegen den Job war eigentlich nichts einzuwenden, er passte noch am ehesten zu mir. NACHTPORTIER. Da ist man die meiste Zeit allein; die Leute, die ihren Job ernst nehmen, bekommt man kaum zu sehen; die bleiben tagsüber untereinander & gehen sich gegenseitig auf die Nerven. Und die Welt, oder das, was sich dafür hält, rauscht auf engstem Raum an einem vorbei. Keine Sorte Mensch, die einem nicht begegnet. Die Drehtür schaufelt sie herein: Selbstmörder, Schlagersänger, Geschäftsleute, Arbeiter, Nutten, Minister, Betrüger, Komiker, Obdachlose, Schriftsteller, Diebe, Schauspieler, Hausfrauen, TV-Moderatoren, Versicherungsvertreter, Musiker. Manchmal auch die Helden der eigenen Kindheit. Die nur manchmal Helden bleiben. Man hört sie ficken, man sieht sie tot, man sieht sie kotzen, lachen, bluten & trinken. Also wirklich, nicht der übelste Job.
Als ich das Hotel betrat, sagte die Kollegin von der Spätschicht:
„Wie siehst du denn aus?“
„Wie eine Leiche vermutlich.“
Ich ging sofort ins Backoffice, setzte mich, verschränkte die Hände hinterm Kopf & versuchte, tief & gleichmäßig zu atmen. Stimmen & Gläserklirren aus der Hotelbar, gleich neben der Rezeption. Die Kollegin folgte mir.
„Was ist los?“
„Kreislauf“, sagte ich leise.
„Willst du dich nicht erstmal hinlegen? Nimm dir ein Zimmer.“
„Werd ich wohl müssen“, sagte ich. „Tut mir leid.“
Sie lächelte. „Kein Thema. Hau dich hin.“
Sie gab mir einen Schlüssel, und ich fuhr mit dem Aufzug nach oben. Der Aufzug war heute auch nicht der Freund meiner Eingeweide. Ich schaffte es bis ins Zimmer, bis ins Bad. Da war schon wieder neue Magensäure. Ich versuchte, die Kloschüssel zu treffen. Dann legte ich mich vorsichtig hin & wurde bewußtlos.
Nach 2 bis 3 Stunden kam ich wieder zu mir. Es ging mir kaum besser. Ich stand langsam auf, wankte ins Bad, wusch mein Gesicht mit kaltem Wasser & spülte den Mund.
Anschließen fuhr ich wieder nach unten. Die Bar war dunkel, alles still, die Kollegin allein.
„Na, wie geht’s?“ sagte sie.
Ich versuchte zu lächeln. „Nicht besonders. Aber geht schon.“
„Wirklich?“
„Ja.“ Ich setzte mich. Hauptsache sitzen; nicht bewegen.
„Hast du das öfters?“
„Nur wenn Jim Beam sehr nett zu mir war.“
„Dachte ich mir. Du solltest besser auf dich aufpassen.“
„Ab morgen“, sagte ich.
„Ich versuch’s mal zu glauben. – Also? Kann ich dich allein lassen?“
„Sicher.“
„Du mußt auch nix mehr machen“, sagte sie. „Es ist alles erledigt, Abrechnungen, Kasse, Tagesabschluss, Rundgänge. Und ich habe Tessa angerufen, sie kommt eine Stunde eher zum Frühdienst.“
„Ich wußte ja immer, dass du ein Engel bist“, sagte ich.
„Quatsch. Ich hatte eh nichts Besseres vor.“
Scheiße, alle waren immer so nett zu mir.
„Das werde ich dir heimzahlen“, sagte ich & krampfte ein Grinsen in mein blutloses Gesicht.
„Werd erstmal wieder fit.“
Als sie weg war, ging ich in die Bar & legte mich auf eine der Bänke. Ich schloß die Augen & hoffte, dass heute Nacht niemand hereinkommen würde. Oder zumindest, dass niemand mich mit irgendwelchen Bitten behelligen würde. Ich schlief nicht, aber wach war ich auch nicht. Ab & zu hörte ich die Drehtür & den Aufzug, aber niemand rief nach mir. Gegenüber am Hauptbahnhof grölten die Besoffenen.
Nach ein paar weiteren Stunden merkte ich, dass es allmählich besser wurde. Ich blieb noch liegen. Mit offenen Augen. All diese Flaschen, diese Gläser, im Licht der Straße. Schön & beruhigend.
Schließlich hörte ich erneut die Drehtür.
„Hallo? Hallo?“ Eine aufgeregte Männerstimme.
Ich richtete mich auf, so schnell ich konnte; der Schwindel war nicht allzu schlimm. Dann hatte ich meinen Auftritt als wandelnde Leiche, die aus der dunklen Hotelbar kam.
Es war einer der Obdachlosen, die in der Bahnhofsgegend unterwegs waren. Er deutete nur auf seinen Mund.
„Ich brauche Wasser. Bitte. Unbedingt. Leitungswasser, mir ist sowas Schreckliches passiert. Oh, mein Gott, wie ekelhaft.“
„Sekunde“, sagte ich.
Ich ging zurück in die Bar, nahm ein Glas, ließ das kalte Wasser ein paar Sekunden laufen, füllte das Glas randvoll & brachte es ihm.
Er trank hastig. Große, laute Schlucke. Stellte schließlich das leere Glas KLACK! auf die Rezeption.
„Verdammt verdammt verdammt“, sagte er, „wissen Sie, was mir passiert ist.“
„Was?“
„Ich hatte so einen Scheißhunger … hatte wirklich lange nichts gegessen … da hab ich ein paar Mülltonnen durchsucht … hinterm Bahnhof … mach ich sonst nicht … aber dieser Scheißhunger … und in einer war tatsächlich ein Sandwich … noch halb eingewickelt … vom Subway gegenüber … das hab ich rausgeholt & gegessen … schmeckte irgendwie komisch, aber ich hatte so’n Scheißhunger … Hinterher war ich immer noch nicht satt … wollte gucken, ob da noch mehr ist & hab die Tonne ein bißchen ins Licht gerückt … & dann hab ich gesehen, dass da Hundescheiße drin war … genau da, wo auch das Sandwich gelegen hatte. Eine Menge Hundescheiße.“
„Müssen Sie mir das erzählen?“ sagte ich.
„Das war so ekelhaft“, sagte er. „Oh Gott, war das ekelhaft. Dieser Geschmack!“
Ich wandte mich ab, ging in die Bar zurück & kotzte in die Spüle.
„Ey, tut mir leid“, rief er mir hinterher.
Ich ließ das Wasser laufen.
Ging zurück.
„Schon okay“, sagte ich.
Er grinste. „Ja, das war wirklich ekelhaft. Können Sie mir glauben.“
„Glaube ich.“
„Na, ich geh dann mal“, sagte er. „Danke für das Wasser.“
Draußen spuckte er ein paar mal auf den Gehweg. Räusperte sich laut. Und spuckte nochmal.
Mir ging es besser.