Ein nostalgischer Moment der Zukunft

Es war ein Moment purer Nostalgie, als
der alte Mann sich mir näherte.
Eine Nostalgie, die mich
würgen ließ.
Er roch wie das Innere
einer Telefonzelle aus den 70er Jahren.
Als ein Ortsgespräch 2 Groschen kostete.
Wie oft war mir in ihnen schlecht geworden
als Kind……
Es war mir stets vorgekommen, als gäbe
nirgendwo auf der Welt eine dieser Zellen, die
nicht nach Pisse & Erbrochenem roch.
Und ein bisschen nach
Zukunft.
Kaum wagte man, die Tür zu schließen.
Der alte Mann bewegte sich mit winzigen Schritten;
atmete schwer. Er trug
einen schwarzen Cowboyhut.
Auf dem Rücken einen Rucksack, in der rechten Hand
eine Reisetasche.
Er hatte sich ein Zimmer genommen;
in einem Hotel jener Stadt, in der er wohnte.
Vielleicht hatte er vergessen, dass er eine Wohnung hatte.
Die Nacht lag hinter ihm.
Eine von vielen.
Eine von zu vielen. Vielleicht.
Hinter mir lag
dieselbe Nacht.
Und doch
eine andere.
Eine Nacht im selben Hotel.
Er: der Gast.
Ich: der Portier.
»Guten Morgen«, sagte er.
»Guten Morgen«, sagte ich.
Wir sagten also dasselbe. Nur dass es bei ihm
älter klang. Und kurzatmig.
»Wo ist das Frühstück?« fragte er.
»Im ersten Stock.«
»Wie – komme ich da – hin?«
»Sie gehen zurück in den Aufzug, drücken auf die 1,
und wenn sie aus dem Aufzug kommen, ist gleich links
der Frühstücksraum.«
Er starrte mich an.
Es schien zu dauern, bis meine Worte
irgendeinen Sinn ergaben – für ihn.
Die Worte reisten gemächlich durch seinen Kopf.
Je länger er mich anstarrte, desto länger musste ich
ihn riechen.
»Könnten Sie bitte mit raufkommen? Nicht – dass ich mich – verlaufe.«
»Es ist ganz einfach«, sagte ich.
»Trotzdem. Bitte.«
Der Aufzug, dachte ich – eine Telefonzelle, die sich
auf & ab bewegt. Und in der meist
geschwiegen & gestunken wird.

Ich sagte:
»Ok. Sie nehmen den Aufzug, und ich gehe über die Treppe;
ich darf den Aufzug nicht benutzen – für den Fall, dass der
steckenbleibt.«
War für eine Vorstellung!
»Wie?« sagte er.
»Sie gehen in den Aufzug zurück & drücken auf die 1.
Ich nehme Sie dort in Empfang & zeige Ihnen den Weg.«
»Hmm – – auf die 1.«
Er machte kehrt, trippelte
langsam & schnaufend
zurück in die Kabine.
Cowboyhut, Rucksack, Reisetasche. Und das Alter.
Was für ein Aufzug!
Die Türen schlossen sich. – –
Ich war im ersten Stock bevor
der Aufzug dort war &
nicht hielt.
Ich hörte es:
Er hielt im zweiten (die Türen gingen auf & zu),
er hielt im dritten (die Türen gingen auf & zu),
er hielt im vierten (die Türen gingen auf & zu).
Mehr Stockwerke gab es nicht.
Nur noch Dach & Himmel.
Ich wartete.
Zeit verging.
Wie immer.
Gleich schnell – für uns beide …..
Obwohl wahrscheinlich einer von uns
weniger davon zu verlieren hatte als
der andere.
Keiner wusste,
wer.
Er kam an.
Endlich.
Im ersten Stock.
Ich wies ihm den Weg
zum Frühstücksraum.
Er hielt inne.
»Ich habe meinen Beutel vergessen«, sagte er.
»Beutel?« sagte ich. »Sie meinen nicht Ihren Rucksack
oder Ihre Reisetasche?«
»Nein. Ich hatte noch einen Beutel. – Würden Sie ihn bitte
aufheben – bis ich wiederkomme?«
»Natürlich«, sagte ich. »Gerne.«
Er sagte:
»Ich danke Ihnen für Ihre Bemühungen.«
Nostalgie & Zukunft
vermischten sich –
wie Pisse & Erbrochenes.
Dabei hatte der alte Mann
über Nacht
ins Bett geschissen.
Ein Hauch von Kindheit.
Der Atem des Alters.
Und das hübscheste Zimmermädchen von allen
hatte es entdeckt.
Sie tat mir leid.
Ja – auch ich hatte im Bett geschissen.
Als Kind.
Wie wir alle.
Ja – auch ich wurde alt.
Wie die meisten.
Und die Zukunft ähnelt der Vergangenheit –
immer wieder.
Auch ich hatte gern einen Cowboyhut getragen ….
als Kind …. als ein Ortsgespräch noch 2 Groschen kostete ….
2 Groschen
in einer stinkenden Zelle, die
still stand ….


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